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Entwurf für eine Schlußresolution für eines Grünen Europaparlaments

1.4.1992, Langer Archiv - Nicht behandelt
Präambel: Noch nie hat Europa unter friedlichen Umständen in so kurzer Zeit eine so tiefe Veränderung erlebt. Neue Hoffnung kommt auf, die Erbschaft des Faschismus, des Stalinismus, des 2.Weltkriegs und des Kalten Krieges kann endlich der Vergangenheit angehören, die Aussicht auf eine neue Ordnung in Freiheit, Selbstbestimmung und Frieden tut sich auf.

0.2 Darüber freuen wir uns zutiefst und sprechen allen denen, die das möglich gemacht haben, unsere Solidarität und Anerkennung aus. Im besonderen denken wir dabei an die bis vor kurzem noch einsamen und verfolgten Vorkämpfer für Menschen- und Bürgerrechte, Demokratie und Abrüstung im östlichen Lager; an die mutigen und gewaltfreien Bahnbrecher friedlicher Massenbewegungen wie "Solidarnosc", "Charta 77", "Dialogus", "Kor", "Demokratisches Forum", die Helsinki-Gruppen, "Neues Forum" und ähnliche Initiativen; an den Reformer Michail Gorbatschew und all jene, die "glasnost" und "perestrojka" möglich gemacht haben. Und natürlich an die Ökologiebewegung in ganz Mittel- und Osteuropa, durch die sich in den letzten Jahren in vielen Ländern mehr und mehr eine neue geistige und politische Alternative auch im Osten abgezeichnet hat. "Grün bricht durch", auch unter schwierigsten Umständen: das beweist die Entwicklung in Ungarn - denken wir nur an "Duna Kör" und die Verhinderung des Donaukraftwerks Nagymaros oder an "Ekoglasnost" in Bulgarien, an Jugoslawien, an die zahllosen Ökologiegruppenin in der UdSSR, aber auch an die grüne Bewegung in Polen, in Estland und in der CSSR, in der DDR, in Bulgarien, in Rumänien, in Litauen, in Lettland und in Georgien, wo überall grüne Initiativen, Gruppen und Parteien entstanden sind und Umweltkonflikte und ökologische Bewegungen sich schon in den vergangenen Jahren als die relevante Neuheit erwiesen und häufig auch als Impuls zur Demokratisierung gewirkt haben.

0.3 Die grüne Bewegung im westlichen Europa ist seit ihrem Entstehen mit verwandten Gruppen und Bewegungen des Ostens eng verbunden und vernetzt. Während andere politische Gruppierungen sich heute oft geradezu krampfhaft bemühen, in Mittel- und Osteuropa ihre Filialen aufzubauen und dabei nicht selten politische Ladenhüter oder gar "Giftmüll" exportieren möchten, können die grünen Kräfte, die Friedens- und die Meschenrechtsbewegung schon auf eine solide Tradition blockübergreifender Zusammenarbeit zurückblicken.

0.4 Gemeinsam stehen wir nun vor den Ruinen des Realsozialismus, der als Erinnerung an ein Unterdrücker-Regime nur Abscheu hervorrufen kann. Gemeinsam wollen wir aber nun die Demokratie nicht einfach den ehernen Marktgesetzen überantworten und uns in eine Welt eingliedern, in der alles käuflich und verkäuflich ist und das Geld die Welt regiert. Die grüne Alternative hat heute eine besondere Chance, als die Idee unserer Zeit erkannt zu werden, bevor es zu spät ist, den Ausverkauf der Natur, des gemeinsamen Erbes aller Lebewesen und der Menschenrechte aufzuhalten. Nur eine stark grün geprägte Politik kann heute verhindern, daß die Befreiung Europas vom "eisernen Vorhang" und von den bisherigen Regimen des Ostblocks längerfristig zum Schuß nach hinten wird.

0.5 Auf dieser Grundlage ist, auf Einladung der grünen Fraktion im Europäischen Parlament, im Juli 1990 in Straßburg erstmals ein Grünes Europa-Parlament zusammengetreten und hat folgende Schlußerklärung verabschiedet:

1. Europa braucht dringend die ökologische Wende zur Selbstbegrenzung

1.1 Damit der Fall der Berliner Mauer von zukünftigen Generationen nicht als ökologische Katastrophe für Europa gesehen werden muß, weil sich westeuropäische Wettbewerbs-, Produktions-, Konsum- und Verschwendungsstandards auf ganz Europa auszubreiten drohen, braucht es eine gemeinsame Kultur und Politik der Selbstbegrenzung. Es genügt nicht, das bestehende westliche Modell durch effizientere Nutzung der Ressourcen zu rationalisieren, sondern eine europäische Wende zur Selbstbescheidung ist angesagt. Darin besteht heute die erste und dringendste Aufgabe in Europa.

1.2 Autoritäre Öko-Politik wäre allerdings weder wünschenswert, noch wirksam: deshalb setzen sich die Grünen für eine demokratische Entscheidung zur Selbstbegrenzung ein. Die tausend notwendigen Einzelmaßnahmen (vom Energiesparen zur Steuerpolitik, von der Förderung alternativer Forschung bis zum Naturschutz im einzelnen) sind nur in diesem globalen Rahmen sinnvoll.

2. Einiges, demokratisches, plurinationales, regionalistisches, föderalistisches Europa

2.1 Die - kleineren und größeren - Völker Europas haben auf vielfältige Art zum Ausdruck gebracht, daß sie sowohl zueinander gehören als in ihrer Identität respektiert werden wollen. Heute ist es dringender und naheliegender denn je, daß Europa zu einer demokratischen föderalistischen politischen Einheit zusammenwächst, in der gemeinsame Anliegen gemeinsam gelöst werden und gleichzeitig die kleineren Gemeinschaften auf regionaler und lokaler Ebene echte Selbstregierung verantwortlich ausüben. Die Überwindung der Nationalstaaten erfordert eine gleichzeitige Abgabe von Macht und Souveräntität "nach oben" und "nach unten", damit gemeinsame Probleme solidarisch und supranational gelöst werden können und gleichzeitig die Völker und die kleineren Gemeinschaften echte demokratische Selbstbestimmung und Selbstregierung ausüben können. Die Überwindung der militärischen und politischen Blöcke in Europa und der vielen alten und neuen ethnischen Spannungen und Konflikte kann im Rahmen einer föderalistischen und regionalistischen Ordnung gelingen. Die derzeit bestehende Europäische Gemeinschaft zeichnet sich zwar durch eine völlig einseitige Wirtschaftsfixierung und ein sehr bedenkliches Demokratiedefizit aus, stellt aber auch den bisher am weitesten entwickelten Ansatz zu einer föderalistischen Einheit Europas dar. Damit an die Stelle der jetzigen E.G. ein geeintes, föderalistisches und regionalistisches Europa treten kann, wie es den Erwartungen der Völker entspricht, muß sich die Europäische Gemeinschaft einem gründlichen Veränderungsprozeß unterziehen, der gemeinsam mit allen daran interessierten - kleineren und größeren - Völkern und Staaten Europas zu gestalten ist.

2.2 Dabei wird sehr viel auf eine Politik der Gastfreundschaft und des plurinationalen, mehrsprachigen und plurikulturellen Zusammenlebens als Alternative zu alten und neuen Formen des Chauvinismus und Rassismus ankommen.

2.3 Der Prozeß der Vereinigung der Deutschen, über dessen Wünschbarkeit, Struktur und Rhythmus die Deutschen in freier Selbstbestimmung und in Kooperation mit den übrigen Europäern und insbesondere ihren Nachbarn zu befinden haben, soll in diesen europäischen Rahmen eingebaut und Teil des europäischen Einigungsprozesses sein. Rückfälle in Nationalstaatlichkeit passen nicht in den Aufbau eines europäischen Hauses. Außerdem darf weder die historische Verantwortung Deutschlands für vergangene europäische Katastrophen vergessen werden, noch neue Großmacht- und Hegemoniepolitik gestattet werden.

2.4 Die Rechte aller anderen europäischen Völker, Volksgruppen und Minderheiten, die heute von den Betroffenen zunehmend eingefordert werden, können ebenfalls nur in einem europäischen - nicht nationalstaatlichen - Rahmen berücksichtigt werden, während Grenzverschiebungen oder Vermehrung bzw. Teilung der bestehenden Territorialstaaten wohl keinen Ausblick auf ein friedliches und solidarisches Europa eröffnen.

2.5 Die Zeit der "National-", bzw. Territorialstaaten mit ihren Tabus von Grenzen und Souveränität ist vorbei: angesichts der engen Interdependenz und der gemeinsamen Notwendigkeit, die Biosphäre zu bewahren, aber auch angesichts des gemeinsamen und gleichen Anspruchs aller Menschen auf Demokratie und Menschenrechte kann es für ökologische und demokratische Anliegen keine Grenzen und keine "inneren Angelegenheiten" geben, in die man sich als Mensch und Bürger nicht einmischen darf. Die derzeitigen Staaten sind gleichzeitig "zu groß" (für echte Autonomie und lokale Selbstverwaltung) und zu klein (für die Bewältigung der anstehenden ökologischen Aufgaben). Deshalb braucht es einen neuen Regionalismus und Föderalismus.

2.6 Die europäischen Institutionen (EG, Europarat, EFTA, RGW, KSZE usw.) sind heute aufgefordert, in einen Prozeß des Aufbaues einer föderalistischen Völkergemeinschaft einzutreten und an die Stelle der alten Blocksysteme eine neue europäische Friedens- und Gemeinschaftsordnung zu setzen. Dabei kommt dem bisher am weitesten integrierten Teil Europas - nämlich der E.G. - eine besondere Verantwortung zu.

3. Für ein friedliches und friedenstiftendes Europa: schrittweise, symmetrische Block-Entflechtung, Truppenabzug und Entmilitarisierung der Sicherheitspolitik

3.1 Heute ist es realistischer denn je, von einem friedlichen und friedenstiftenden Europa zu sprechen: Europa kann ohne Angst und durch eine Reihe symmetrischer Schritte seine Einbindung in gegnerische Militärblöcke abschütteln und zu deren friedlicher Auflösung beitragen, sowie seine bisher für militärische Zwecke gebundenen Mittel der ökologischen und sozialen Umstellung widmen. Dies kann und soll heute in gutem Einvernehmen mit den USA und der UdSSR und der ganzen übrigen Welt geschehen, fremde Truppen sollen aus allen Ländern und Meeren abgezogen werden. Gerade der Westen und die NATO sind heute - aus einer Position der Stärke - gefordert, deutliche Zeichen in diese Richtung zu setzen, statt weiterhin sogar über eine Ausdehnung des NATO-Bereiches nachzudenken.

3.2 Es ist Zeit, daß die laufenden Abrüstungsverhandlungen und die hoffentlich bald stattfindende Zweite Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (Helsinki II) aufgrund der neuen Lage in Europa mutige und ungewöhnliche Fortschritte machen - mit der Fortschreibung der bisherigen kleinen Schritte zu einem Gleichgewichts des Schreckens bloß auf niedrigerer Ebene ist es nicht mehr getan.

3.3 Die bisherigen Konzepte und Anstrengungen zugunsten einer vor allem militärisch verstandenen Sicherheit müssen endlich durch eine neue und globale Sicherheitspolitik abgelöst werden, in denen vor allem die Wahrung des ökologischen und sozialen Gleichgewichts zum Sicherheitsfaktor Nr.1 wird. Militärische Verteidigung muß immer mehr durch nichtmilitärische Abwehr von Gefahren und Spannungen ersetzt werden, gewaltarme und -freie Konfliktlösungen sind zu entwickeln.

3.4 Bei all diesen Anstrengungen muß sicher schrittweise vorgegangen werden, aber man muß endlich damit beginnen: fangen wir mit der atomaren Abrüstung, mit dem Rückzug aller landesfremden Truppen und mit einer sofortigen Kürzung aller Militärbudgets in Europa um mindestens 20% an.

4. Europa muß gemeinsam seine dringendsten ökologischen Prioritäten angehen: Natur geht vor Geld, der Ausgleich der ökologischen Bilanz ist vorrangiger als jener der ökonomischen Bilanzen

4.1 Europa leidet heute unter einer selbstverschuldeten ökologischen Belastung und Gefährdung ohnegleichen. Boden, Wasser, Luft und Wald sind krank vor Gift- und Schadstoffen. Die großen Ökosysteme unseres Erdteils sind überlebensbedroht: die Alpen, die Binnenmeere, die großen Flüsse, ausgedehnte Waldgebiete, die Vielfalt der Pflanzen- und Tierwelt sind am Kippen. Im Interesse kurzsichtiger Profite hat Europa seinen Kredit bei der Biosphäre längst verspielt und überzogen - und die Antwort darauf ist heute vielfach bloß der Versuch, die von unserer "Zivilisation" verursachten Schäden den sozial schwächeren Schichten bei uns, vor allem aber anderen Völkern und den zukünftigen Generationen aufzuhalsen - oder aber eine technologische Flucht nach vorne zu versuchen und durch verbesserten technischen Umweltschutz die Fortsetzung unserer Wirtschaftsweise noch für einige Zeit zu verlängern. Dabei ist jedoch die Wiederherstellung des ökologischen Gleichgewichts heute die absolut vorrangige Aufgabe.

4.2 Die Europäer/innen können heute nur gemeinsam das Überleben und die Regenerationsfähigkeit der natürlichen Lebensgrundlagen sichern. Dabei wird es gleichzeitig wesentlich darauf ankommen, soviele ökologische Kreisläufe als nur möglich auf lokaler Ebene zu schließen (was ein hohes Maß an lokaler Selbstverwaltung und Selbstverantwortung fordert) und durch supranationales Einvernehmen die ökologische Sanierung anzugehen (was ein hohes Maß an supranationalem Durchsetzungsvermögen erfordert).

4.3 Die ökologische Konversion des europäischen Alltags wird kein leichtes Unterfangen sein und hängt von vielen großen und kleinen politischen und ökonomischen Entscheidungen ab, die heute nicht mehr aufschiebbar sind: der Ausstieg aus der chemie-dominierten Landwirtschaft ebenso wie aus der Atomwirtschaft, der Abschied von einer ungemein transport-intensiven, energiefressenden und verpackungswütigen Wirtschaft, die Abkehr von rücksichtsloser Verbauung und Betonierung wie von krankmachender Medizin und Gesundheitsverwaltung, und die Umrüstung auf ökologisch verträglicheres und sozial gerechteres Wirtschaften. Jede Gemeinde, jede Region, jeder Betrieb, jedes Stadtviertel, jede Genossenschaft kann konkrete Beispiele ökologischer Umkehr setzen, was jedoch leichter vor sich gehen kann, wenn Gesetze, Steuersysteme und Wirtschaftspolitik einen dafür freundlichen Rahmen schaffen, statt Verschwendung, Wegwerf-Haltungen und ökologische Verantwortungslosigkeit zu fördern.

4.4 Im Jahrzehnt bis zum Ende dieses Jahrtausends wollen wir in Europa folgende konkrete Schritte zur Sanierung und zur ökologischen Wende tun und die entsprechenden politischen Entscheidungen herbeiführen:

- Verminderung der Kohlenstoffemissionen um mindestens ein Drittel;
- Verminderung des Energieverbrauchs um mindestens ein Drittel, Ausstieg aus der Energiegewinnung durch Atom, Entwicklung erneuerbarer Energiequellen, intensive Entwicklung der Erforschung und Nutzung der Sonnenenergie;
- Unterschutzstellung und Sanierung der großen europäischen Ökosysteme;
- Verminderung des Gütertransportes auf Straßen um mindestens ein Drittel, Verminderung des privaten motorisierten Verkehrs um mindestens ein Drittel, Entwicklung umweltverträglicherer Transporte und einer stärker regional entfalteten Wirtschaftsweise, wo insgesamt weniger transportiert zu werden braucht;
- Verminderung der chemischen Belastung des Bodens, der Gewässer, der Luft und der menschlichen Körper um mindestens ein Drittel;
- Verminderung der Herstellung von nicht-organischem Müll um mindestens ein Drittel.

4.5 Die 90er Jahre sollen aber nicht nur ein deutlich spürbares "Schadensverminderungsjahrzehnt" werden, sondern auch ein Jahrzehnt der Erforschung, Erprobung und Entfaltung von Alternativen in allen Bereichen: Produktion, Konsum, Verkehr, Ernährung, Gesundheitswesen, Verpackung, Landwirtschaft, Städtebau, Energie, usw. Umweltschutz muß sich in Entfaltung und Förderung umweltverträglicher menschlicher Verhaltensweisen umsetzen. Alle Parlamente sind aufgerufen, dies durch entsprechende politische Entscheidungen zu erleichtern.

5. Zivilisation der Genügsamkeit - die Chancen des Ostens, die Chancen des Westens

Die Befreiungsbewegungen in Osteuropa haben mit "Solidarnosc" ihren ersten großen Durchbruch erzielt. Es wäre nun wirklich unfaßbar, wenn nach dem durch "Solidarität" ausgelösten Umsturz mit fliegenden Fahnen der Markt, also das Reich der Konkurrenz und der Expansion (gewiß nicht der Solidarität), auf den Thron gehoben würde. Die grünen Bewegungen des Westens wissen sehr wohl, welch irreparable Schäden an Mensch und Natur der profitbeherrschte Markt angerichtet hat. Deshalb wollen sie nun gemeinsam mit den grünen Bewegungen des Ostens, die sehr wohl wissen, welch irreparable Schäden an Mensch und Natur der parteibeherrschte Realsozialismus angerichtet hat, nach Auswegen suchen. Die bisherigen Vorstellungen über den besten Weg, die Menschheit zu Gerechtigkeit und Frieden zu führen, haben versagt und in die Katastrophe geführt. Im Osten heute deutlicher sichtbar, im Westen manchmal besser verkleidet, im Süden der Welt in nackter Unverhohlenheit stehen Umwelt, Menschenrechte, Freiheit, soziale Sicherheit und das Überleben in einer immer noch hochgerüsteten Welt auf dem Spiel.
Ein ökologisches und friedliches, demokratisches und gewaltfreies, solidarisches und freiheitliches, gerechtes und brüderliches Europa wird zu einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung finden müssen, die das gemeinsame natürliche Erbe schont und der Eigenversorgung und Befriedigung der Grundbedürfnisse den Vorrang vor Vergößerung und Vereinheitlichung eines enormen Binnenmarktes, Finanz- und Exportwirtschaft gibt. Eine Zivilisation der Genügsamkeit ist gefragt, die wahrscheinlich vom Westen mehr Selbstbescheidung und vom Osten die Abwehr konsumistischer Verführung fordert - und von beiden gemeinsam solidarische Kooperation mit der "dritten Welt".
Wie große Chancen könnten sich heute im Osten eröffnen, wenn sich die Einsicht durchsetzte, daß nicht die Eingemeindung in den Weltmarkt, sondern eine ausgeglichene Öko- und Sozialbilanz Freiheit und Demokratie am dauerhaftesten gewährleisten! Die schlichte Nachahmung des westlichen Weges hingegen kann ebenfalls an einen totalitären Abgrund führen - nämlich zur völligen ökologischen Überlastung der Biosphäre und damit zu äußerst gefährlichen Reaktionen. Und wie große Chancen könnten sich dem Westen bieten, das Zusammenwachsen mit Osteuropa und den dadurch nötigen Lastenausgleich zum Anlaß entschiedener Dämpfung der Wachstumspolitik und einschneidender Kurskorrektur, in Richtung einer ökologisch vertretbaren Wirtschaftsweise zu nehmen!

6. Kooperation, Schadensbegrenzung, Partnerschaft, Integration: gegenüber dem Osten keine Neuauflage der bisherigen 3.Welt-Politik!
Damit der berechtigte Wunsch der meisten Europäer im Osten nach dem "gemeinsamen Haus Europa" nicht zur wirtschafts- und finanzpolitischen Okkupation durch den Westen und dadurch zu einem weiteren kurzsichtigen und deshalb selbstmörderischen Wachstumsschub mißbraucht werden kann, muß die Kooperation und Integration zwischen den verschiedenen Wirtschaftsgebieten Europas behutsam und solidarisch vor sich gehen. Die negativen Erfahrungen der "dritten Welt", deren soziales, ökologisches und kulturelles Gleichgewicht durch die Marktmechanismen fast völlig zerstört worden ist, dürfen sich nicht wiederholen. Deshalb treten die grünen Bewegungen dafür ein, daß keinerlei schädliche Technologien, Produktionsprozesse, Infrastrukturen u.dgl. in den Osten exportiert werden, sondern nur umwelt- und sozialverträgliche - also: maßvolle und begrenzte! - Investitionen, "Hilfen", Kooperation usw. zum Tragen kommen dürfen. Binnenmärkte müssen Vorrang vor dem Weltmarkt haben.
Zum Aufbau binnenwirtschaftlicher Stabilität ist die Bereitstellung eines Strukturentwicklungsfonds' der EG für Mittel- und Osteuropa notwendig. Gleichzeitig muß ein Währungsstabilisierungsinstrument geschaffen werden, das die schrittweise Hinführung zur Konvertibilität der Währungen der mittel- und osteuropäischen Länder ermöglicht.
Der Hauptunterschied zwischen dem Einbruch westlicher Wirtschaftsmacht im Osten und in der "dritten Welt" könnte darin bestehen, daß man sich im Osten gegen Übervorteilung, Degradierung und schleunige, schrankenlose Anpassung an den Westen eher wehren und eigene Ziele und einen eigenen Rhythmus eher bestimmen kann, weil die strukturelle Ungleichheit nicht so groß ist. Da ist die Kooperation zwischen den grünen Kräften des Westens - zur Begrenzung der westlichen "Exportschäden" - und des Ostens - zur Begrenzung naiver Nachahmungstendenzen - besonders wichtig.

7. Finanzschulden des Ostens streichen, statt "Strukturanpassung" gemeinsame Öko-Schulden bezahlen.
Viele Länder des Ostens stehen heute an der Schwelle ihrer Eingliederung in das Weltwährungssystem und sind bereits hoch verschuldet. Es wäre weder im Interesse jener Völker, noch im Interesse der westlichen Europäer, wenn die verschuldeten Länder nun in dieselbe "Strukturanpassung" getrieben würden, die man der 3.Welt aufgezwungen hat. Nicht die finanziellen Schulden sind zu bezahlen, sondern die bisher unbeglichenen Rechnungen der Natur. Deshalb schlagen die Grünen dem Westen vor, auf jegliche Schuldenforderung zu verzichten, damit im Osten dafür lieber Umweltreparaturen finanziert und ermöglicht werden: auf Dauer eine bessere Investition für beide Seiten, und die Voraussetzung, daß man gemeinsam an die Bezahlung der Umweltschuld gehen kann, indem in ganz Europa gemeinsame Maßnahmen zum Schutz der Biosphäre und zur Schadensbegrenzung getroffen werden (Immissionsbegrenzung, Sanierung von Wasserläufen, Chemie-Abbau in der Landwirtschaft, Atomausstieg, usw.).

8. Das Zusammenwachsen von Ost und West darf nicht fociert und nicht erkauft werden - es braucht seine Zeit. Europa von unten her einigen

Die grünen und verwandten Bewegungen in Europa setzen sich dafür ein, daß das kulturelle, menschliche und politische Zusammenwachsen der Völker dieses Erdteils so gestärkt und intensiviert wird, daß es gegenüber einer rein ökonomischen Dynamik die Oberhand gewinnen kann. Ein fruchtbares Zusammenwirken zwischen denen, die sich den bisherigen östlichen Systeme wegen ihrer Inhumanität widersetzt haben, und jenen, die die Ausweglosigkeit und Sinnlosigkeit des westlichen Wachstumswettlaufs erkannt haben, kann heute am ehesten die Voraussetzung schaffen, daß die notwendige und hoffnungsvolle europäische Einigung nicht ein Schuß nach hinten für die gesamte Biosphäre wird. Deshalb sprechen sich die Grünen im Europäischen Parlament für die Intensivierung aller Formen von Dialog, Partnerschaft, Zusammenarbeit, Austausch usw. aus, durch die die Menschen Europas zusammenkommen und an der Verwirklichung gemeinsamer Ziele arbeiten. Die grünen Listen und Parteien selbst sind dabei, ihren gesamteuropäischen Zusammenhang durch eine europaweite grüne Koordination zu stärken.

9. Europa als solidarischer Partner der 3.Welt
Der europäische Einigungsprozeß weckt vielerorts die nicht unbegründete Befürchtung, daß nun der weiße, abendländische, industrialisierte Teil der Menschheit enger zusammenrückt und sich gemeinsam gegen das Streben nach Gerechtigkeit und Umverteilung, das aus dem Süden der Welt kommt, absichert und wehrt. Die Grünen verstehen ihre aktive Teilnahme am europäischen Einigungsprozeß auch als Garantie für die Menschen der "dritten Welt", daß Europa zum verantwortlichen, solidarischen Partner für ihre Anliegen wird und kein europäischer Prozeß mehr auf ihre Kosten stattfinden darf: weder ökonomisch, noch militärisch, noch sozial. Die gesamteuropäische grüne Bewegung in West und Ost sucht heute intensiven Dialog und Kooperation mit ähnlichen Bewegungen in der "dritten Welt": wer bei uns die industrielle Wachstumsökonomie bekämpft, ist der beste Ansprechpartner für diejenigen, die in der "3.Welt" unter deren Räder kommen.

10. EIN GRÜNES EUROPA-PARLAMENT ALS STÄNDIGES FORUM FÜR DEN AUFBAU EINES ÖKOLOGISCHEN UND FRIEDLICHEN, DEMOKRATISCHEN UND GEWALTFREIEN, SOLIDARISCHEN UND FREIHEITLICHEN, GERECHTEN UND BRÜDERLICHEN EUROPAS.
Die grüne Fraktion im europäischen Parlament sieht mit Hoffnung, daß aus den jetzt anstehenden demokratischen Wahlen in Mittel- und Osteuropa in vielen Ländern erstmals legitimierte Volksvertreter ökologische Politik einbringen können. Damit dies jetzt schon aus einer gemeinsamen Sicht und Verantwortung heraus geschehen kann, und damit jetzt schon ein Ausblick auf jenes Europa sichtbar wird, das den Grünen vorschwebt, lädt die grüne Fraktion im Europäischen Parlament die grünen und verwandten Volksvertreter aus ganz Europa für den kommenden Juli nach Straßburg ein, um dort die erste Sitzung eines "grünen Europa-Parlaments" abzuhalten. Dort sollen sich die ökologischen Kräfte ganz Europas versammeln, um die Grundzüge einer grünen Politik für Europa zu erarbeiten und gleichzeitig eine gemeinsame Vertretung der europäischen Völker vorwegzunehmen, die sich heute schon als notwendig und möglich erweist und die in naher Zukunft als demokratische parlamentarische Versammlung eines einigen Europas einzurichten sein wird.

April 1992
pro dialog