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Ostgrün ist nicht gleich Westgrün - aber eng verwandt
1.8.1990, Aus "Kommune", August 1990
Schneller als die offiziellen europäischen Institutionen haben die Grünen auf die Öffnung der Mauern und Stacheldrähte zwischen West- und Osteuropa reagiert. Ein grünes Europaparlament, mit über 100 gewählten Öko-Mandataren aus 25 europäischen Ländern diesseits und jenseits des ehemaligen "eisernen Vorhangs" ist auf Einladung der grünen Fraktion im Europäischen Parlament in Straßburg vom 3. zum 5.Juli 1990 zusammengekommen und hat diskutiert, Resolutionen abgestimmt, Erfahrungen ausgetauscht und seine nächste Sitzung für 1991 in Osteuropa (vielleicht Kiew, 5 Jahre nach Tschernobyl) festgelegt.
Rund 20 grüne oder grünnahe Abgeordnete aus der Sowjetunion, vom Obersten Sowjet bis zum litauischen Parlament, vom Moskauer zum ukrainischen Sowjet und zum estnischen Parlament stellten die stärkste Delegation aus einem Staat - wobei allerdings die baltischen Vertreter sich ausdrücklich nicht als Sowjets verstehen wollten und es durchsetzten, daß in einer Resolution auch eine ausdrückliche Ermutigung für den baltischen Unabhängigkeitsprozeß - auf dem Verhandlungswege und gewaltfrei - zum Ausdruck gebracht wurde. Der Fraktionssprecher der Grünen im deutschen Bundestag, Willi Hoss, fehlte ebensowenig wie der europa-föderalistische grüne Senator Ludo Dierickx aus Belgien (Flandern), die grüne Vizebürgermeisterin Elzbietha Hibner (Lodz, Polen), italienische Regionalratsabgeordnete (Veneto, Lazio, Campania) saßen neben Mitgliedern des schwedischen Reichstags, der DDR-Volkskammer, des Schweizer Nationalrats, der beiden Kammern des rumänischen Parlaments, den Abgeordneten aus der Slowakei, aus Portugal, aus Slowenien, aus den Niederlanden...
Namens der Grünen im Europäischen Parlament eröffneten Maria Santos und Alexander Langer die erste Sitzung, um dann je einem Sitzungspräsidium Platz zu machen, das jeden Halbtag - je nach Thema - abwechselte, und jeweils 2 Mitglieder des Europäischen Parlaments, zwei Vertreter/innen aus dem Osten (darunter 1 Sowjetdelegierter) und einem Abgesandten aus einem neutralen Land bestand.
Drei umfangreiche Resolutionen wurden zu den Hauptthemen gefaßt: erstmals bekannten sich die Grünen ausdrücklich zu einer europäischen föderalistischen Perspektive und zur Einheit Europas, unter Wahrung vor allem der regionalen und ethnischen Eigenart und Vielfalt und demokratischer Bürgermitbeteiligung; Friede und Abrüstung wurde als ein globaler Prozeß der Entmilitarisierung der Gesellschaft verstanden und die Auflösung (nicht bloß Umwandlung) der Militärblöcke gefordert; der Atomausstieg Europas wurde neben der Überwindung fossiler Brennstoffe und Hinwendung zu erneuerbarer Energie (Solarenergie, vor allem) bekräftigt und die Biotechnologien als die neue Schwelle der Bedrohung angegeben. Die Grünen in ganz Europa verstehen sich als die neue politische Kraft, die auf die Umweltbedrohung reagiert und die Erhitzung der Erdatmosphäre als ebenso gefährlich und "politikwürdig" betrachtet wie die militärische Rüstung, nationale Konflikte und volkswirtschaftliche Gleichgewichtsstörungen.
Mehr als die verabschiedeten Resolutionen gibt jedoch der gesamte Hergang des grünen Europaparlaments ein Bild vom derzeitigen Stand der grünen Vertretung in den Parlamenten und stellte wohl auch die Hauptattraktion für Teilnehmer und Presse dar. So fiel auf, daß die Abgeordneten aus dem Osten, die ja soeben aus den ersten freien Wahlen hervorgegangen waren, vor allem einen ungemeinen Nachholbedarf an "Öko-Wissen" (know-how) manifestierten: wie geht man mit der Vergiftung des Bodens, des Wassers und der Luft um? wie mit nuklear verseuchten Gebieten? wohin mit dem Plutonium? kann man nun wirklich auf Atomenergie verzichten, wenn man die furchtbar verschmutzenden Kohlebergwerke und Kohlekraftwerke loswerden will? Im Westen hingegen schlägt man sich stärker mit dem Dilemma Ökologie und Markt herum: Ökosteuern? Verursacherprinzip? Geld im Tausch gegen Natur? Und auch das Bedürfnis nach einer globalen Sicht der Ökologie als politisches Prinzip, das auch weit über den Umweltbereich hinausgeht, ist im Westen stärker entwickelt als im Osten. Wobei allerdings nicht zu übersehen ist, daß derzeit im Osten die neuentstandenen grünen Kräfte vielfach die einzigen sind, die nicht vor dem Markt und seinen Zwängen voll Anbetung auf den Knieen liegen, sondern sehr wohl wissen, daß "wir bisher unsere Nasen an die Schaufenster des Westens klebten, aber als Grüne auch hinter die Kulissen schauen wollen und uns keine Illusionen machen", wie es Lubica Trubiniova (vom slowakischen Parlament) formulierte.
Einen hohen Stellenwert nahm für die Vertreter aus dem Osten die nationale Frage ein, vor allem natürlich für die baltischen Abgeordneten, aber auch für Rumänen, Bulgaren, Tschechoslowaken usw. Manchmal wird den grünen Westeuropäern vorgeworfen, Nationalgefühl und Nationalismus allzuleicht in denselben Topf zu werfen, während umgekehrt die westlichen Grünen bei ihren östlichen Kollegen eine etwas naive Zuversicht in den Nationalstaat zu orten glauben.
Die volle Auswirkung der Katastrophe von Tschernobyl und ihre Bedeutung für die Abkehr vom Atomwahn konnte man ebenfalls beim grünen Europaparlament ermessen: während einer Sitzung traf die Nachricht ein, daß Anatolji Grischenko, der Hubschrauber-Pilot von Tschernobyl nach langem Leiden gestorben war, worauf mit einer ergreifenden Schweigeminute reagiert wurde.
Insgesamt ist jedenfalls allen grünen Volksvertretern Europas bewußt, daß das Zusammenwachsen Europas zu einer ökologischen Katastrophe führen kann, wenn ganz Europa den Konsumstandard des Westens übernehmen möchte und wenn die ökologischen Notstandsbegiete in Osteuropa nicht vorrangig saniert werden - beides ist nur durch Kooperation und beidseitige Selbstbeschränkung möglich.