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Von Solidarnosc zum Grenzland. Interview mit Crzyzstof Czyzewski, Präsident der Borderland Foundation in Sejny
bz1999 euromed
„Was der Welt heute fehlt, ist Solidarität. Es gibt einen Pluralismus ohne Solidarität, ohne Brücken untereinander.Was war Ihre Rolle in der Solidarnosc Ära, vor dem Jahr der Wende 1989?
Ich war damals noch sehr jung und schon aktiv in der Studentenbewegung in Posen. Ich gründete dort eine Zeitschrift, „Zeit der Kultur“, die damals verboten war. Sie erscheint heute noch und ist eine angesehene literarische Zeitschrift. Ich erinnere mich gut an die Diskussionen mit meinen Freunden aus Solidarnosc, die engagiert waren, diese Zeitschrift heimlich zu drucken.. Als Drucker und Herausgeber riskierten sie am meisten. Allerdings kamen sie schwer damit zurecht, dass sie sich für eine kulturelle Zeitschrift opferten und nicht für eine politische.
Aber ich war mir schon zu jenen Zeiten bewusst, dass es außer den politischen Ereignissen noch anderes Wichtiges geben muss. Dass eine kulturelle Ebene dazukommen muss. Es war die Vision von einer Kultur des Medienzeitalters, in der wir uns als freie Gesellschaft wiederfinden können. Es bestand ja die große Gefahr, dass es auch bei uns zu einem großen Konflikt kommt wie in Jugoslawien und dass hier die nördlichen Grenzregionen ein ähnliches Schicksal erfahren wie jene im Süden Europas. Auch in der Zeitschrift „Zeit der Kultur“ haben wir uns mit Minderheiten und nationalen Kulturen befasst. Das zweite Thema, wir haben es schon angesprochen, war die Frage der Tradition, der Geschichte. Wir hatten in der Nachkriegszeit, in der kommunistischen Ära, keine Möglichkeit, über unsere Probleme, über alles, was uns betraf, offen zu diskutieren. Zum Beispiel das polnisch-jüdische Verhältnis, den Holocaust - das waren Tabuthemen, auch die polnisch-ukrainischen Beziehungen, oder das Problem des polnisch-litauischen Konflikts.
Wir waren uns schon damals bewusst, dass solche kulturelle Arbeit eine Arbeit sei am nationalen Bewusstsein. Diesen Grundgedanken müssen wir uns Tag für Tag wieder in Erinnerung rufen.
Woran ist die Solidarnosc dann gescheitert?
Solidarnosc war eine sehr spontane Bewegung. Die Ziele wurden sehr hoch gesteckt. Es ist schwer, eine Bewegung über längere Zeit durchzuhalten. Es entstehen da Mythen, die irgendwie nicht klar definiert oder eingeschätzt werden, und es treten bald neue Richtungen und Parteien ans Tageslicht.
Und es gibt noch etwas, was tiefer liegt: Ich bin der Meinung, die Welt heilt an sich selber. Ich sehe das in allen Grenzregionen in der Welt. Wir sind oft stolz darauf und nennen das plurale Form, Vielfalt, Verteidigung oder Erhaltung eigener Identitäten. Wir nehmen das als selbstverständlich hin. Aber was der heutigen Welt fehlt, ist die Solidarität. Wir haben heute einen Pluralismus ohne Solidarität. Einen Pluralismus ohne Brücken zueinander. Das Scheitern der Solidarität in Polen ist vielleicht nur eine Widerspiegelung dieses Mangels an Solidarität in der Welt. Es ist unser Teil dieses Scheiterns.
Hier lag auch die Idee zur Entstehung des Borderlandzentrums im Jahr 1990 begründet?
Ja, wir wollten die Menschen mit dieser Idee konfrontieren, um ihnen bewusst zu machen, womit und auf welche Art und Weise sie weiterzuleben haben, hier in der multikulturellen Region.
Im 20. Jahrhundert wurde in Polen ein Mythos von der Entstehung eines starken nationalen Staates entwickelt. Polen war noch vor dem Krieg ein stark nationaler Staat, und man wollte, dass es weiter so bliebe. Der Mythos bestand darin, dass Polen mit seiner starken nationalen Bewegung ein Land sei, das stark und weit in Richtung Osten entwickelt sei. Es war der Mythos des Grenzlandes, wobei Polen, über Litauen, jetzt die Ostländer dominiert. Also ein Polen als starkes Land, als starker Staat, dominierend, dank seiner Kultur und seiner Nation, über die anderen Länder.
Es liegt hier noch ein wichtiges Wortproblem oder Wortschatzproblem vor: Es wurde damals auch von einem „Landesende“ gesprochen, wo das Ende des Landes irgendwo weit im Osten sein sollte.
So haben wir Borderland aufgebaut, es Grenzland genannt. Das klingt offener und wird von den anderen Nationalitäten nicht als Gefahr empfunden. Wir bleiben nicht unter der Dominanz eines starken Staates, sondern pflegen Grenzland als eine Art Partnerschaft, Partnerschaft in einem offenen, ziemlich weiten Raum.
Für uns, für Polen, ist das von großer Bedeutung und ich finde nicht nur für uns, sondern auch für die anderen Länder, dass der Begriff Grenzland, Grenzregion geprägt worden ist. Es hat uns einen Freiraum gegeben, offener über unsere Probleme zu sprechen und sie dadurch zu mildern. Es ist eine Alternative zu dem, was früher hier angeboten wurde.
In welche Richtung geht Europa?
Ich habe den Eindruck, die Gefahren nehmen leider zu. Ich sehe große Gefahren für die Jugendlichen in Europa. Ich muss feststellen, sie sind nicht so, wie wir uns das vorgestellt und gewünscht haben: dass sie offener und anderen gegenüber vorurteilsfreier seien. Sie vertreten ihre eigenen Interessen, ihre eigenen Vorteile, anstatt offen zu sein. Und mir scheint auch, sie können immer weniger. Sie wissen auch immer weniger übereinander, kulturell gesehen. Ich hoffe, wir schaffen es zu vermeiden, dass sie mit einer solchen Haltung je bestimmend werden. Dazu braucht es viel Initiative und Kraft, eine alternative Kultur zu entwickeln.
Solche alternative Kultur muss eine Alltagskultur sein. In dem Sinne ist auch die Politik eine Form der Kultur. Heute wird Kultur mehr in einem nationalen Sinn verstanden. Die polnische, die italienische, die deutsche Kultur. Es gibt große Institutionen, die sich alle getrennt mit einzelnen Kulturen befassen. Was fehlt, ist eine höhere Ebene des Zusammenlebens der Kulturen.
Ist das Europa der 25 eine gute Ebene des Zusammenlebens der Kulturen?
Ich glaube nicht, dass Europa, obwohl es ein multikulturelles Europa ist, schon auf dieser Ebene steht. Der europäische Kosmopolitismus hat gewissermaßen Pleite gemacht. Er ist Vergangenheit, Annektion, und entspricht dem Europa der jungen Menschen nicht mehr. Die jungen Europäer suchen zwar Bezugspunkte in der Tradition, in der Geschichte, in der Familie, sie möchten auch verwurzelt sein. Jedoch möchten sie nicht mehr kosmopolitisch sein, ohne Wurzeln und ohne eigene Tradition. Mit einer Gesellschaft eines einheitlichen Europas können sie sich noch nicht abfinden. Sie bleiben irgendwie darüber schwebend.
Wir haben aber keine andere Alternative. Wenn nicht Europa, ja was dann? Es ist für uns die einzige Chance zu einem Fortschritt, zu einem Zivilisationsfortschritt. Sich für eine Zusammenarbeit in Europa zu engagieren, ist die Aufgabe unserer Gesellschaft. Es wäre eine Katastrophe für unser Land, wenn sie scheitern würde.
Und was wird an der neuen Ostgrenze passieren?
Es besteht die Gefahr, dass an unserer östlichen Grenze eine Mauer entsteht und dass wir uns immer weiter von den drei Nachbarländern, der Ukraine, Litauen und Russland selbst, entfernen. Das ist eine reale Gefahr, denn eine solche Entfremdung zwischen den Staaten ist schon erkennbar. Ich will nicht gleich Kluft sagen.
Man muss sich wirklich sehr viel Mühe geben, damit nicht eine Mauer nicht entsteht. Es braucht viele Ideen, Projekte, und die nötige Kraft. Denn es ist sicherlich die neue Tendenz der östlichen Länder, der Polen, der Tschechen, der Slowaken, nach Westen zu schauen. Dort sehen wir unsere Zukunft. Es ist aber zu hoffen, dass Polen ein Land wird, das eine Brücke nach Osten bildet, das die Tore öffnet und die Menschen auch zum Osten hin bringt.
Wichtig ist für uns die Hilfe vom Westen, und wichtig sind auch der Gedanke, der vom Westen kommt, dass wir eine Brücke zwischen dem Westen und dem Osten sein können. Diese Motivation und diese Hinführung vom Westen bräuchten wir sehr.
Es ist also eine große Herausforderung sowohl an uns als auch an den Westen, an das neue Europa insgesamt, ob wir den Osten verstehen können. Ob wir auch den byzantinischen Osten verstehen, der uns eigentlich so fremd klingt. Ob wir das Land und die Leute, die dort leben, verstehen, für ihre Anliegen dann offen sind, obwohl sie uns ziemlich fremd erscheint. Wenn wir jetzt nach Westen wenden, dann zeigen wir unseren Blick, unser Antlitz, auch nur zu einem Teil.
Nur die Seite, die von uns sozusagen erwartet und erwünscht wird. Wir haben aber auch die andere Seite, die wir gar nicht gerne herzeigen. Wir sind uns ihrer oft gar nicht bewusst, oder schämen uns sogar dafür.