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Für ein Europa der Regionen
1.12.1993, Pogrom
Nach dem Fall des "eisernen Vorhangs" durch die größtenteils friedliche Revolution von 1989 sind neue Visionen für Europa angesagt - und möglich geworden. Es wäre historisch und politisch unverständlich und unverantwortlich, einfach so weiterzumachen wie vorher, als das gesamte westliche System (spiegelgleich mit der Konkurrenz) darauf angelegt war, mit dem Osten fertigzuwerden. Zum ersten Mal zeichnet sich die Möglichkeit einer friedlichen Einigung Europas ab - der Willy-Brandt-Satz "was zusammengehört, wächst auch zusammen", mag für den ganzen alten Erdteil Anwendung finden.
Das stellt alle Europäer vor eine neue Chance und Herausforderung - in allererster Linie natürlich die, die auf dem Weg des Zusammenwachsens schon am weitesten voran sind. Was kann man aus ihrer Erfahrung lernen? Wo muß der bisher eingeschlagene Weg überdacht und verändert werden? Wie stellen sich die anderen handelnden Subjekte dazu? Was erwarten sich die Menschen und Völker Europas? Wie sieht man es von außen? Was kann unternommen werden, damit das Zusammenwachsen kein Ungetüm hervorbringt, das anderen gefährlich und in sich un-verträglich sein könnte?
Über ein Europa der Regionen nachzudenken, ist Teil der Beantwortung dieser Fragen. Denn ein stark regionalistisches Europa kann, so soll hier ausgeführt werden, etliche sonst kaum zuträgliche Züge des europäischen Einigungsprozesses korrigieren und ihnen eine weitaus friedlichere, demokratischere, sozial- und umweltverträglichere Prägung aufdrücken. Umgekehrt würde die Vernachlässigung dieser Dimension den europäischen Integrationsprozeß wahrscheinlich nicht nur um einiges bedrohlicher, sondern auch in sich unstabiler und somit gefährdeter erscheinen lassen.
Gleichzeitig muß heute eine echte Anstrengung unternommen werden, um das Wort vom "Europa der Regionen" aus der bequemen Nische der Parolen heraus und auf den Prüfstand konkreter politischer Vorhaben zu ziehen. Angesichts der Beschleunigung der Ereignisse und der unverhofften Möglichkeit, bisher für schier unmöglich gehaltene Ziele in die Wirklichkeit umzusetzen, muß eine vertiefte und vielstimmige Diskussion einsetzen - und die nötige politische Initiative.
1.
Gewiß ist die Integration der Europäischen Gemeinschaft der weltweit am meisten beachtete (und beneidete) un-kriegerische supranationale Einigungsprozeß. Daß aus der ursprünglichen Kohle- und Stahl- (CECA) und dann Atomgemeinschaft (EURATOM) nach und nach der Entwurf einer politischen Union gewachsen ist und die EWG, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, sich zunehmend zur Europäischen Gemeinschaft (EG) veredelt, ist historisch ein höchst bemerkenswerter Vorgang, der aus der Geschichte bisheriger Staatenbildungen ausbricht und neue Maßstäbe setzt. Und wenn im Nahen Osten die weitblickendsten Köpfe auf dem Weg der israelisch-palästinensischen Versöhnung eine "Wasser- und Energiegemeinschaft" nach EG-Vorbild heraufziehen und darin einen möglichen Schlüssel zur Überwindung einer tiefen Erbfeindschaft und den Ansatz konföderaler und vielleicht einst föderaler Zusammenschlüsse in der Region sehen, dann läßt das wirklich aufhorchen. Was zwischen Franzosen und Deutschen möglich war und zur Solidargemeinschaft mit anderen europäischen Völkern geführt hat, könnte auch für Serben, Kroaten und Albaner am Balkan, für Araber und Juden im vorderen Orient, für Schwarze und Weiße im südlichen Afrika eine neue Hoffnung des Zusammenlebens auftun.
Und bei allem Aufflackern nationalstaatlicher Gelüste allenthalben, ist doch eine recht simple Grundwahrheit nicht mehr zu übersehen: die meisten bestehenden Nationalstaaten sind - abgesehen von zahlreichen anderen Mängeln, die ihnen anhaften - gleichzeitig zu groß und zu klein: zu groß, um echte Demokratie und Bürgermitbeteiligung in ihrem Inneren zu gewährleisten; zu klein, um als einzelne mit den wichtigsten Herausforderungen der Gegenwart zurechtzukommen, beispielsweise mit dem Bedürfnis nach Sicherheit in vielen Bereichen (Umwelt, Rüstung, Migration, soziale und wirtschaftliche Spannungen), oder mit der Frage nach schonender und bestmöglicher Nutzung der Ressourcen. Und auch für die Lösung tiefgreifender nationaler, ethnischer oder konfessioneller Spannungen scheint der nationalstaatliche Rahmen erfahrungsgemäß zu eng und weitgehend ungeeignet. Also ist gleichzeitig mehr Übersichtlichkeit und Geborgenheit auf der einen Seite, aber auch mehr Auflösung und Überwindung bisheriger Grenzen und Trennmauern und mehr völkerverbindende Gemeinsamkeit gefordert.
Deshalb kann die Antwort auf die höchst sichtbaren und auch von kaum jemandem geleugneten Defizite der Nationalstaaten nicht schlicht in der supranationalen Integration gesucht werden, und die EG ist auch kein so unbestrittenes Erfolgsmodell. Der (manchmal blutige, manchmal gerade noch unblutige) Zerfall supranationaler Föderationen (UdSSR, Jugoslawien, Tschechoslowakei...) macht nachdenklich. Wer weiß, wie lange es Belgien, Kanada und dergleichen noch gibt. Und die nähere Zukunft scheint eher von weiterer Desintegration - auch beispielsweise in Afrika und Asien - geprägt zu sein, denn vom Erfolg der diversen Einigungsbestrebungen. Baut man also an einer europäischen Integration, die den baldigen Zerfall schon immanent eingebaut hat?
2.
Es ist also davon auszugehen, daß die beiden gegenläufigen Bedürfnisse, nach engerem Zusammenschluß in größerem Maßstab und nach Eigenständigkeit im Nahbereich nicht voneinander zu trennen sind und eine gleichzeitige Antwort erfordern.
Die dazu parate Zauberformel der EG heißt "Subsidiariätsprinzip", ein Begriff der katholischen Soziallehre, der im wesentlichen besagt, daß man Dinge, die auf der unteren Ebene gelöst werden können, nicht unnötigerweise auf eine höhere verlagern soll: Probleme können am besten dort angegangen werden, wo sie sich unmittelbar stellen, die Autorität zu deren Bewältigung muß nicht notwendig von oben hergeleitet werden, solange sie von unten kommen kann und zielführend ist.
Doch wie bei allen schönen EG-Formeln, ist damit noch nicht allzuviel ausgesagt: der Inhalt dieser Doktrin muß erst noch politisch bestimmt werden. Und da gibt die Diskussion um das umstrittene Maastrichter Vertragswerk nicht gerade die beste Ausgangslage her. Subsidiarität wird nämlich - jenen zuliebe, die mit der politischen Union wenig glücklich sind - vor allem als eine Art Renationalisierung der Gemeinschaft verstanden. Seit dem dänischen Nein und dem sehr knappen französischen Ja bei den Volksabstimmungen über den Maastricher Vertrag und der direkten Aufeinanderfolge der nicht gerade integrationsfreudigen britischen (Juli-Dezember 1992) und dänischen (Jänner-Juni 1993) EG-Präsidentschaften, haben die Nationalstaaten zu einer Art "Reconquista" der Gemeinschaft angesetzt, und Subsidiarität wird also eher als Gewichts(rück)verlagerung von der Ebene der Gemeinschaft auf die Ebene der einzelstaatlichen Regierungen verstanden. Die Währungskrise seit September 1992 hat ein übriges dazu beigetragen. Wer etwa gehofft hätte, daß mit Subsidiarität eine Aufwertung der kleineren Einheiten - beispielsweise der Regionen - anstünde, mußte sich enttäuschen lassen. Davon ist in den derzeitigen Revisionsbestrebungen bestimmter Aspekte der EG-Politik noch lange nicht die Rede.
Wenn man sich jedoch jene europäischen Gremien ansieht, an denen die Nationalstaaten unter voller Beibehaltung ihrer Souveränität und ohne tatsächliche Übertragung von Macht an gemeinsame überstaatliche Organe teilnehmen, wird man sich sehr schnell der Grenzen dieser Art von Zusammenarbeit bewußt: man braucht nur an den Europarat oder an díe KSZE (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) zu denken. Beide Institutionen haben positiv zur Entspannung und zur Annäherung in Europa beigetragen und mitgeholfen, ein gemeinsames europäisches Recht herauszubilden. Doch beide zeigen auch, daß sie im besten Fall zur Kooperation und Konfliktminderung beitragen können, nationalstaatliche Souveränität aber nicht ab- und integrierte supranationale Strukturen nicht aufzubauen vermögen. Es bleibt bei der Zusammenarbeit zwischen Regierungen, unter Umständen auch von parlamentarischen Versammlungen begleitet, doch wird daraus kein Souveränitätsverzicht und erst recht keine neue überstaatliche Ordnung samt entsprechenden Organen und Vollmachten. Auch die Übertragung echter Befugnisse an Regionen oder Länder ist im Rahmen inter-gouvernementaler Zusammenarbeit schwer denkbar - die staatliche Souveränität, die nicht auf die supranationale Ebene übertragen wird, darf erst recht nicht auf die inter-regionale Ebene verlagert werden.
Die Europäische Gemeinschaft (EG) hingegen verfügt jetzt schon über eine gemeinsame supranationale Exekutive (die Kommission) und ein gemeinsames supranationales Parlament, und sieht sich in der Perspektive eines gemeinsamen handlungsfähigen politischen Gebildes: die politische Union, die sich abzeichnet, vergemeinschaftet nicht nur (beispielsweise) die Wirtschafts-, Sozial-, Landwirtschafts-, Umwelt-, Transport-, Handels- und Finanzpolitik, sondern auch die Außen- und Sicherheits-, sowie Bürgerrechtspolitik. Die Übertragung von Machtbefugnissen von den Nationalstaaten auf die supranationale Ebene der Gemeinschaft hat sich immerhin schon soweit entwickelt, daß es eher unwahrscheinlich anmutet, daß dieser ganze Prozeß kurzfristig wieder rückgängig gemacht werden kann - trotz der erwähnten nationalstaatlichen Rückfälle im Namen sogenannter "Subsidiarität". Die Übertragung von echten Kompetenzen auf die regionale und inter-regionale Ebene hat hingegen bisher kaum stattgefunden, ist aber vom Ansatz her um vieles eher möglich, als in einem zwischenstaatlichen Gebilde unter voller Wahrung der nationalstaatlichen Souveränitäten.
3.
Was spricht für ein "Europa der Regionen"? Auch diese Formel muß mit Inhalt gefüllt werden, damit man sie beurteilen kann. Es gibt gute kulturelle, politische, ökologische, soziale, ökonomische und selbst strategische Gründe, die einen Prozeß der starken Regionalisierung - d.h. der nachhaltigen Strukturierung des Gemeinschaftslebens auf regionaler Ebene - wünschbar erscheinen lassen.
Da ist vor allem einmal das Bedürfnis nach Verwurzelung, nach Heimat, nach Geborgenheit und Identität zu nennen. Je stärker "Globalisierung" von oben her angesagt und exekutiert wird, desto unwohler scheinen sich zunehmend mehr Menschen darin zu fühlen. Die zahlreichen Bewegungen, die für Identitätsbewahrung (und manchmal Identitätsstiftung) von unten eintreten und sich um Sprache, Tradition, ethnische Eigenart, Religion - kurz: Heimat - bemühen, sind seit Jahren im Aufschwung und fühlen sich heute sowohl durch die Ereignisse in Osteuropa, als durch die aufkeimende Renaissance der indigenen Kulturen des Südens und der Peripherien der Welt ermutigt. Das Streben nach Anerkennung und Geltung lokaler, regionaler Identität und Kultur gehört sicher zu den wichtigen neuen Bewegungen, und daraus ergibt sich mit Nachdruck die Forderung nach einer entsprechenden Umgestaltung des organisierten Zusammenlebens der Menschen und der Völker.
Doch nicht nur kulturelle oder historische Gründe sprechen für Regionalisierung. Dieselbe Einsicht kommt auch aus der ökologischen Erkenntnis von der zwingenden Notwendigkeit, natürliche Kreisläufe - deren unüberschaubare Ausweitung und gar rücksichtslose Sprengung heillose Katastrophen hervorruft - auf der untersten möglichen Ebene zu schließen und die Bezahlung unserer Schulden bei der Umwelt nicht auf ferne Tage und an ferne Orte zu verschieben. Reinhalten statt verschmutzen, verletzte Natur wieder zu heilen, schonender Umgang mit Ressourcen, Bewahrung gefährdeter Ökosysteme - alles das kann um vieles wirksamer in der Region und unter regionaler Verantwortung und Beteiligung geschehen, als durch Intervention von oben oder von außen.
Zunehmend setzt sich auch die Erkenntnis durch, daß soziale und ökonomische Fragen - sosehr sie auf globale Prozesse (und globale Gleichgewichtsstörungen) zurückzuführen sein mögen - in der Region zumindest einen wichtigen Schlüssel zur Lösung finden können. Gerade die sozialen Auswirkungen eines immer schrankenloseren großen Marktes machen die Forderung nach "vielen (regionalen) Binnenmärkten" realistisch. Doch auch eine (Wieder-)Regionalisierung bestimmter - gewiß nicht aller - Bereiche der Wirtschaft wird in Kürze als vernünftiges Postulat erkannt werden: spätestens dann, wenn die Transportauswüchse einerseits und die völlige Weltmarktabhängigkeit samt entsprechender Aushöhlung der lokalen Ökonomien andererseits dazu zwingen werden. Eine Revitalisierung regionaler Selbstversorgung zumindest im Bereich der Grundnahrungsmittel, der Bauwirtschaft, des Gewerbes u.dgl., sowie eine Anstrengung lokaler Energiewirtschaft (im Sparen und im Erzeugen) dürften in naher Zukunft zu den qualifizierenden Programmen des großen Politik-Angebots gehören.
Politisch ist Regionalisierung bereits aus der Erfahrung zahlreicher mehr föderalistisch verfaßter Staaten bekannt - die Vorteile liegen auf der Hand. Wenn die lokale Gemeinschaft über echte Machtbefugnisse verfügt, wird sie um vieles wirksamer, stabiler und strukturierter am Gesamtkreislauf teilnehmen, lokale Kräfte aktivieren und einer breiteren Auslese auf höherer Ebene zuführen, die Bürger/innen nachhaltiger am öffentlichen Leben beteiligen, Spannungen frühzeitiger erkennen und vielleicht auch lösen können. Je umfassender der größere Rahmen ist - beispielsweise ein europäischer Integrationsprozeß - desto unverzichtbarer erscheint die Stärkung der Region als relevante Strukturierung des demokratischen Gefüges und der Machtausübung. Und je mehr nach "Selbstbestimmung" gerufen wird - was ja nicht ausschließlich als Einforderung staatlicher Unabhängigkeit und Souveränität zu verstehen ist - desto höhere Ansprüche sind auch an die politische Handlungsfähigkeit der Regionen zu stellen. Selbst strategisch ist im Zeitalter höchst komplexer und globaler, somit aber auch sehr verletzlicher Systeme, eine gesunde regionale Struktur mit einem hohen Potential an selbstorganisiertem Eigenleben ein sehr erstrebenswertes Ziel, dessen Wert sich insbesondere sowohl im Falle natürlicher als auch politisch-militärischer Erschütterungen und Katastrophen als unschätzbar offenbart. Und auch so heikle und schwer lösbare Fragen wie die der Immigration und der Eingliederung von größeren Zuwanderungsströmen werden sich in der regionalen Dimension eher angemessen beantworten lassen, als wenn ein undifferenziertes großes Ganzes die Menschen - die Einwanderer und die Einheimischen - bloß als Zahlen handhabt.
4.
Es wäre wünschenswert, wenn heute zur Sicherung des Friedens, zur notwendigen Vernetzung der Wirtschaft, zur wirksameren Bewältigung des Umweltnotstandes und zur Herstellung größeren sozialen Gleichgewichts auf gesamteuropäischer Ebene der von der Mehrzahl der Menschen (vielleicht im Osten noch mehr als im Westen) gewollte Prozeß des Zusammenwachsens klar benannt, seinem Ausmaß nach politisch deutlicher definiert und zeitlich beschleunigt würde. Wünschenswert wäre auch, daß diesem Integrationsbestreben eine ebenso klare Machtverlagerung auf die regionale Ebene beigemischt wäre. Denn je mehr supranationale Integration gewünscht ist, desto mehr Regionalisierung ist erforderlich, um den entsprechenden Ausgleich zu schaffen.
Mit beidem steht es aber derzeit nicht zum Besten. Der einzige realistischerweise entwicklungsfähige Integrationsprozeß - nämlich jener der EG - stockt an mehreren Engpässen, zu deren bedeutendsten das Fehlen einer echt gesamteuropäischen Perspektive und der schon erwähnte Renationalisierungsschub gehören. Was die EG ihren Beitrittsanwärtern - zu denen mittlerweilen fast alle europäischen Staaten offen oder versteckt gehören - bietet, ist immer noch eher der Einstieg in ein schon fertiges Modell als die Teilhabe an einem dynamischen und somit auch veränderungsfähigen Unterfangen. Und die vorrangige Konzentration auf Markt, Wirtschaft und Währung ordnet das politische Vorhaben der Einigung Europas derartigen Prämissen unter, die vor allem der Osten noch lange nicht erfüllen kann. Dabei hatten die römischen Verträge für die EG-Mitgliedschaft nur gefordert, daß die Anwärter demokratisch verfaßte europäische Staaten sein müßten - von kapitalistischer wirtschaftlicher Leistungskraft war in der Geburtsurkunde nichts vermerkt.
Übertragung tatsächlicher Macht auf Regionen, Bundesländer, Kantone, Grafschaften oder wie immer sie heißen mögen, wird realistischerweise nur bei gleichzeitiger Herausbildung supranationaler Macht erfolgen. Denn die Handlungs- und Wettbewerbsfähigkeit kleinerer politischer Gebilde in einer Welt zunehmender Konzentration und Globalisierung wird naturgemäß sinken, sofern sie nicht von der Einbindung in eine größere Ordnung begleitet ist. Umgekehrt beweist die Erfahrung, daß hochzentralisierte Strukturen nicht nur sehr verletzbar sind, sondern auch wenig Akzeptanz bei der Bevölkerung finden. Die führenden Institutionen hoch industrialisierter und komplexer Industriegesellschaften werden auf Handlungs- und Wettbewerbsfähigkeit nicht freiwillig verzichten - und die Bürger/innen ihrerseits den mittlerweilen fast totalen Identitäts- und Souveränitätsverlust der Individuen und kleineren Gemeinschaften ebenfalls nicht hinnehmen wollen. Insofern sind supranationale Integration und Regionalisierung (nur?) als parallele und symmetrische Prozesse denkbar, die darin konvergieren, daß sie von den derzeitigen Nationalstaaten (von denen allerdings einige sowieso eher Regionen sind) fordern, Souveränitität gleichzeitig "nach oben" und "nach unten" abzutreten. "Nach oben", weil zahlreiche Herausforderungen so angelegt sind, daß sie strikte großräumige Kooperation, einen gemeinsamen rechtlichen Rahmen, gemeinsame Institutionen, verbindliche Entscheidungen und gemeinsame Durchsetzungskraft erheischen; "nach unten", weil die nötige Berücksichtigung lokaler Erfordernisse und die tatsächliche Aktivierung lokaler Ressourcen nur auf der regionalen Ebene möglich und wirksam sind.
5.
In der Diskussion um ein angestrebtes Europa der Regionen fällt vielen die Festlegung der möglichen Regionen schwer. Soll es sich dabei um die derzeit bestehenden Verwaltungseinheiten der Nationalstaaten handeln - also beispielsweise die Länder oder Provinzen oder Grafschaften Deutschlands, der Niederlande oder Großbritanniens? Hat die Forderung bestimmter grüner Zirkel nach Institutionalisierung der "Bio-Regionen" (z.B. Wassereinzugsgebiet) Sinn? Soll man an die Wiedererrichtung historischer, aber mittlerweilen verschwundener oder politisch geteilter Regionen denken (z.B. Groß-Tirol, Istrien, Okzitanien..)? Könnten Regionen durch freiwilligen Zusammenschluß integrationswilliger Nachbarbevölkerungen zustandekommen?
Wahrscheinlich wird davon auszugehen sein, daß keine dieser Formeln in Reinkultur die befriedigende Antwort geben kann. Sicher braucht ein lebensfähiger Regionalismus ein starkes geschichtlich verwurzeltes Fundament - Heimat kann nicht aus der Retorte gebraut werden. Gleichzeitig ist zu bedenken, daß kaum eine historische Region dauerhaft in denselben Grenzen existiert hat - und daß wirtschaftliche und administrative Lebensfähigkeit immer ihre Bedeutung hatten. Somit ist durchaus denkbar, daß im Rahmen einer europäischen Regionalverfassung, in der das Problem der Absteckung der Regionen nicht unnötig dramatisiert wird, mehrere Elemente zusammenspielen könnten: die Tradition und die Ökologie, der Wille der Betroffenen und die Notwendigkeit, wirtschaftlich gesunde und verwaltbare Einheiten zu gestalten. Mehrsprachige Regionen, die derzeit bestehende Staatsgrenzen überschreiten, müßten durchaus möglich sein und könnten gute Nahtstellen an den Kontakt- und Reibungsflächen zwischen Nachbarnationen abgeben. Gerade der Alpenraum, das Pyrenäengebiet, die (derzeit schon als "Euregio" bestehende) Region um Maas, Rhein und Mosel könnten da gute Beispiele abgeben.
Damit ein regional verfaßtes Gesamteuropa Sinn macht, müßten klare Befugnisse sowohl auf der supranationalen als auf der regionalen Ebene angesiedelt werden. Während der Gemeinschaftsrahmen seiner Natur nach vor allem die großen Richtlinien in Sachen Wirtschaft, Energie, Umwelt, Verkehr, Handel, Sozialrecht, Bürgerrechte, Haushalt, Außen- und Sicherheitspolitik zu setzen hätte, müßten den Regionen in diesem Rahmen alle nötigen Befugnisse zur konkreten Gestaltung des Alltags und des Wirtschaftens auf einem bestimmten Territorium gegeben sein. Ob, wieweit und wielange die Dimension der derzeitigen Nationalstaaten noch Platz hätte, um beispielsweise einen Rahmen für Schul- und Kulturpolitik, Straf- und Zivilrecht und dergleichen "national sensible" Bereiche zu bestimmen und die Verteidigungspolitik zu führen, solange sie nicht vergemeinschaftet ist, müßte die geschichtliche Entwicklung erst herausarbeiten. Sicher wird die politische Entscheidung in diese Richtung nicht auf der Grundlage mehr oder weniger detailliert ausgeklügelter Modellvorstellungen fallen.
6.
Vielmehr geht es heute darum, daß sich zwei politische Bewegungen enger als bisher vernetzen, die beide in der Realität bereits existieren, aber nicht immer miteinander kooperieren, wenn es auch höchst aufschlußreiche Berührungspunkte gibt. Die Europaföderalisten und die Regionalisten müssen fester und beständiger zusammenfinden, als dies bisher der Fall war. Zwar gibt es diese Verbindung insbesondere bei den Volksgruppen und Minderheiten in signifikantem Ausmaß: bei Basken, Schotten, Südtirolern, Istrianern, Provenzalen, Sarden und Friesen etwa sind fast alle autonomistischen und regionalistischen Strömungen gleichzeitig entschieden für die europäische Integration. Insbesondere wer nicht damit rechnet, einen eigenen Nationalstaat aufbauen zu können (oder dies gar nicht wünscht), setzt sozusagen natürlicherweise auf die Verquickung von Regionalismus und Europa-Föderalismus.
Dieses Binom müßte nun über den Rahmen der Volksgruppen und Minderheiten hinaus eine engere und stabilere Bindung eingehen, wenn eine zentralistische (und gleichzeitig wohl auch brüchige) europäische Einigung einerseits, eine nationalistische oder ethnozentrische Desintegration andererseits verhindert werden sollen. Beide Gefahren sind mitnichten unwahrscheinlich, und die Kombination Regionalismus-Föderalismus kann sich heute nicht einmal auf die normative Kraft des (EG-)Faktischen stützen: zuwenig Regionalismus und zuwenig Föderalismus wohnen, wie wir gesehen haben, dem derzeitigen EG-Integrationsmodell inne.
Damit aber eine glaubhafte föderalistische und regionalistische Perspektive attraktiv werden kann, wird man einige Schablonen und Vereinfachungen beiseitelassen müssen. So wird es sich nicht halten lassen, die EG als unverbesserlichen zentralistischen Popanz zu verteufeln und mit der Erarbeitung einer neuen, regionalistischen Perspektive so lange zu warten, bis sich die EG überlebt hat und (von selbst?) wieder zerfällt. Wenn dieser - mit zahlreichen Mängeln behaftete, aber real existierende - Ansatz zur europäischen Einigung verpaßt würde, dürfte sich so bald keine zweite vergleichbare Chance bieten; dann würde wohl eher Europa wieder in einige seiner traditionellen Bestandteile zerfallen und der Kampf um die Vormacht könnte neu beginnen. Auch die umgekehrte Einseitigkeit, nämlich mit dem Einklagen des Regionalismus so lange zu warten bis die vorgesehene politische Union laut Maastricht verwirklicht ist, dürfte in die falsche Richtung gehen. Denn erst wenn der Regionalismus ebenso fest als konstitutives Element der Europäischen Gemeinschaft verankert ist wie beispielweise das Erfordernis der pluralistischen parlamentarischen Demokratie, und der Anspruch auf regionalistische Verfaßtheit zu den Wesensmerkmalen der Gemeinschaft erhoben wird, kann die nötige Kurskorrektur als gesichert gelten. Das wird sich auch institutionell niederschlagen müssen: die derzeitige Dynamik der EG sieht als handelnde Pole nur die Nationalstaaten einerseits (den Rat der 12 Regierungen), die Gemeinschaftsorgane andererseits (Kommission, Parlament, Gerichtshof) - und weist zudem eindeutige Schlagseite zugunsten der nationalen Regierungen auf. Eine feste und gewichtige Mitbeteiligung der Regionen (so etwas wie ein Länderrat) fehlt noch gänzlich, und die verschiedenen halb-institutionellen Körperschaften, in denen sich die Kommunen und Regionen Europas gelegentlich treffen und zu Worte melden, haben herzlich wenig Einfluß.
7.
Abschließend läßt sich also sagen, daß ein "Europa der Regionen" - ohne diesen Begriff ideologisch überspannen zu wollen - eine recht brauchbare Alternative, bzw. Korrektur sowohl zu einem "Superstaat Europa" als auch zu einem "Europa der Vaterländer" oder "der Völker" (beide Begriffe sind stark ethnisch/nationalistisch besetzt) abgeben kann und wesentliche Voraussetzung zu einem "Europa der Bürger/innen" ist - damit die Bürger/innen nämlich nicht irgendwo im luftleeren Raum zwischen Brüssel und Hintertupfing verschollen bleiben.
Regionalismus und Föderalismus werden sich zu diesem Zwecke zusammenspannen müssen. Denn ein "Europa der Regionen" ohne europäische Einigung und ohne Herausbildung supranationaler Ordnungen und Institutionen kommt nicht zustande - und ein geeintes Europa ohne starke regionale Gliederung würde tatsächlich zum unwünschbaren Superstaat und zum unverträglichen zentralistischen Gebilde.
Wer ein "Europa der Regionen" will, wird sich unweigerliche dem europäischen Einigungsprozeß stellen müssen, der in der EG seinen stärksten, doch nicht ausschließlichen Antriebsmotor hat, und sich gleichzeitig nicht mit dem zufriedengeben dürfen, was die EG heute als Subsidiaritätsersatz verkauft.
Kein leichtes, aber auch kein unmögliches Unternehmen.