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Seid nur ja klug...Tugend oder Feigheit? "Nur immer vorsichtig..."

1.10.1965, Offenes Wort - Oktober 1965
Es gibt vier Kardinaltugenden, eine davon ist die Klugheit. Ich glaube aber, wenn es vier "Kardinalfehler" gäbe, wäre auch die "Klugheit" darunter! Warum?

Vielleicht sehen wir uns diese sogenannte Klugheit vorher an; vor allem einmal erinnert sie an Spießbürgertum, an Mittelmäßigkeit, an Gewohnheit und Denkfaulheit, an Feigheit, um es schonungslos zu sagen. Ich glaube auch, daß wir diese "Tugend" viel zu oft üben, viel zu sehr hervorheben. Denn diese "Klugheit" soll uns dann vor dem Evangelium, der Frohen Botschaft Jesu Christi entschuldigen.

Was meine ich damit? Soll das heißen, daß ich Kopflosigkeit anpreise? Versuchen wir es mit einem Beispiel. Ein Autofahrer sieht am Straßenrand ein umgestürztes Auto liegen. Er könnte halten und sehen, ob vielleicht noch Menschen darin sind. Aber - wahrscheinlich hat sowieso schon jemand die eventuellen Verletzten abtransportiert, wahrscheinlich zerstört er dabei wertvolle Spuren und zum Schluß riskiert er es noch, als Zeuge vor Gericht zu enden. Nein, danke, ohne mich. Und er fährt weiter. Klug, nicht? -- Oder: eine Zigeunerfamilie bittet um etwas zu essen. Aber - die "Klugheit" sagt mir, daß diese Zigeuner nur eine Gelegenheit zum Stehlen aussuchen wollen, daß sie in Wirklichkeit Geld genug haben, daß ich womöglich mein Geld an Unwürdige verschwende; nein, nein, man ist schon besser klug und vorsichtig! -- Oder: eine andersgläubige Familien, die in Not ist, bittet mich um Hilfe, ob ich nicht den Sohn im Geschäft anstellen kann? Nein, da ist schon besser, man verhält sich wieder einmal klug, man weiß ja nie, ob er nicht womöglich Bekehrungsversuche mit mir anstellt. Und so weiter!

Diese "Klugheit", diese schöne Tugend, hat auch Feinde; die Heiligen zum Beispiel. "Mäßigt euch", muß sie ihnen, besorgt um ihr Heil, zurufen, "mäßigt euch, ihr beschwört ja eine Revolution herauf!" Ja, vor einer Revolution der Liebe muß diese Klugheit berechtigterweise große Angst haben. Denn da könnte sie - vom Fach der Tugend ins Fach der Laster wandern. Da könnte sie plötzlich nicht mehr als "gutbürgerlich, wohlanständig und herkömmlich" gelten, sondern als feig, unchristlich und verantwortungslos.

Diese "Tugend" hat eine große Zahl von Anhängern, und sie wird überall, in allen Kreisen geübt. Sogar in der heiligen Kirche Gottes. Da kommt so ein junger Priester und schlägt vor, auch die verkommenen Familien, die in schwerer Sünde leben, aufzusuchen. "Um Gottes willen, seien Sie doch klug, Sie geben den gut christlichen Bürgern und Vereinen ja Ärgernis!" Und diese "Tugend" ist für den Feind alles Guten ein tüchtiger Kampfgenosse. Sollte man ihr vielleicht das vorwerfen? Ich glaube, das wäre unnütz, denn sie würde beleidigt antworten: "Mich kannst du nicht meinen!" Aber diese Klugheit, die so oft geübt wird und in so vielen Fällen als lächerliche Ausrede dienen soll, wenn die Forderungen des Evangeliums umgangen oder abgemildert werden sollen, hat auch eine Eigenschaft, an der man sie sofort erkennt: wo sie auftaucht, zieht sich das Göttliche zurück, um dem Spießbürgerlichen und Feigen Platz zu machen. Wo sie auftaucht, räumt die Liebe traurig das Feld: "wegen Unvereinbarkeit dieser beiden Tugenden" heißt es dann. Der hl. Paulus hat sich offenbar geirrt, wenn er die Liebe als die größte Tugend bezeichnet hat.

Und noch jemand hat sich geirrt, noch jemand ist ein ständiger Vorwurf für diese "Klugheit", obwohl sie es nicht wahrhaben will. Da lebt nämlich um die Zeitwende in Palästina so ein Draufgänger, der dieser "Tugend" ein Dorn im Auge ist. Dieser Mensch, Jesus nannte man ihn, führte nämlich ein Leben, das im ständigen Widerspruch zur "Klugheit" stand: bitte, kann man antworten, er hat auch draufgezahlt! Warum war er so unvorsichtig. Dieser Herr Jesus, mit dem Beinamen Christus, riskierte unglaublich unkluge Dinge: zum Beispiel versuchte er seine lieben Mitbürger in Nazareth zu überzeugen, daß das Reich des Messias anders aussah, als sie es erwarteten: er verkündete da hoch- und staatsverräterische Sätze, die äußerst gefährlich klangen, er versprach den Gefangenen Erlösung, den Blinden das Augenlicht, sagte, daß das Heil auch Menschen offenstand, die ihre Abstammung nicht von Abraham herleiteten und erklärte den anwesenden Herren und Damen, daß er ihre Bereitschaft, den Gesalbten Gottes zu empfangen, nicht gerade außerordentlich fand. Was geschah? Die klugen Bürger sahen ein, daß sie es mit einem Schwärmer oder gar Revolutionär zu tun hatten, gerieten in Wut, daß einer an der alten, klugen Ordnung zu rütteln wagte, und erachteten es in ihrer Klugheit als das Beste, diesen gefährlichen Herrn Jesus, noch dazu einer aus ihrer friedlichen Stadt, den Berg hinabzustürzen. Auch dieser Herr Jesus, von dem wir sprechen, gab es auf, mit solcher "Klugheit" zu diskutieren, er tat das einzig Richtige; er ging mitten durch sie hinweg (Lk 4,14-30).

Wollte nun dieser Herr Jesus mit der "Klugheit" unserer Tage diskutierten, so könnte er ja einmal versuche, einige seiner Thesen zu wiederholen: "Ich bin gekommen, Feuer auf Erden zu werfen, was will ich denn anders, als daß es brenne?" - Er könnte seine Pharisäerpredigt wiederholen, könnte seine Worte über die Liebe, seine Wehe über die Reichen wiederholen, und auf die Antwort der "Klugheit" warten. Die "Klugheit" würde zuerst versichern, wie gut christlich sie sei, und dann sagen: "Aber Herr Jesus, was sagen Sie da? Das klingt ja direkt kommunistisch! Wissen Sie denn nicht, daß unser Herr Pfarrer gesagt hat, wer so denkt, ist unklug und irrgläubig? Er sagt immer, wir sollten uns solchen Ideen gegenüber nur recht klug verhalten!" Und der Herr Jesus von Nazareth müßte aber auch seinen Freunden sagen: Nehmt euch in Acht vor dieser "Klugheit", sie ist das Werkzeug meines Feindes! Draufgänger brauche ich, mit "Klugen" dieser Art kann ich nichts anfangen. - Denn ein solcher Kluger würde es ohne weiteres riskieren, daß sein Mitmensch in die Verdammnis geht, nur um nicht womöglich als unklug und vorwitzig zu erscheinen, wenn er ihm rechtzeitig etwas sagte. Ein solcher Kluger würde es auch riskieren, daß so und so vielen Menschen in Not nicht geholfen würde, nur weil er mit der Überprüfung ihrer Dokumente, Krankenschein, Armutszeugnis usw. noch nicht fertig geworden ist. Denn es wäre ja unklug zu helfen, ohne genauestens festgestellt zu haben, daß dieser Mensch wirklich verhungert, wenn ich nicht sofort helfe.

Eines vergißt diese "Klugheit", die sich vor Revolutionen fürchtet, die sich feige überall zurückzieht und sich nur auf gesicherten Boden wagt, die sich den Deckmantel der Tugend umhängt und überall, auch in der heiligen Kirche Gottes, Unterschlupf sucht und findet, die sich nicht scheut, sich sogar "christlich" zu nennen: sie vergißt, daß der unkluge Herr Jesus der menschgewordene Gott war und als solcher lebt und herrscht, auch in unserer vorsichtigen und "klugen" Zeit, auch über diese Leute, die im Namen der "Klugheit" auf sein Hauptgebot vergessen, die Liebe ignorieren!

miles
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