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Die Grünen im Europäischen Parlament

6.11.1989
Gestatten Sie mir zuerst, Ihnen für diese Einladung zu danken und einige Worte der Vorstellung unserer Fraktion zu widmen. Vermutlich sind wir ja ziemlich weit voneinander entfernt, doch gibt es sicher auch Berührungspunkte und Themen, die uns nicht nur gemeinsam betreffen, sondern zu denen wir vielleicht sogar konvergierende Ansätze finden. Und da ist es doch wichtig, daß man einander kennt.

Die grüne Fraktion im Europaparlament - die fünftgrößte des Hauses, nach Sozialisten, Christdemokraten, Liberalen und Konservativen - besteht aus 29 Abgeordneten aus 7 verschiedenen Ländern der Gemeinschaft (Frankreich, Italien, Bundesrepublik Deutschland, Belgien, Niederlande, Portugal und Spanien), mit 6 Gemeinschaftssprachen. Es handelt sich um 12 Frauen und 17 Männer (somit um die Fraktion mit dem perzentuell weitaus höchsten weiblichen Anteil), aus insgesamt 12 verschiedenen Listen. Fast 12 Millionen Europäerinnen und Europäer der Gemeinschaft haben im letzten Juni grün gewählt - wenn auch dann nicht alle in diesem Parlament ihre Vertretung finden konnten, was bei den britischen Grünen (über 2,3 Millionen Wählerstimmen - 15%) aufgrund des britischen Wahlsystems besonders schmerzlich ist.

Mit unserer Gruppe ist zum ersten Mal eine spezifisch grüne Fraktion ins Europaparlament eingezogen; grüne Abgeordnete, die es auch in der vorigen Legislaturperiode gab, bildeten in der Vergangenheit gemeinsam mit Regionalisten, Autonomisten und dänischen EG-Gegnern die "Regenbogenfraktion", in der die verschiedenen Komponenten in gegenseitiger Autonomie handelten. (Auch im derzeitigen Europaparlament gibt es eine "Regenbogenfraktion" mit recht unterschiedlich gefärbten Regionalisten, Autonomisten und dänischen EG-Gegnern, mit 14 Mitgliedern.)

Die Grünen im Europaparlament verstehen sich als Teil der grünen Bewegung, die seit nun mehr als einem Jahrzehnt in immer zahlreicheren Ländern versucht, eine politische, soziale und kulturelle Antwort auf die epochale ökologische Krise unseres Planeten und unserer Gesellschaften zu entwickeln.

Die grüne Bewegung, die mittlerweilen in verschiedenen Formen sowohl in hochindustrialisierten, als in sog. "Entwicklungsländern" (die wir, der Wahrheit zuliebe, eher als "von den Reichen in Abhängigkeit und Verarmung gestürzte Länder" bezeichnen) zu finden ist, nimmt nicht immer und überall die Form der Partei, der politischen Vertretung in Parlamenten oder jedenfalls der politischen Ökologiebewegung an: eine ungemein große Rolle spielen auch die vielen Bürgerinitiativen, Vereinigungen, Aktionen usw., die sich spezifisch mit einzelnen Anliegen oder Themenbereichen befassen.

Mit den Grünen ist eine neue politische und kulturelle Kraft wach geworden, die das Spektrum der traditionellen politischen Optionen Europas (von den Liberalen zu den Konservativen, von den Linken zu den Rechten) entschieden erneuert und transzendiert, und wohl in den nächsten Jahrzehnten zu einer stabilen neuen politischen und ideellen "Familie" werden dürfte, mit denen man in Europa und wahrscheinlich weltweit zu rechnen hat.

Grundlegend für das Aufkommen der Grünen ist die Einsicht, daß das bisherige Wirtschaftswachstum und die bisher als "Fortschritt" empfundene extensive und intensive ökonomische und technologische Ausbeutung der Natur - wenn alles so weitergeht - schon in Kürze zur totalen Krise unseres globalen Ökosystems und höchstwahrscheinlich zum Selbstmord der Gattung Mensch, ja, vielleicht des Lebens auf unserem Planeten überhaupt führt. Ökonomische Interessen und machtpolitische Ansprüche haben dermaßen stark die Überhand über das ökologische und soziale Gleichgewicht, sowie über kulturelle und gesellschaftliche Bedürfnisse und Identität der Menschen und Völker gewonnen, daß eine selbstzerstörerische Entwicklung eingeleitet wurde und mit zunehmender Beschleunigung fortwirkt. Die einzelnen Erscheinungen, an denen man die globale Ökokrise erkennen kann, sind deutliche Symptome für eine negative Synergie, die eine ebenfalls globale Kurskorrektur, eine umfassende "ökologische Konversion" erheischen. Man denke nur an Treibhauseffekt und Klimaveränderung, an das Artensterben, an die vielfältige Verschmutzung der Luft, des Bodens und des Wassers, aber auch an die gesellschaftliche und zwischenmenschliche Versteppung und Erkaltung oder Überhitzung (Stress, Anonymität, Bürokratie, Entfremdung...).

Die Grünen sind nicht bereit, die vitale Welt unseres Planeten und seiner Bewohner dem Geld, der Macht und der Produktivität zu opfern. Deshalb vertreten sie eine Politik der (gesellschaftlichen und persönlichen) Selbstbegrenzung, der Konvivialität, der Herstellung oder Wiederherstellung ökologischer und sozialer Gleichgewichte. Jede "Nutzung von Ressourcen", wie man inzwischen ja die Inanspruchnahme des gemeinsamen Erbes aller Lebewesen auf diesem Planeten nennt, muß nach unserem Verständnis so gewaltfrei und schonend als irgend möglich vor sich gehen - sie muß also umwelt-, mitwelt- und nachweltverträglich sein.

Eine Politik, eine Kultur, eine Zivilisation der Selbstbegrenzung und des Ausgleichs - des Friedens und der Solidarität zwischen den Menschen und mit der Natur - zu entwickeln, ist also das anspruchsvolle Grundanliegen der Grünen, das wir auf allen Ebenen und somit auch im Parlament der europäischen Gemeinschaft voranzutreiben bemüht sind.

Dabei machen wir uns keine Illusionen über die heute dem europäischen Parlament zugedachte Rolle: es handelt sich derzeit im wesentlichen um ein eher dekoratives Repräsentationsorgan, das gegenüber den politischen und ökonomischen Machtinteressen der Staaten und der Konzerne nur relativ ohnmächtige Wünsche und Anliegen der Menschen Europas formulieren kann. Der bisherige Einigungsprozeß ist nämlich eindeutig und einseitig markt-dominiert und auf ein knappes Drittel Europas beschränkt. Allerdings kommen da auch positive Aspirationen zum Ausdruck: etwa nach einer Überwindung der Nationalismen und der politischen Grenzen, nach Völkerverbrüderung, nach solidarischer und gemeinsamer Gestaltung des "Hauses Europa".

Deshalb akzeptieren die Grünen den Rahmen der E.G. als eine wichtige Ebene ihrer Politik, um gerade auch in den europäischen Institutionen darauf hinzuarbeiten, daß in Europa die regionalen und dezentralen Kräfte gegen die zentralistischen Tendenzen gestärkt werden, daß die Gemeinschaft nicht zu einer Festung der Reichen und Satten wird, daß die Landwirtschaftspolitik vom gezielten Abbau der bäuerlichen Landwirtschaft abgeht und stattdessen die Stärkung des bäuerlichen und regionalen Europas ins Auge faßt. Wir arbeiten für neue demokratische und gemeinsame Formen der Ost-West-Kooperation in Europa (vielleicht auch eine gemeinsame parlamentarische Versammlung, warum nicht?), für ein partnerschaftliches und von Gegenseitigkeit gekennzeichnetes Verhältnis zur "Dritten Welt", für ein "weiblicheres" Europa, für ein soziales Europa, für ein rüstungsfreies und friedensstiftendes Europa, für ein Europa der Vielfalt statt der Gleichschaltung.

Für die ökologische Konversion muß auch im Europaparlament und in den Institutionen der Gemeinschaft hart gearbeitet werden: ob es da um einen radikalen Umbau des europäischen Transportwesens oder um den wirksamen Schutz der großen europäischen Ökosysteme geht, um die Wende von der Atomenergie zur Sonnenenergie oder um die Verhinderung der Genmanipulation, um wirksame Umweltrichtlinien oder um ein Steuersystem, das beispielweise langlebige Produkte gegen kurzlebige, Energiesparen gegen hohen Energieaufwand, Abbau von unnötiger Verpackung, Mülltrennung usw. fördert.

In diesem Sinne und mit dieser Grundhaltung arbeiten die Grünen im Europaparlament, und bemühen sich dabei, quer durch die Reihen und ohne vorgefaßte Bündnisse und festgefahrene politische Lager tätig zu sein. Wobei wir natürlich auch an der politischen Aktualität - von den Menschenrechten zur Stärkung der demokratischen Züge der europäischen Gemeinschaft - intensiv teilnehmen. Bisher war es uns noch nicht oft vergönnt, größere Erfolge zu ernten, aber wir dürfen immerhin darauf verweisen, daß wir schon mehrmals Mehrheiten für von uns vorgeschlagene Resolutionen finden konnten (z.B. zur Mittelmeersanierung, zum Verhältnis zu den ACP-Partnern u.a.) oder bei Abstimmungen ausschlaggebend waren (so z.B. letztlich in Sachen Landwirtschaft).

Eines möchte ich noch abschließend zu bedenken geben: die Grünen sind heute eine politische Bewegung "in statu nascendi". Man könnte als Vergleich die europäischen oder amerikanischen Liberalen in der Aufklärungszeit oder die frühe sozialistische Bewegung um die Mitte des vorigen Jahrhunderts herbeiziehen. Sehr vieles ist also noch im Fluß, und es ist mitnichten gesichert, daß die heutigen Ansätze Bestand haben; es könnten sich auch noch sehr tiefgreifende Veränderungen ergeben.

Aber wenn man bedenkt, wie tiefgreifend heute die Krise der Systeme ist (der kommunistische Machtbereich erlebt das Ende seiner Parabel, und der westliche Kapitalismus ist durch die Öko-Krise ebenfalls deutlich in einer Sackgasse), dann wage ich zu hoffen, daß eine politische, kulturelle und geistige Strömung, die dort ansetzt, wo die anderen an ihre Grenzen gestoßen sind, einen wichtigen Beitrag zur höchst notwendigen globalen Umkehr und Erneuerung geben kann.

Alexander Langer, Präsident der grünen Fraktion im Europäischen Parlament
Rede vor "Global Business Forum", Brüssel, Le Cygne Blanc, 6.November 1989
pro dialog