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Gedanken über "Wahrheit"

1.4.1968
Wenn im folgenden über "Wahrheit" gesprochen wird, liegt der Verdacht nah, daß ich Metaphysik betreiben möchte. Aber nichts ist mir ferner als eine derartige Absicht. Ich möchte nur versuchen, einen Beitrag zum besseren Selbstverständnis des Menschseins in unserer Zeit heute zu geben. Vielleicht kann man es einen Versuch kultureller Interpretation nennen.

Aber eben nur ein Versuch, nichts mehr.

Die "alte Wahrheit"

Es gab eine Zeit - und sie ist noch keineswegs ganz und überall zu Ende gegangen -, da die Wahrheit als etwas Objektives angesehen wurde, als das Erkennen der Dinge, wie sie in sich sind und welches ihr eigentliches Wesen ist. "Adaequatio mentis ad rem" nannte sich solches Bemühen und brachte als stolzes Ergebnis "Objektivität" - eben Wahrheit schlechthin - hervor. Zeitlos gültige Gesetze, die man einfach Naturgesetze nannte und der menschlichen Natur als angeborene Wesenseigenschaften zuschrieb, regelten das Denken auf der Suche nach der Wahrheit, und bildeten das Werkzeug, das jeder Wahrheitssuche zugrunde zu liegen schien. Gewöhnlich nennt man es Logik, wenn ich mich noch recht erinnere.

In der Rangordnung der "Wahrheiten" (des Inhaltes solcher Erkenntnis) behaupteten philosophische, metaphysische Aussagen oftmals den ersten Platz: sie gaben über die "Natur der Dinge" Auskunft und wurden meist spekulativ, doch stets unter Wahrung der Logik und ihrer Gesetze, erarbeitet. Wissenschaftliche "Wahrheiten" machten ihnen später den Rang streitig, da sie einerseits leichter nachprüfbar schienen und andererseits in den Augen vieler Menschen größeren Nützlichkeitswert besaßen. Besonders die praktisch veranlagten Völker und Denker (z. B. Engländer) gaben solchen "Wahrheiten" häufig den Vorzug. Jedenfalls hatten solche Aussagen den Vorteil, experimentell nachweisbar zu sein und zu exakten, also meßbaren und häufig auch wiederholbaren Ergebnissen zu führen. Unter einem anderen Blickwinkel wieder befand sich eine weitere "Wahrheit", diesmal allerdings nicht mehr des Seins, sondern des Sollens: ich spreche von der "Norm-Wahrheit" des Rechts, jedes objektiv gültigen und allgemeinen Gesetzes.

Solche Wahrheiten hatten vieles gemeinsam: sie waren "dogmatische", eindeutige und festgelegte Aussagen, die beanspruchten konnten, von allen geglaubt oder erkannt zu werden, der sich von der richtigen Logik führen ließe. Der Verstand konnte die vernünftige und zuverlässige Grundlage liefern, und die Aussagen selbst befanden sich in einer Sphäre allgemeiner und ziemlich unanfechtbarer Gültigkeit, außer Zeit und Raum und unabhängig davon, ob sie jemand glaubte oder nicht. Sie blieben dennoch wahr, und meistens galten sie als umso wahrer, je weniger sie geschichtlich bedingt waren (etwa vom erkennenden Menschen, von Zeitumständen usw.). Andernfalls hätten sie sich vielleicht den Vorwurf der Veränderlichkeit oder gar des Opportunismus zugezogen, der doch mit dem Begriff "Wahrheit" per definitionem unvereinbar schien. Denn entweder ist etwas wahr oder es ist nicht wahr. Tertium non datur, konnte man vielleicht noch aus dem scholastischen Hintergrund einer solchen Wahrheit hören.

Vielleicht führten solche "Wahrheiten" dazu, daß sich der Inbegriff "der" Wahrheit nach ihrem Bild und Gleichnis formte, so daß sich andere Arten von Wahrheit sich ihnen anglichen: sogar Glaubenswahrheiten (die vielen als irrationell par excellence scheine mögen) paßten sich an und wurden zu rationellen, eindeutigen, zeitlosen und eben dogmatischen Wahrheiten. Das gab eine gewisse Sicherheit und fügte sich trefflich ins Denksystem.

Selbst Erfahrungswahrheiten und überhaupt geschichtliche Wahrheiten ("wie hat es sich zugetragen?, was ist vorgefallen?'") wurden in solche Schemata gezwängt, obwohl sie sich - losgelöst von Zeit und Raum - darin bestimmt nicht wohl fühlten. Und wie kann man sich wundern, wenn in konsequenter Weise alles ausgeschaltet wurde, was nicht dazupaßte? Es ist klar, daß ein solches Denken überall dort Gefahr witterte, wo irgendwelche Faktoren die erstrebte Objektivität und allgemeine Verbindlichkeit in Frage stellten. Derartige Elemente mußten aus dem Wahrheitsbegriff und auch vom Wege, der zur Wahrheit führt, möglichst restlos geräumt werden. Ganz gleich, ob es sich dabei um psychische Erscheinungen des Erkennenden, um Ansichten oder Überzeugungen handelte: es kam doch nur Verwirrung heraus und es war ja allbekannt, daß keine wie immer geartete "Erscheinung" das "Wesen" in Frage stellen durfte. Wer wird schon dem Phänomen nachjagen, wenn er das "Ding an sich" sucht? Und wer wird sich auf dem Weg zur Objektivität von Faktoren aufhalten lassen, die er mitleidig als "subjektiv" (und damit unzuverlässig) klassifiziert?

Es lohnt sich, noch einen Blick auf den reichen Wortschatz zu werfen, der solche Wahrheiten begleitete und eine guten Begriff von ihnen zu vermitteln vermag. Die schon mehrfach genannte Objektivität, garantierte Sicherheit, allgemeine Zuverlässigkeit und Absolutheit der Wahrheit. Sie gefiel sich in Norm, in Endgültigkeit und eindeutiger Festlegung, fand sich jeweils "in sich", "an sich" oder "an und für sich" und kam damit auf das Wesen der Dinge. Darum hielt man sie auch für ewig und zeitlos und jedenfalls für unveränderlich, weil ja endgültig. Dogmatische Denkart zog die Deduktion der analytischen und bescheideneren Induktion meist vor, wenn es sich um die Wahl einer Untersuchungs- und Denkmethode handelte. Und nicht zuletzt entstammt dieser Haltung auch die so häufige Neigung, die Wahrheit vor allem zu bewahren, zu verteidigen und mehr oder weniger einseitig - auch auf die Gefahr hin, ungehörte Monologe zu halten - zu behaupten. Kann doch eine in sich wahre Wahrheit nicht von der Zustimmung eines anderen abhängen!

Das bisher beschriebene Wahrheitssystem ist vielleicht vor allem Frucht des mittelalterliche, scholastischen Denkens und noch mehr wohl des neuzeitlichen Rationalismus, doch spielen bestimmt auch viele andere Faktoren mit hinein (das Erbe der klassischen, vor allem griechischen Antike z. B.). Im Laufe der Zeit ist es ihm gelungen, auch widersprüchliche Elemente in einer einzigen Kultursynthese zu vereinen: so fand beispielsweise der mit echter Objektivität unvereinbare Autoritätsglaube ein Plätzchen im System (bis es ihn verscheuchte) und sogar die jüdisch-christliche Religion ließ sich mit einbauen. So verpackt hielt das Gebäude viele Jahrhunderte, und ist noch nicht zerfallen.

Wir wären Heuchler, wenn wir in den bisher angeführten Worten und Begriffen nicht wenigstens einen bescheidenen Zug unsere Geisteshaltung wiederfänden. Denn mir schient, daß dies "alte Wahrheit" mit dem ihr verbundenen Denksystem die geistige und vielleicht auch psychische Mentalität zahlloser abendländischer Generationen (auch der unseren noch) wesentlich geprägt oder mitgeprägt hat. Mögen wir vielleicht auch über das eine oder andere Wort in unserem "Vokabular der alten Wahrheit" lächeln, so dürfen wir nicht vergessen, daß alle genannten Begriffe eng und unlöslich miteinander verbunden sind. Und daß eine solche "Wahrheit" für viele Menschen (besonders in unseren Breiten) noch eine ernste Versuchung darstellt und sie vielleicht manchem gefiele, ist wohl unleugbar. "Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein."

"Alte Wahrheit" in Krise

Ich will nun keinesfalls der "alten Wahrheit" den Prozeß machen, hat sie doch einer Kulturform der Menschheit weithin entsprochen und damit ihre geschichtliche Rechtfertigung durchaus gefunden.

Viel eher ist eine Besinnung in unserer Zeit nötig, denn wir spüren förmlich die Fragwürdigkeit einer derartigen Anschauung für heute. Und es ist nicht damit getan, die Krise einfach zu leugnen oder gleichgültig daran vorbeizugehen: damit bliebe man hinter der zeitgenössischen Kultur weit zurück.

Darum will ich versuchen, die Krise der "alten Wahrheit" näher zu untersuchen. Vielleicht kann man dann besser verstehen, warum der alte Begriff der statischen Wahrheit heute nicht mehr entspricht.

Eine erste Bemerkung mag die sein, daß schon mit dem Aufkommen des wissenschaftlichen Denkens überhaupt das alte Wahrheitssystem in Krise geraten ist (und wir wissen, wie es reagierte - siehe Galilei - Prozeß). Doch hat sich merkwürdigerweise schon bald die neue Denkart mit der alten durchaus integriert, so daß ein noch vollkommeneres und wesentlich rationelleres System herauskam. Heute aber bemerkt man immer mehr, daß Objektivität oft nur ein statistischer Begriff war und sich die Ausnahmen mehren. Zudem scheint auch die sogenannte Objektivität bedingt zu sein: sogar die Wissenschaft schränkt ihre Aussagen auf die "gegebenen Umstände" ein. Dazu kommt, daß sich im Lauf der Geschichte schon manche "Wahrheit" geändert hat oder überhaupt untergegangen ist, obwohl Menschen für oder wider sie gekämpft haben, sie intolerant verteidigten und vielleicht auch für sie starben. Dies aber widerspricht der objektiven, universellen Natur der alten Wahrheit: und trotzdem hat es immer wieder Menschen gegeben, die sich für entgegengesetzte, angeblich genauso wahre und evidente Wahrheiten geschlagen haben. Kein Wunder, daß bei reiferer Überlegung sich ein leiser Zweifel einschleicht. Zumindest wird man sich fragen, ob es sich lohnte; tiefer geht die Frage, welche Wahrheit denn letztlich wahr sei.

Auch die Vernunft, auf deren Grundlage das Gebäude der alten Wahrheit stand, scheint nach den Fortschritten der Wissenschaft und besonders der Psychologie nicht mehr so zuverlässig. Perfekte Rationalität hätte nach alter Regel zu perfekter Erkenntnis führen müssen. Der Haken an der Sache war, daß niemand wußte, wie die perfekte Rationalität aussah, und daß selbst klare und scheinbar eindeutige Ergebnisse strittig sein konnten. Außerdem hat die Kenntnis der zahlreichen irrationalen Einflüsse, denen auch die Vernunft unterworfen ist, das Vertrauen in sie stark erschüttert. (Daß es heute noch Rationalisten gibt, kann meine Behauptung nicht erschüttern.) Wenn sogar die exakte Wissenschaft einer "Unschärferelation" Platz macht, um wieviel mehr muß dann auf anderen Gebieten der Zweifel aufsteigen, ob es eine "reine", rationelle, logisch erkannte und sichere Wahrheit gibt?

Außerdem vergaß die "alte Wahrheit" mit ihrem System allzuleicht den Menschen, der sie erkannte: vielleicht konnte sie deswegen auch von der Tatsache absehen, daß jeder Mensch in vielfacher Weise geschichtlich, erfahrungsmäßig, psychisch, moralisch und noch anderweitig bedingt ist. Eine Wahrheit aber, die umso wahrer ist, je mehr sie den Menschen ausschaltet und die in ihm vorwiegend eine Fehlerquelle sieht, ist heute notwendig in Krise.

Darüber hinaus hat sich gezeigt, daß die Ereignisse, die geschichtlichen Vorkommnisse, auf die Wahrheit größten Einfluß nehmen. Nicht nur gehen und kommen im Lauf der Geschichte verschiedene Wahrheiten, sondern verschiedene (im weitesten Sinn) geschichtliche Umstände prägen auch verschiedene Wahrheiten. Wenn ein Blick auf die Philosophiegeschichte nicht überzeugend genug wäre, braucht man nur an unsere Zeit zu denken. Nach der "alten Wahrheit" kann auch eine Atombombe oder ein Weltkrieg an der Wahrheit "an sich" nichts ändern: unsere Erfahrung aber sagt uns, daß auch in bezug auf die "Wahrheit" unser Denken heute von Atombombe und Weltkrieg nicht mehr absieht.

So scheinen mir die wichtigsten Gründe für die Unzulänglichkeit der "alten Wahrheit" für heute vor allem folgende: sie vergaß den Menschen und war ungeschichtlich, und deshalb statisch. "Und diese drei sind eins."

Jagd nach dem Phantom

Vielleicht fragen wir uns jetzt beunruhigt: ist es denn überhaupt noch eine eindeutige, objektive, sichere, absolute, unveränderliche, universelle ... Wahrheit? Oder müssen wir einem gänzlichen oder unheilbaren Agnostizismus (noch einmal metaphysischer Art) verfallen?

Ich glaube, daß die Frage in dieser Form schlecht gestellt ist, und auch darin Zeugnis gibt, wie sehr wir noch im alten Denken verwurzelt sind. Ob es "die Wahrheit" oder "eine Wahrheit" schlechthin gibt, läßt sich wohl nicht beweisen, und bleibt also der freien Entscheidung des einzelnen überlassen: man mag es Glauben nennen, oder - wenn einem das nicht gefällt - Postulat.

Hingegen scheint es nun doch seit so manchen hundert Jahren allgemein bekannt zu sein, daß es eine Wahrheit geben mag oder nicht, daß man sie aber jedenfalls nicht erkennen kann. Vor allem in jenen Gebieten kann man sie nicht erkennen, wo der Mensch sein eigentliches Menschsein richtig aufs Spiel setzt, wo es um seine Freiheit geht, um seine Verantwortlichkeit. Die Wahrheit Gottes und des Menschen, der zwischenmenschliche Beziehungen, der Gewissensentscheidungen und Überzeugungen: das sind die großen Wahrheiten. Und gerade diese sind von der Krise am meisten erfaßt.

Wenn wir hingegen darauf bestehen wollten, die Wahrheit an sich zu finden, entspräche unsere Haltung in kulturellem Sinn einer mittelalterliche oder aufklärerisch-rationalistischen Einstellung: sie bleibe im ungeschichtlichen Absolutheitsanspruch hängen. Auch ein solcher Anspruch läßt sich verstehe, doch ist er heute unzeitgemäß: er entspricht einem typischen Sicherheitsbedürfnis, das nach einer "zwingenden Wahrheit" sucht, zu der sich zu bekennen nicht mehr schwer wäre. (Die Mathematik im alten Sinn war das klassische Beispiel: 2+2=4, diese Wahrheit verlangt keine Gewissensentscheidung.) Doch haben wir schon gesehen, daß die Jagd nach dem Phantom "Ding an sich" nicht nur erfolglos und ungeschichtlich ist, sondern auch den Menschen durchaus vergißt: sie scheint nur Augen für die Wahrheit selbst zu haben und vergißt dabei ganz ihren "Beschauer". Dabei müßte uns doch der Mensch in seinem konkreten Dasein viel näher stehen als eine an sich schon fragwürdige Wahrheit.

Außerdem suche ich nach einer Wahrheit, die mich ganz in meiner Zeit leben läßt und ihr entspricht, die also in der Geschichte meiner Tage verwurzelt ist. Das ist mir wichtiger als zeitlose Gültigkeit. Deshalb soll es mich nicht wundern, wenn an die Stelle des alten Wortschatzes gegenteilige Begriffe treten, die zwar viel bescheidener und bestimmt beschränkter klinge, aber dafür brauchbarer scheinen. Die Unsicherheit ist heute an die Stelle der früheren Sicherheit getreten: haben wir also den Mut auch zur Subjektivität, zum Wagnis unserer Freiheit, zur Vorläufigkeit und bloßen Wahrscheinlichkeit unserer "Wahrheiten". Es soll uns nicht stören, daß unsere Wahrheiten statt "absolut" hundertmal bezogen und bedingt sind, daß sie an der Erscheinung stehen bleiben und das "Wesen" vielleicht gar nicht finden, daß sie auf Unveränderlichkeit verzichtet haben und sich mit der Zeit und der Geschichte ändern, daß sie deshalb im Dialog besser als in einseitigen Predigten gesucht werden und mit dem alten Dogma nichts mehr anzufangen wissen. Es werden dafür induktive und erarbeitete Wahrheiten sein, ständig der Suche und dem Überdenken und selbst der Revision ausgeliefert: letztlich nicht mehr allein der Logik verantwortlich, sondern vor allem der freien Entscheidung des Gewissens. Es werden also Wahrheiten sein, die mit Widerspruch rechnen und ihn dulden.

Vielleicht läßt sich eine solche Art von Wahrheit leichter finden.

Bausteine zu einer "neuen Wahrheit"

Die Unerkennbarkeit der Wahrheit "an sich" scheint mir ein guter Ausgangspunkt. Dafür brauche ich aber etwas anderes: eine Wahrheit nicht mehr "an sich" oder "in sich", sondern eine Wahrheit "für mich". Denn wenn sich mir die Wahrheit "an sich" nicht öffnet, muß sie Wahrheit für mich werden .darum frage ich nicht mehr, ob etwas "an sich wahr" ist, sondern suche, es "für mich wahr" werden zu lassen oder nicht. Qualitativ handelt es sich um eine ganz andere Wahrheit: sie sieht nicht mehr nur das "Ding", sondern auch den "Beschauer", und gibt diesem den Vorrang. Sie läßt zwar die (schon vorher diskutable) Sicherheit liegen, tut aber den Schritt ins Wagnis, in die Freiheit, und damit in schöpferische Menschlichkeit. So ist der Mensch nicht mehr bloß der Archivar vorgegebener Wahrheiten, sondern hat Teil an ihrem Bau. Die "alte Wahrheit" war äußerlich orientiert: ihre Kriterien der Objektivität und Verbindlichkeit waren durchaus außer dem Menschen und von ihm unabhängig. Heute ist auch das in Frage gestellt; eine Wahrheit, die nicht auch im Menschen wahr wird, befriedigt nicht mehr.

Vielleicht gelingt es, eine Reihe von Bausteinen für eine "neue Wahrheit" zu sammeln. Vor allem schient mir, daß die Persönlichkeit des Menschen ganz wesentlich dazugehört: der Charakter, die Psyche, die Erfahrung, Entscheidungen und Überzeugungen, zwischenpersönliche Beziehungen usw. Das zweite Grundelement dieser Art von "Wahrheit" scheint mir nun schon klar: die Geschichte. Geschichte ist all das, was sich ereignet; die Zeit und der Raum; all die Umstände, die darauf und auf uns einwirken. Und unsere Art, die Geschichte aufzunehmen, denn auch die Geschichte darf nicht "Geschichte an sich" bleiben, sondern muß Geschichte "für uns" werden, um auf "unsere Wahrheit" zu wirken. So muß also vor allem jede "Wahrheit" Ereignis für mich werden, andernfalls läßt sie mich kalt und wird für mich nicht wahr. Solange mich eine "Wahrheit" nicht berührt, nicht "in mir" wahr wird, bleibt sie mir fremd und wirkt nicht auf mich.

Zwei Sätze mögen das Ergebnis dieser Überlegung zusammenfassen: Jede Wahrheit muß für mich Wirklichkeit werden, sonst kenne ich sie nicht. Jede Wahrheit "für mich" - also jede Wahrheit, die ich überhaupt noch anerkenne - ist Beziehung.

Wahrheit und Freiheit

Jetzt handelt es sich darum, die Folgen dieses schwerwiegenden Schrittes zu untersuchen, und das wird bestimmt nicht leicht sein (deshalb verzeihe man mir auch eine gewissermaßen "unlogische" Reihenfolge). Von einer Wahrheit an sich habe ich mich zur Wahrheit für mich gewandt: wahr ist für mich nur das, wozu ich in irgendeiner Weise Beziehung gefunden habe, sei es direkt (Anschauung z. B.), sei es über andere oder durch Lektüre z. B. Es gibt also nur mehr ein Mittel, Menschen wie mich einer Wahrheit nahezubringen: Beziehung herzustellen zwischen mir und der "Wahrheit". Doch ist es klar, daß nicht jede Tatsache, Aussage oder vor allem Person, mit der ich in Beziehung trete, für mich in gleichem Maße wahr werden kann: nicht jede Beziehung ist gleichermaßen Ereignis, somit ist nicht jede Wahrheit gleichermaßen wahr. Ein mir lieber Mensch ist für mich ungleich wahrer als z. B. der Mond, obwohl nach der "alten Wahrheit " die Existenz des Mondes etwas weitaus Objektiveres als eine zwischenmenschliche Beziehung ist. (Überhaupt hat es unter "Wahrheiten an sich" keine Rangordnung gegeben, was ihr Wahr-sein betrifft; höchstens ihre Wichtigkeit kann man abstufen. Mir geht es nun nicht mehr um das "Wahr-sein" - das wäre Metaphysik -, sondern nur mehr um die Beziehung.) Ich spreche also von wahren und weniger wahren Wahrheiten.

Die Geschichtlichkeit der Wahrheit gewinnt also eine ganz besondere Wichtigkeit: wenn Wahrheit Beziehung ist, so ist sie "hic et nunc" wahr, "rebus sic stantibus" (auch hier ist die Terminologie noch der "alten Wahrheit" und ihrem Wörterbuch entliehen). Die Vorläufigkeit meiner Wahrheit macht sie perfektionierbar, und überhaupt in jeder Hinsicht veränderlich, so wie jede Beziehung veränderlich ist, wenn ein Mensch daran teil hat. Doch ist meine Wahrheit nicht nur im gewöhnlichen Sinn Geschichtlich, sondern hat auch noch ihren "kairós", ihren eigentlichen Zeitpunkt, in dem sie für mich bedeutsam ist. Die Wahrheit wird in einem ganz bestimmten Zeitpunkt für mich wahr, d. h. Erlebnis: eine vielleicht früher gewonnene Beziehung - Wahrheit - mag in diesem Augenblick brachliegen, und ist also wenig erheblich, wenig wahr. Eine andere Wahrheit hingegen ist mir gerade jetzt - in diesem "kairós" - in meine Existenz eingetreten und mir wichtig.

So scheint mir, daß jede Wahrheit ihren Zeitpunkt hat: im Leben des Einzelmenschen und der Menschheit schlägt man sich oft um "Wahrheiten", die man wenige Jahre später als unerheblich ansieht: ihr "kairós" ist vorüber. Hier liegt vielleicht einer der Angelpunkte der Kultur überhaupt: auch die Kultur muß aus der geschichtlich gerade existenzgewordenen Wahrheit leben, sonst wird sie museal und stellt eine Flucht aus der Geschichte dar.

Auch der einzelne Mensch muß m. E. voll den gegebenen Augenblick der Gegenwart leben, nur darin findet seine Wahrheit die Chance, Wirklichkeit zu werden, und nur darin stellt sich Beziehung her. Darum gehen die "Zeichen der Zeit" an meiner Wahrheit nicht spurlos vorüber, und darum ist "meine" Wahrheit von heute nicht die gleiche von gestern und von morgen. Wahrheiten, die ich "bewahren" möchte, kann ich nur retten, wenn ich zu ihnen eine derart starke und existentielle Beziehung gewinne, daß sie mir "wesentlich" oder besser aktuell bleiben; in solchen Fällen kann die Wahrheit aus Beziehung sogar Bündnis werden (die Bibel liefert in der Geschichte Abrahams ein herrliches Beispiel). Aber immer handelt es sich um eine zweiseitige Beziehung: die geforderte Unveränderlichkeit der Wahrheit an sich gibt keinerlei Gewähr für bleibende "Wahrheit".

Schon bis hierher ergeben sich eine weitere Reihe von Folgen, obwohl mir diese Art von Wahrheit noch sehr unvollständig beschrieben scheint. Aber schon ist klar, daß sie damit aus dem Bereich der zwingenden Evidenz und überhaupt der verstadesmäßigen Erkenn- und Beweisbarkeit heraus das Feld des Vermutbaren und damit des Bestreitbaren betrifft: noch einmal zeigt sich, daß die Wahrheit kaum mehr einfach der Logik zugerechnet werden kann, sondern nunmehr in der Freiheit ihren hauptsächlichen Bezugspunkt findet. Damit entzieht sie sich auch der Herrschaft des Elektronengehirnes, das hingegen für die "alte Wahrheit" eine herrliche Erfindung sein müßte.

Selbstverständlich kostet der Schritt in die Freiheit: damit geht auch die Sicherheit dahin, und wer seine Sicherheit nicht in einer dauernden "Wahrheit" - in jener Beziehung, die Bündnis wird - findet, ist tatsächlich zur Unsicherheit verurteilt. Unsere Zeit beweist uns das klar genug. Viele Menschen sind auf der Suche nach einer beziehungsgewordenen Wahrheit, auf die sie ihre Existenz aufbauen können: und für manchen erweist sich die einmal ausgesuchte Wahrheit schon bald als nicht wahr genug. Zugleich zeigt sich, daß nur mehr "unerhebliche" - also "wenig wahre" Wahrheiten - unverbindlich erkannt oder geglaubt werden können. Nur wenn ich eine wenig menschliche (deswegen unerhebliche) Wahrheit erfahre, kann sie ohne Folgen auf mein Dasein bleiben.

Die echt menschlichen Wahrheiten hingegen verlange, daß wir ihnen unsere Existenz öffnen, andernfalls können wir nicht "Wahrheitserfahrung" erleben: sie brechen in uns ein und vollziehen sich in uns in einer Weise, die uns existentiell mitprägt; dabei kann es sich um Wahrheiten mitmenschlicher Beziehungen oder glaubensmäßiger Überzeugung handeln, um Ideologie oder um Gefühl, um Philosophie oder psychisches Erleben usw. Wenn Wahrheit wirklich Beziehung, Erlebnis, Ereignis, Erfahrung und Wirklichkeit ist, dann hinterläßt sie in unserem Dasein ihre Spur.

Begegnung verschiedener Wahrheiten

Ferner kann ich nun behaupten, daß mit einer so verstandenen Wahrheit die Wahrheitsquellen und somit "Wahrheitskriterien" ungeheuer zunehmen. Es kann kein "Organon" mehr geben, das eine einheitliche Methode zur Wahrheitsfindung beschreibt, denn existentielle Beziehung und Erfahrung kennt keine Regeln. Darum ist die Wahrheit eines Paulus, der "weiß, wem er geglaubt hat", nicht weniger wahr als die eines Wissenschaftlers, der gesehen hat, was er als wahr ansieht. Ebensowenig wie ich das "Ding an sich" (das nooúmenon) kenne, kann ich ein einheitliches und objektives Phänomen (phainómenon) anerkennen: meine "Wahrheit" ist, was mir als Phänomen (phainómenón emoi) erscheint und was ich erfahre oder glaube. Dabei kann ich weder eine Beziehung einfach übernehmen, die andere vielleicht erlebt haben, noch eine zu mir beziehungslose Wahrheit akzeptieren. Doch darf ich nicht beanspruchen, meine Wahrheit als auch für den anderen verbindlich zu verstehen. Es ist deshalb unmöglich, vorauszusehen oder vorzuschreiben, welche Wege zur Wahrheitsfindung in diesem Sinne gegangen werden könne oder dürfen. Das hieße, die menschliche Unberechenbarkeit und Freiheit zu beschränken. So kann man z. B. keineswegs mehr behaupten, daß emotionale Zustände dem Menschen nicht auch eine Art "wahrer" Erfahrung vermitteln. Oder z. B. folgendes Wahrheitskriterium, das im überlieferten Sinne als ketzerisch anzusehen wäre: wer glaubt an diese Wahrheit, was macht er daraus?

Auch ist es äußerst problematisch, ob man - wie bisher - behaupten kann, daß eine Wahrheit wahr bleibt, ganz gleich, ob man an sie glaubt oder nicht, ganz gleich, wer sie kennt und lebt. Wahrheit in meinem Sinne stirbt, wenn sie nicht mehr gelebt und geglaubt wird.
Auch eine Wahrheit kann tot oder lebendig sein: ich bin überzeugt, daß für mich nicht alle Wahrheiten gleichermaßen lebendig oder vital sind, auch unter denen ,die "für mich" wahr geworden sind.

Natürlich liegt nun aber ein scheinbar unüberwindlicher Einwand in der Luft: wenn jeder also "seine" Wahrheit hat und sie findet, wie er will (vereinfachend), dann gibt es ja eine Unzahl von Wahrheiten. Wie soll man sich da noch zurechtfinden?

Zuerst will ich versuche, das Echte an diesem Einwand vom Unechten zu sondern. Unecht scheint mir die schon mehrfach erwähnte Sorge um die geistige Sicherheit: nicht daß sie "in sich" verlogen wäre, nur hat sie heute keine Existenzberechtigung mehr, da sie einer überholten Einstellung entspricht und auf die Wirklichkeit moderner Kultur vergißt. Außerdem kann eine fragwürdige und nicht mehr entsprechende "Wahrheit" nicht den gangbaren Ausweg darstellen.

Echt hingegen ist die Frage nach dem Schicksal der Menschen, die in ihrer Geistigkeit zu je verschiedenen Wahrheiten gefunden haben. Denn tatsächlich besteht die Möglichkeit, daß jeder Mensch eine eigene und von den anderen verschiedene Wahrheit erlebt. Je mehr Menschen Freiheit, Eigenverantwortung und Kultur kennen, desto mehr werden zu einer "eigenen" Wahrheit finden.

Doch ist es hier noch einmal die Bemühung um den Menschen, die uns rettet. Schon vorher war einer der Gründe zur Ablehnung der "alten Wahrheit" die Vernachlässigung des Menschen, der darin keine Rolle spielen durfte. Und nun geht es darum, diese "neue Wahrheit" nicht soweit zu führe, daß sie sich nur mehr für Einzelbewohner vereinsamter Inseln eignet.

Was geschieht also, wenn verschiedene Wahrheiten einander begegnen?

Auch diese Frage ist falsch gestellt und entspricht einer überholten Auffassung. Nicht Wahrheiten begegnen einander, sondern Menschen, die Beziehungen erlebt haben. Natürlich hat sie jeder nach seiner Art erlebt (wir haben ja die Bausteine der Wahrheiten gesehen), doch ist viel Gemeinsamens in den Menschen. Schon das ergibt eine neue Wahrheit: die der gegenseitigen Beziehung. Diese neue Wahrheit setzt automatisch die anderen in Krise, denn der angesammelte Wahrheitsschatz kann nicht von der Wahrheit der neuen Begegnung absehen.

Die Begegnung "alter", also sicherer, objektiver und dogmatischer Wahrheiten führte notwendig zum Konflikt, weil ja jeder "Wahrheitsanspruch" erhob (nach altem Schema). Nicht zufällig ist die Geschichte der alten Wahrheit eine Geschichte der Intoleranz und oft der Gewalt. Denn eine "objektive" Wahrheit mußte sich doch durchsetzen und auch eine gewaltsame Bekehrung konnte darin ihren Sinn finden.

Wenn sich aber relative, existentielle Wahrheiten gegenübertreten, besteht keinerlei Notwendigkeit mehr zum Kampf. Sie beanspruchen ja jeweils nur bezogene Gültigkeit, geschichtlich beschränkte und durch Erlebnis wirklich geworden Wahrhaftigkeit. Also ist Koexistenz durchaus möglich. Außerdem sind solche Wahrheiten nicht kämpferisch, da sie ja viel bescheidener sind als die alten: eine vorläufige, unvollständige, nur mehr wahrscheinliche und vor allem auf den Menschen bezogene Wahrheit kann nicht intolerant werden, ohne sich selbst zu verraten.

Doch bleibt es nicht bei der bloßen Koexistenz verschiedener (und gleichermaßen erlebter) Wahrheiten: wo Menschen sich begegnen, die für unsere Zeit ein richtiges Gespür haben, muß es zum Austausch kommen. Es stimmt, daß heute viele Menschen unter der fast völligen Unmöglichkeit gegenseitiger Beziehung leiden: das bedeutet, daß sie über ihre eigene Wahrheit und die Wirklichkeit ihrer Individualität nicht hinaussehen.

Mir aber scheint, daß ich auf keine Fall bei einer Wahrheit nur "für mich" stehen bleiben kann: damit liefe ich Gefahr, tatsächlich meinen Weg allein zu gehen. Aber dies schiene mir nicht nur unmenschlich, sondern auch - besonders heute - durchaus ungeschichtlich. Darum muß die Wahrheit "für mich" eine "Wahrheit für uns" werden.

Dabei denke ich aber nicht, einfachen den anderen "meine" Wahrheit zu verabreichen, denn schwerlich dürfte für sie eine vorgekaute und nicht selbst erlebte Wahrheit wirklich werden.

So vollzieht sich die Begegnung zwischen Menschen mit verschiedenen Wahrheiten, von denen jede unvollständig und stückhaft ist (auch der Integralismus der Wahrheit ist vorbei): aus einer anfänglichen Gegenüberstellung oder Problemsituation wird Dialog, der ohne weiteres auch eine Krise riskieren kann. Meistens wird die zwischenmenschliche Begegnung zu neuen Wahrheiten führe, zu neuen Entscheidungen. Auch das klingt für die Anhänger der alten Wahrheit ketzerisch: wenn eine Wahrheit vorher als wahr galt, darf sie nicht "nachgeben". Meine Wahrheit dagegen muß imstande sein, die neue Beziehung in das vorgegebene Bezugssystem zu integrieren, sonst wird entweder die Begegnung nicht wirklich (was oft der Fall ist, wenn wir glauben, daß uns jemand "nichts zu sagen" hat) oder meine vorhergehende Wahrheit bleibt unfruchtbar. Außerdem ist dialogische Begegnung zwischen Trägern verschiedener Wahrheiten die einzige Methode echter Gegenüberstellung in Liebe, oder Vergewaltigung menschlicher Persönlichkeit.

Eine in dieser Weise gemeinsam gefundene Wahrheit, die immer neuen Begegnungen ausgesetzt wird, ist viel "wertvoller" - und somit wahrer - als eine Wahrheit bloß "für mich". Sie erlaubt den Vollzug menschlicher Gemeinschaft, baut die stückhafte und "offene" Wahrheit immer weiter aus und setzt fortwährende Augenblicke der Liebe und menschlichen Sich-schenkens. Auch wenn keine neuen und gemeinsamen Wahrheiten herauskommen sollten, ist die Wahrheit des anderen doch einen Augenblick lang auch für mich wahr geworden: dadurch habe ich eine Menschen besser verstehen gelernt. Das ist letztlich mehr wert als alle trügerische "Absolutheit" der alten Objektivität. Das ermöglicht, daß Menschen mit verschiedenen Wahrheiten friedlich miteinander leben, ohne Intoleranz und gegenseitige Bekehrungswut. Und das ermöglicht mir sogar, eine für mich existentielle Wahrheit dem anderen zu zeigen oder anzubieten, damit er sie nehme, wenn er will: aber nicht ohne sie vorher in sich wahr werden zu lassen und mir seine Wahrheit zu zeigen.

Vielleicht hängt viel davon ab, heute auch in der Methode menschlicher und kultureller Begegnung den Begriff der alten Wahrheit fallen zu lassen. Sonst müßte eine pluralistische Welt tatsächlich zu vermehrter Intoleranz führen.

So wie jede Wahrheit durch neue Beziehung vollständiger und wahrer wird, so wird auch der Mensch durch jede Relation bereichert und letztlich in einer tieferen und vollkommeneren Weise Person.

Schluß
Es wäre notwendig, jetzt eine ganze Reihe von Werten und von menschlichen Erlebnisformen anhand dieser Sicht durchzugehen. Dabei würde sich zeigen, daß die Absolutheit weithin einer bloß geschichtliche (also relativ gültigen) Objektivität Platz gemacht hat. Insofern mag sich vielleicht auch mancher Begriff der alten Wahrheit retten, aber in durchaus anderem Verständnis. Die Suche nach dem "Wesen der Dinge" tritt ganz hinter der Geschichtlichkeit zurück.

Es ist mir aber hier nicht möglich, die Analyse länger fortzusetzen. Vielleicht lassen sich später einmal die Folgen solcher Denkart z. B. auf Kultur, Religion, Recht, Politik usw. überdenken. Jetzt lassen sich jedenfalls nur einige kurze Gedanken zum Schluß anbringen.

Durch eine solche Wahrheitsanschauung gerät auch der alte Begriff von Konsequenz, von Geradlinigkeit usw. in Krise: hier liegt ein bedeutender Ansatzpunkt für Gedanken über Ethik, Frieden, Dialog, Gerechtigkeit usw.

Ferner: schon dieser Aufsatz hat gezeigt, wie sehr auch unser Wortschatz noch an der Objektivität und Sicherheit der alten Wahrheit hängt. Es war mir z. B. unmöglich, Worte wie "schlechthin", "in sich", "wesentlich" usw. zu eliminieren .Es scheint mir aber wichtig, den neuen Sinngehalt zu überprüfen, die Worte mögen dann bleiben.

Und schließlich mag man mir den Vorwurf mache, der in solchen Fällen immer üblich ist: wenn Wahrheit relativ ist, wer sagt dann, daß diene Behauptung stimmt?

Diese Bemerkung trifft durchaus zu. Aber wer sie vorbrächte, ginge noch einmal mit einer falsch gestellten Frage am Anliegen dieses Aufsatzes vorbei: es soll nicht die "Wahrheit an sich" - wenn auch anders als früher - metaphysisch definiert oder erklärt werden, sondern es soll der Versuch gemacht werden, zu zeigen, wie viele Menschen heute Wahrheit verstehen und empfinden. Auch hier besteht kein Objektivitätsanspruch, der nicht geschichtlich und nur annähernd wahrscheinlich wäre.
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