An die NGO Angalià von Lesbos und die Vereinigung juridischer Studien zur Immigration ASGI der Internationale Alexander Langer Preis 2017. - Begründungen
Im April 1995 schrieb Alexander Langer in Verdeuropa: „Heute machen sich die Regierungen wegen gewisser Alarmzeichen Sorgen, denen sie allerdings oft nur auf repressive Art zu begegnen versuchen, als da sind: unkontrollierte Einwanderung, soziale Spannungen und „Hungerrevolten“, das Anwachsen des islamischen Integralismus', die Gefahren des internationalen Drogen- und Waffenhandels ... kurz, Gefahren mehr als Chancen. Die intergovernative Konferenz der europäischen Mittelmeerländer, die von der Europäischen Gemeinschaft für den kommenden November 1995 unter dem Vorsitz Spaniens einberufen wurde, setzt sich – auf sehr positive Weise - eine neue Partnerschaft der europäischen Mittelmeerländer zum Ziel, läuft aber Gefahr, sich lediglich auf die Kontrolle - mittels Kooperations- und Unterstützungsabkommen - einiger dieser für bedrohlich gehaltenen Phänomene zu beschränken, ohne einen ehrgeizigeren Entwurf zu wagen: eine Partnerschaft, die zu einer wahren Europäisch-Mediterranen Gemeinschaft führen könnte, neben und eng verbunden mit der Europäischen Gemeinschaft.“
Für eine gastfreundliche, bewusste und solidarische Euromediterranea Gemeinschaft
Diese Worte helfen zu verstehen, warum die Alexander Langer Stiftung zwei Vereinigungen – die NGO Angalià von Lesbos und die Associazione Studi Giuridici sull'Immigrazione (ASGI), die Vereinigung juridischer Studien zur Immigration, zu ihren diesjährigen Preisträgern gewählt hat. Seit Jahren engagieren sich diese Vereinigungen in zwei europäischen Ländern, Griechenland und Italien auf unterschiedliche, jedoch komplementäre Weise für die schwierige, nicht umgehbare Problematik der Scharen von Menschen, die täglich den Tod riskieren beim Versuch, die Grenzen nach Europa zu überqueren.
„Die Einwanderung – stellt die ASGI in ihrem am 21. März 2017 vorgestellten Reformprogramm für die italienischen Normen hinsichtlich des Rechts auf Einwanderung, Asyl und Staatsbürgerschaft fest, ist ein strukturelles und alltägliches Phänomen, welches das soziale und wirtschaftliche System Italiens tiefgreifend verändert hat, das aber nicht vorhergesehen und gesteuert worden ist. Denn die Mehrheit der Bevölkerung, der öffentlichen Einrichtungen und der politischen Kräfte haben es weder verstanden noch gewollt, der Realität mit einer effektiven Regierungspolitik zu begegnen; sie haben sie als ein vorübergehendes Phänomen betrachtet, das mit episodischen Vorkehrungen, Notfallmaßnahmen oder periodischen 'Straferlässen' für die irregulär ins Land Gekommenen zu verwalten sei (aber eine reguläre Einreise zwecks Arbeit immer verhinderte), oder als eine Bedrohung für die Sicherheit (mit wenigen Ausnahmen, dank der obligatorischen Anwendung der Richtlinien der Europäischen Union und des freien Personenverkehrs und Wahl des Aufenthaltsortes, die den Bürgern der anderen Mitgliedstaaten der EU zustehen), in jedem Fall haben sie eine angemessene Finanzierung der Politik zur sozialen Intergration ausländischer Bürger verweigert“.
Dem ist hinzuzufügen, dass es heute sehr schwierig ist, eine klare Trennung zu ziehen zwischen Wirtschaftsmigranten und zur Migration Gezwungenen. Die Gründe für den unablässigen Flüchtlingsstrom sind zu suchen in den Kriegen, den diktatorischen oder repressiven Regimen, in den Langzeitwirkungen der europäischen Kolonialpolitiken, in der Plünderung der natürlichen Ressourcen, in den Klima- und Umweltbedingungen, die zu Armut und Ungleichheit führen, im konstanten Bevölkerungswachstum.
In einer globalisierten Welt, in der die Waren in völliger Freiheit zirkulieren, auf Wegen, die oft die Kontrolle über die Wertschöpfungsketten und die Menschenrechte derer, die sie produzieren, umgehen, genießen die Menschen nicht eine analoge Bewegungsfreiheit. Nicht einmal dann, wenn sie blutigen Konflikten entfliehen, die ihre Herkunftsländer verheeren.
Angesichts dieser Situation hat sich unsere Wahl an drei Hauptkriterien orientiert.
In erster Linie ist es notwendig, die Rechte der Migranten auf der Basis der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, unserer Verfassung und der demokratischen Rechtsgrundlage zu verteidigen, diese anzuerkennen, wenn neue Gesetze erlassen werden und wenn es darum geht, bestehende Gesetze in Anwendung zu bringen.
Ferner muss man gastfreundliche, bewusste und solidarische Gemeinschaften bilden.
Schließlich gilt es, das Gefühl der Zugehörigkeit zu Europa zu verbreiten und deutlicher zum Ausdruck zu bringen: Europa verstanden als gemeinsame Verantwortung und Wille, Frieden zu schaffen – in den Worten von Langer - „zwischen den Menschen, mit der Natur, unter den Völkern“.
Auf der Grundlage dieser Kriterien sind wir der Ansicht, dass die NGO Angalià aus Lesbos und die Associazione studi giuridici sull'Immigrazione (ASGI) beispielhafte Realitäten darstellen.
Angalià
Die NGO Angalià (griechisch „Umarmung“) wurde 2008 in dem Dorf Kallonì im mittleren Teil der Insel Lesbos. Die Gründer waren Vater (papa) Stratìs mit andere drei Freiwillige.
Anfangs hat sie sich vor allem auf die Unterstützung der von der Wirtschaftskrise am stärksten betroffenen Bewohner konzentriert; noch heute leben 15 % der griechischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Als nach und nach immer mehr Flüchtlinge in Lesbos gestrandet sind, hat sich Angalià auch um sie gekümmert.
Im Jahr 2016 hat Angalià das Projekt 200+200 initiiert. Ziel war es, 200 einheimische Familien, Opfer jener „strukturell so komplexen Wirklichkeit, wie sie die äußerste Armut ist“ und 200 Flüchtlingsfamilien mit besonders großen Problemen zu unterstützen.
Über den finanziellen Beistand hinaus wollten die Aktivisten von Angalià – wie es im Abschlussbericht von 2016 heißt - „die Personen einander annähern und die Message der Solidarität zwischen Einheimischen und Flüchtlingen lancieren, damit man versteht, dass in der Welt von heute Armut und Verfolgung, Diskriminierung und Marginalisierung oft aus Faktoren entstehen, die allen gemeinsam sind und nur durch kollektive Solidarität, ohne Ausgrenzungen, angegangen werden können.“ Gerade das zweifache Eingreifen – zugunsten der Entrechteten des Ortes und derer, die von außen kommen, stellt einen besonders innovativen Aspekt in der Vorgehensweise von Angalià dar, besonders in einem Kontext zusammenhängender Krisen, die auf verschiedene Ursachen zurückzuführen sind: den Krieg im Mittleren Osten, die schwierige Lage der griechischen Wirtschaft und die des politischen Systems der Türkei bis hin zu den Schwierigkeiten, die das politische Tagesgeschehen und das Wertesystem von Europa insgesamt zutiefst kennzeichnen.
Angalià stellt sich vor als „eine Gruppe, die in kein offizielles Programm passt“ und die sich unterscheiden will von den oft sehr diskutablen Praktiken, die Flüchtlingen gegenüber angewendet werden. Ihre Wortführer sind der Meinung, man müsse „einfach“ als Bürger handeln, die es nicht hinnehmen, keine Verantwortung zu übernehmen für das, was in ihrem Umfeld geschieht. Sie tun dies auf absolut ehrenamtlicher Basis, suche weder europäische noch staatliche Beihilfe, um sich die absolute Freiheit zu erhalten, Kritik zu üben an wem auch imer. Das Projekt 200+200 konnte umgesetzt werden auch dank des großen Netzes von Ehrenamtlichen, das Angalià mit Vereinigungen und Privatpersonen in allen Teilen Europas geknüpft hat. Dadurch wurden Aktivitäten möglich wie: materielle Hilfeleistungen, ärztliche Betreuung, Austausch von Kunst und Kultur, politische Projekte. Nicht von ungefähr gab es in Lesbos zwischen 2015 und 2016 einen Zuwachs an ehrenamtlichem Einsatz von jungen Menschen aus ganz Europa, wie es ihn selten vorher gab; dieser wertvolle Schatz darf nicht vergeudet werden.
Die Vereinigung von Lesbos spart im übrigen nicht mit harter Kritik an der Politik der europäischen Mitgliedsstaaten. Wenn es diesen Politiken gelungen ist, den Zustrom von syrischen, afghanischen und irakischen Flüchtlingen zu begrenzen – mittels der zu Recht umstrittenen Abkommen zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und der Türkei – so haben sie sich leider „für die Militarisierung“ und für „inhumane Abweisungen“ entschieden. „Das Jahr 2016 – meint Angalià – hat eine unerträglich hohe Anzahl von Menschenleben gekostet, während die materiellen Entbehrungen, die den Flüchtlingen mitten im Winter aufgezwungen wurden, lediglich unser kollektives Scheitern daran sichtbar machen, uns der Höhe unseres vermeintlichen und lautstark verkündeten Zivilisationsniveaus entsprechend zu verhalten.“
Associazione per gli Studi Giuridici sull'Immigrazione (ASGI)
Die Vereinigung ASGI ist im Jahr 1990 auf Initiative von Rechtsanwälten und Dozenten der Universität entstanden. Sie hat zum Ziel, das Handeln des italienischen Gesetzgebers dahin zu orientieren, dass Normen angewandt werden, die Einreise und Aufenthalt von Fremden und Asylsuchenden regeln, die Grundrechte des Menschen respektieren und den Grundlagen der Verfassung entsprechen. Desgleichen hat sie dafür gearbeitet, dass die italienische Gesellschaft eine positive Haltung und Herangehensweise entwickle gegenüber den tiefgreifenden Veränderungen, die durch die internationalen Migrationen entstanden sind.
Die ASGI hat mehr als zwanzig Jahre lang mitgewirkt an der Ausarbeitung und Formulierung von staatlichen und europäischen Regelungen bezüglich Einwanderung, Asyl und Staatsbürgerschaft und hat in der politisch-parlamentarischen Debatte und im Handeln der öffentlichen Organe den Schutz der Rechte von Fremden vorangebracht. Sie hat mit Beständigkeit ein engmaschiges, qualifiziertes Schulungsangebot für alle Ebenen gemacht: von den freiwilligen Helfern über Aktivisten und Sozialarbeiter bis hin zu Rechtsanwälten, Mitarbeitern von Kommissionen, Polizeipräsidien und Präfekturen. Sie hat direkte Unterstützung gegeben, hat Berufungen eingelegt, als Experte in konkreten Einzelfällen Migranten und Sozialarbeiter beraten. Sie hat unablässig, umfassend, detailliert und kritisch informiert über das italienische und europäische Regelwerk hinsichtlich der Einwanderung. Sie hat einen wirksamen juristischen Gegenpol gebildet gegen jede Form der Diskriminierung von Minderheiten.
Ihre besondere Aufmerksamkeit galt in den letzten Jahren dem Schutz der zur Migration Gezwungenen (Asylbewerber, Flüchtlinge) und der Ausarbeitung von Vorschlägen, um auch auf europäischer Ebene den fremdenfeindlichen und abschottenden Tendenzen im Namen des Schutzes der Grundrechte des Menschen entgegenzutreten. In diesem Sinne hat die ASGI viele Rechtsstreitigkeiten geführt und gewonnen, bei landesinternen wie beim europäischen Gerichten (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte und Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft) über zentrale Fragen die Rechte der Ausländer betreffend, in Belangen wie Asylrecht, Diskriminierung, erzwungene Abschiebung, willkürliche Inhaftierung.
Die ASGI beruht auf Ehrenamt und arbeitet in völliger Unabhängkeit. Mittels der Insturmente des Rechtes spricht sie, arbeitet zusammen und trägt, wenn nötig, Konflikte aus mit jeder Art von Regierung oder Institution, sobald die Rechte derer auf dem Spiel stehen, die einreisen, sich niederlassen oder auf der Durchreise durch unser Land sind.
Die ASGI, in der immer mehr Frauen und nicht-italienische Bürger mitarbeiten, ist zu einem Bezugspunkt geworden für Vereinigungen, öffentliche und private Einrichtungen, Studierende, Rechtsreferendare, Sozialarbeiter und alle Menschen, die aus Interesse oder beruflicher Notwendigkeit auf dem Laufenden bleiben und sich auseinandersetzen wollen mit all dem, was mit Migration zusammenhängt.
Dies alles macht die ASGI zu einer sittlich besonders hervorragenden Vereinigung und zum Vorbild auch im europäischer Kontext dafür, wie die Prinzipien und Praktiken demokratischer Legalität wesentliche Wegbereiter für ein gutes, gelingendes Zusammenleben darstellen können.
Heute ist in Italien wie im Rest Europas der Diskurs über die Flüchtlingsströme zum täglichen Konfliktstoff geworden, der allzu oft und auf jeder Ebene auf mangelndem Wissen und einer chronischen Schwierigkeit beruht, die Dinge in einem sehr viel weiter gefassten Horizont zu sehen und in Worte zu fassen. Nichts scheint sich getan zu haben in den zwanzig Jahren, seit Alexander Langer die Länder der europäischen Gemeinschaft kritisierte für ihre Unfähigkeit, eine gemeinsame Einwanderungspolitik zu entwickeln, in eine angemessene Partnerschaft mit den Herunftsländern der Migranten zu treten, die Migrationsströme intelligent zu leiten und wirksame, die menschlichen Grundrechte achtende Formen der Aufnahme und Integration vorzuschlagen. Im Gegenteil, die allgemeine Lage und die Impotenz Europas scheinen sich weiter verschlechtert zu haben.
Angesichts einer solchen Wirklichkeit soll mit der Entscheidung, den Alexander Langer Preis 2017 an Angalià und an die ASGI zu verleihen, ein gegenläufiges Zeichen gesetzt werden. Sie soll aufzeigen, welche die richtige Richtung sein könnte.
Was ihre Geschichte und ihre konkreten Zielsetzungen angeht, scheinen sich die beiden Vereinigungen, denen der Preis zugesprochen wird, zweifellos stark voneinander zu unterscheiden. Zugleich aber sind sie, genauso augenfällig, komplementär. Beide zeigen, wie es möglich ist, sehr unterschiedliche und gleichzeitig unverzichtbare Anforderungen in Einklang zu bringen: die Hilfe für die Bedürftigen, die Achtung der Grundrechte, Ehrenamt und Basisarbeit, Unabhängigkeit von interessegesteuerten Bedingungen, die Aufsicht über die Institutionen und ihr Ansporn dazu, sich im Rahmen demokratischer Legalität zu bewegen, die Weigerung, die Migranten in die Rolle der „Flüchtlinge“ oder „Opfer“ zu drängen, um sie im Gegenteil zu Subjekten zu machen, denen die gleichen Rechte zustehen wie allen anderen
Die 10.000 €, mit denen der Preis dotiert ist, wurden von der Stiftung Südtiroler Sparkasse, Bozen, gespendet.
Das Wissenschafts- und Garantiekomitee der Stiftung:
Fabio Levi (Präsident), Bettina Foa (Koordinatorin), Anna Bravo (Sprecherin), Anna Maria Gentili, Andrea Lollini, Christoph Baker, Grazia Barbiero, Francesco Palermo, Gianni Tamino, Karin Abram, Mao Valpiana, Margit Pieber, Maria Bacchi, Marianella Sclavi, Marijana Grandits, Massimo Luciani, Paolo Bergamaschi, Pinuccia Montanari, Roberto De Bernardis.
Fondazione Alexander Langer Stiftung, Onlus
39100 BZ -Via Bottai 5 Bindergasse
tel fax: +39.0471-977691
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