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Gegen eine falsche „Demokratisierung“ der Kirche

1.5.1969, Paulus Gesellschaft Gespräche
Alexander Langer hat im Mai 1969 in Tübingen auf einem Kongress mit dem Thema "Autoritäre Strukturen in Kirche und Gesellschaft: Strategien für Veränderungen" einen Vortrag gehalten.

Demokratisierung - Ende und Anfang einer Kirche

Hat es heute überhaupt noch einen Sinn, sich mit dem Problem einer Demokratisierung der Kirchen auseinanderzusetzen? Haben sich die christlichen Kirchen in der Geschichte nicht als so konservativ und reaktionär erwiesen, daß alle Hoffnung auf Erneuerung vergeblich ist? Selbst Christen, die auf ihre Kirche nicht verzichten wollen, könnten dieser Meinung sein. Menschen aber, die den Kirchen fernestehen, fragen sich heute, ob die Institution Kirche sich nicht weit überschätzt, wenn sie glaubt, in den historischen Prozeß der Menschheit noch eingreifen zu können. Wird die Umgestaltung der Welt ohne die Kirchen nicht genau so, wenn nicht sogar weit besser vor sich gehen? Wer heute für eine Erneuerung der Kirchen plädiert, ist in Gefahr, für naiv und provinziell gehalten zu werden.
Trotzdem: immer noch gibt es Menschen, Christen, die in der Kirche Spuren der Jüngerschaft Christi sehen. Ihnen geht es bei der Erneuerung der Kirchen um deren überzeugende Annäherung an ihren Auftrag zum Zeugnis und zur Prophetie. Andere befürchten die Entstehung von Ersatzorganisationen, wenn diese Kirchen erst verschwunden sein sollten. Alle versuchen darum, sie wenigstens soweit umzufunktionieren, daß ihre objektiv bremsende und repressive Wirkung auf die Gesellschaft überwunden und ihr menschliches und "ideologisches Potential" anderen Zielen dienstbar gemacht wird. Ob die neuen Positionen in der Kirche dann dem Evangelium Christi mehr entsprechen werden als die alten ist den ausschließlich an der gesellschaftlichen Wirksamkeit der Kirche Interessierten mehr oder weniger gleichgültig, nicht aber denen, für die Kirche Zeugnis und Prophetie bedeutet.
Kein Bannfluch kann noch helfen
In einer Gesellschaft, die sich immer mehr emanzipiert, haben Werte wie Demokratie, Partizipation, Eigenverantwortlichkeit, Dialog, Partnerschaft einen sehr hohen Stellenwert. Demgegenüber erscheinen die Kirchen in ihrer derzeitigen Struktur als "unzeitgemäß". Eine Kritik, die alle gefestigten Strukturen der Gesellschaft in Frage stellt, nimmt selbstverständlich die Kirchen nicht aus. Ja, sie findet gerade in den Kirchen massive Ansatzpunkte. Während progressive Studenten, Soziologen, Lehrer, Journalisten oft nur mit Mühe geschickt verschleierte autoritäre Strukturen in der Profangesellschaft aufdecken können, bieten die Kirchen ihre Herrschaftsverhältnisse in zahlreichen äußeren Symptomen offen dar. Man denke an "Humanae vitae", an das Problem des Pflichtzölibats, an bestimmte Formen der Liturgie, an Äußerungen von bestimmten kirchlichen Amtsträgern. Oft nur Streiflichter, die sich Tag für Tag aber aneinander reihen und die Unhaltbarkeit der jetzigen Situation deutlich machen.
Bedeutsamere Gründe tragen noch tiefere Unsicherheit in die überkommenen äußeren wie inneren Strukturen: der Zusammenbruch der aristotelisch-thomistischen Grundlegung des Herrschafts- und Lehrsystems, der in der katholischen Kirche seit vierhundert Jahren verpaßte Anschluß an die zeitgenössische Kultur- und Geistesgeschichte, die Technisierung und die Massendimensionen der Welt von heute, die sich anbahnende Befreiung zahlreicher Menschen und Gruppen von überkommenen Vormundschaften. Diese Kräfte sind durch keinen Fluch mehr zu bannen und durch kein noch so geschicktes Ablenkungsmanöver mehr zu ignorieren. Daß die katholische Kirche meistens etwa um zwei Jahrhunderte hinter der Entwicklung der Profangesellschaft in Europa zurück ist und erst in unserem Jahrhundert begonnen hat, sich den Anforderungen der frühesten konstitutionellen Monarchie einigermaßen anzupassen, ist ebenfalls kein Geheimnis.
Die "Führer" und die "Geführten"
So mußte wohl auch der Bewußtseinsprozeß innerhalb der kirchlichen Hierarchie, der sich auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil progressiver manifestiert hat als er in Wirklichkeit ist, dazu führen, daß man die gegebene Situation annähernd zur Kenntnis nahm und darauf antwortete. Ein neues Selbstverständnis der Kirche wurde theoretisch und praktisch in Ansätzen erarbeitet. Man durfte nun auch offiziell vom ,,Volke Gottes" sprechen.
Mit den ersten Schritten auf dem Weg zur stückhaften und immer wieder beargwöhnten Verwirklichung der "Volk-Gottes-Idee" sind aber wiederum einige belastende kirchliche Komplexe deutlich in Erscheinung getreten:
a) Die Kirche erwies sich als eine von der Kaste des Klerus beherrschte Institution mit einer klaren Unterscheidung von "Führern" und "Geführten", die der modernen Profangesellschaft fremd ist. Die Scheidung der "duo genera christianorum" war so offensichtlich einseitig, daß Unbehagen und Reaktion nicht ausbleiben konnten.
b) Die Diskrepanz zwischen der innerkirchlichen Politik, die praktisch in mehr oder weniger absoluter Monarchie und absolutistisch-selbstherrlichen Herrschaftspraktiken verharrte und der inzwischen im Westen vom Bürgertum geschaffenen liberalen Demokratie mußte sich ebenfalls auswirken, wenn man nicht auch auf das Bürgertum als Kirchenvolk verzichten und sich auf die verbliebenen restlichen Bastionen der Feudal- und Agrargesellschaft zurückziehen wollte.
c) Die Konkurrenz der rationalisierten und auf technokratische Effizienz bedachten Welt, besonders spürbar in der Wirtschaft, den Massenmedien und zum Teil auch im Bildungssystem, förderte für viele unerwartet die Obsoletheit des Jahrtausende alten und eigentlich immer bewährten Kirchenapparates zutage.
Die ungenügende Reform
Das Stichwort auf diese belastenden Komplexe lautet: "Demokratisierung der Kirche". Sie stellt sich heute so dar:
a) Die rein klerikale Funktionärsschicht in der Kirche wird mit mehr oder weniger vielen "Laien" durchsetzt. Der zahlenmäßig sowieso schwindende Klerus tritt einen Teil seiner Macht ab. Dafür tauscht er die Anpassung der Laien an die eigenen Denkformen und Verhaltensmodelle ein. Es entstehen die zahlreichen "Berufslaien", deren Präsenz und quantitative Häufung von manchen als Indiz für eine "demokratische" Kirche gewertet wird. Sie verkennen dabei, daß sich das Prinzip der Machtverteilung und Machtausübung nicht geändert hat.
b) Die Diskrepanz zu den weltlichen Gesellschaftsstrukturen soll verringert werden durch die Einführung von "demokratischen" Elementen. Sie können selbst in den gewagtesten Fällen wohl nur als liberaldemokratische Parlamentarisierung bürgerlicher Prägung - Laienräte, Liberalisierung der Presse, äußeres "aggiornamento" -, oder als Kodifizierung eines neuen kirchenrechtlichen Formalismus verstanden werden, mit dessen Hilfe sich dieses neue "Bürgertum" der Kirche -aktive Laien, Theologen und unzufriedene Priester -, die Erhaltung seiner Errungenschaften sichern will. Man denke hier an genau ausgeklügelte Wahlverfahren, an Prozeduren bei der Kurie und anderes mehr.
c) Der Rückstand der kirchlichen Institutionen an rationalisierter und vielleicht technologischer Effizienz wird durch "Modernität" und äußerlich neue und zweifellos rationelle Strukturen aufgeholt. Die Kirche bemüht sich, ihre Methoden der freien Marktwirtschaft anzupassen. Man braucht Managertypen. Man flirtet durch Fernsehen, Funk, Leppichs, "public-relations", karitative und bildungsfördernde Anstalten mit dem wenig kirchenfreudigen Volk.
Pseudodemokratisches Verhalten
Das Konglomerat dieser Art "Laienaktivismus", Parlamentarismus-Spiels und betrieblicher Rationalisierung wird dann gerne und häufig als "aggiornamento" oder "Demokratisierung" der Kirche proklamiert und ein beträchtlicher Teil der innerkirchlichen Bestrebungen zahlreicher "mündiger" Christen läuft in diese Richtung.
Es entbehrt nicht ganz der Komik, wenn eine Kirche, hoffnungslos unliberal, jetzt auf Liberalismus macht, selbst klerikal, jetzt die Laien zu klerikalisieren und das numerische Gleichgewicht neu auszupendeln versucht. Wenn sie, obwohl unterschwellig technik- und fortschrittsfeindlich, plötzlich Marktforschung, Werbung und Betriebsrationalisierung "tauft", das heißt verchristlicht und vereinnahmt.
In Wirklichkeit aber werden durch derartige Anpassungsmanöver weder die autoritären Herrschaftsstrukturen in der Kirche berührt noch auch die Funktion der Kirche in der Gesellschaft.
Was aber soll "Demokratisierung der Kirche" bedeuten? Worauf zielt sie?
Kirche wird bewertet nach ihrer Erscheinung
Endziel aller globalen Veränderungen innerkirchlicher Strukturen und Verhaltensmodelle kann nur sein, den Auftrag der Kirche an die Menschheit in einer neuen überzeugenderen Weise wahrzunehmen. Nur in dieser Perspektive hat eine Veränderung innerkirchlicher Verhältnisse einen Sinn. Sonst könnten Christen wie Nichtchristen darauf verzichten, an einer hoffnungslos zurückgebliebenen Kirche noch etwas ausbessern zu wollen. Wo hingegen der Auftrag gesehen wird, ist es von unübersehbarer Bedeutung, daß die Kirche eine Gemeinschaft in Brüderlichkeit ist, in der Gott erfahrbar Mensch wird. Daß die Zeichen, durch die sich eine solche Gemeinschaft ausdrückt und ordnet, diese Realität möglichst deutlich machen, daß die konkreten Strukturen sich jeweils am theologisch fundierten Kirchenverständnis messen und daß sie somit historisch gestaltet und geändert werden. Die christliche Gemeinde hat einen Auftrag zur Verkündigung, der heute großenteils allein durch die Art ihrer Präsenz und ihrer erfahrbaren Verfaßtheit verstanden und gehört werden kann. Eine Kirche, die dem modernen Menschen, an den sie ihre Botschaft richtet, zumutet, trotz allem und gegen ihre Evidenz an das "Eigentliche" der Kirche zu glauben, überfordert ihn. Gerade als Verwalterin der Botschaft mißt er sie an ihrer Erscheinung.
"Demokratisierung" in der Kirche ist gefährlicher und "verunsichernder" als alle anderen Spiele, die bisher unter dieser Etikette gespielt wurden. Denn es kann sich dabei nicht um eine plumpe Nachäffung von staatlichen Strukturen handeln, auch nicht darum, daß sie der Welt eine "perfekte Gesellschaft" vorexerziert und auch nicht einmal nur darum, ihren "Nachholbedarf" an Demokratie zu decken. "Demokratisierung" in der Kirche heißt Entinstitutionalisierung der Kirche, heißt Suche nach einem pastoralen und soziologischen Standort in der Gesellschaft, heißt die Wahrnehmung ihres Auftrages in der Welt.
Die Entinstitutionalisierung
Zugleich mit dem Untergang der Metaphysik, des Absolutheitsdenkens und der auf Autorität gegründeten Sicherheiten muß eine Reihe von Begleitkategorien das Feld räumen. So wurden die Absolutsheitsansprüche der Lehre schlicht auf die kirchlichen Strukturen übertragen. Eine fixierbare und arbeitsteilige Unterscheidung in geistliche und weltliche Belange, in Priester und Laien, in Kirche und Welt, in privat und öffentlich, in innerkirchlich und außerkirchlich wies allem seinen bestimmten Ort zu. Es gab berufenen Mund, um "die Meinung der Kirche" oder "die katholische Lehre" allgemeinverbindlich festzustellen oder auszusagen. Man wußte, wer zur Kirche gehörte, wer nicht und wann "die Kirche" gesprochen hatte. Ein zutiefst in römisch-rechtlicher Überlieferung verwurzeltes juristisches Denken wußte die Unerfaßbarkeit der Gemeinde, die auf den Herrn wartet und für ihn Zeugnis ablegt, in nachprüfbare Kriterien und Kategorien zu fassen.
Solange die Kirche als Institution nicht tot ist, bleibt jede "Demokratisierung" sinnlos und führt zu unentwirrbaren Widersprüchen. Solange der abstrakte Begriff "Kirche", deren konkrete Vertretung dem kirchenbürokratischen Apparat nach präzisen Rechtsregeln zusteht, nicht verschwindet, solange an die Stelle der Institution Kirche mit all ihrem Anspruch und ihren Verbindlichkeiten nicht die christliche Gemeinde tritt, die sich nicht aus dem Bekenntnis zur Institution definiert, ist eine noch so "demokratisch" verfaßte Kirche immer eine Lüge und eine Anmaßung. Sie würde nämlich immer letztlich nicht verifizierbare Tatbestände mit inadäquaten Kategorien zu fassen und zu repräsentieren beanspruchen und immer eine Verbindlichkeit vortäuschen, die die Institution nicht gewähren kann. Deutlich wird das an zwei Beispielen.
Die Kirche als Institution ist tot
Wer spricht im Namen der Kirche? Wer ist diese Kirche? Die Amtskirche? Der Klerus und die Laienfunktionäre? Deren Mehrheit? Wer sonst? Erst wenn jeder Christ diffus und ohne Bezugnahme auf eine abstrakte Institution gleichermaßen "für die Kirche" sprechen kann, womit diese Usurpation gegenstandslos und also unnötig wird, verschwindet die Institution. Parallel dazu würde dann endlich jene Schizophrenie geheilt, die heute vielfach beim Klerus, besonders bei Bischöfen, zu bemerken ist, kraft deren sie "als Mensch", "als Bürger", "als Christ", “als Bischof“ verschiedene Ansichten haben oder sie nur verschieden laut äußern dürfen oder sollen.
"Die Kirche" als Institution, der keine effektiv teilhabende Gemeinschaft entspricht, wohl aber ein durch seine Macht und seinen Reichtum erdrückender Apparat mit juristisch befugten und durch entsprechendes Prestige ausgewiesenen Amtsträgern, kann nicht "demokratisiert", sondern nur abgeschafft werden.
Es bleibt die lebendige Gemeinde
Selbstverständlich kann Kirche als brüderliche Gemeinschaft nicht auf jegliche Verfaßtheit und Ordnung verzichten. Aber der Weg ist von unten her zu beschreiten, so daß alte auf die gemeinsame Botschaft und die bestellten Amtsträger auf jene, die sie bestellt haben, unmittelbar und nie letztlich verbindlich bezogen bleiben. Eine "Meinung der Kirche" gäbe es zunächst nicht mehr, bis sich die Kirche neu gefunden hat. Nur die konkrete Gemeinschaft und die Sammlung von konkreten Gemeinschaften könnten durch immer lebendig gebliebene Vermittlung Meinungen äußern und agieren.
Demokratisierung der Institution Kirche, die nicht das apparathaft Institutionelle überwindet, ist also konsequent abzulehnen. Ein besseres Kirchenrecht, zweckdienlichere kirchliche Institutionen helfen nicht weiter. Nur wo die Identität der christlichen Gemeinde effektiv, nicht formaldemokratisch oder gar juristisch, einen Grad erreicht, der Abstrahierung zuläßt, und wo dem "Wehen des Geistes" nicht unüberwindliche bürokratisch-juristische Schranken gesetzt sind, kann eine Verfaßtheit und somit auch Geordnetheit der Kirche wieder ihren Anfang nehmen. Heute hat die innere Identifikation der Gläubigen mit dem verfaßten Amt ein Mindestmaß und der normierte und überkommene Apparat in einem eigengesetzlichen Automatismus einen hohen Grad erreicht.
Man könnte entgegenhalten, daß die innere Identifikation als ein Internalisierungsprozeß auch in der Institution stattfinden kann, wie es z. B. für einen Teil des traditionell katholischen Kirchenvolkes dem Papst gegenüber zutrifft. Es ist klar, daß in solchen Fällen die Autoritätsabhängigkeit am höchsten und somit am gefährlichsten ist und daß noch viel Emanzipationsarbeit geleistet werden muß. Denn eine derartige Haltung mag zwar insofern "kirchentreu" sein, als sie Gehorsam produziert. Aber das ist gerade jener Gehorsam, den es zu bekämpfen gilt, nämlich der Gehorsam gegenüber der Struktur nicht gegenüber der Botschaft.
Die Kirche der Armen
Die Entfremdung zwischen der Institution Kirche und jenen Völkern und Volksschichten, denen die Botschaft Christi zuerst geschuldet ist, nimmt zu. Durch die Unverständlichkeit der kirchlichen Sprache, die sozio-kulturellen Bezugssysteme in ihrer Verkündigung, die historische Zuordnung zu den Mächtigen dieser Welt, ihre effektive soziologische Allokation in der Mittelschicht der Wohlstandsgesellschaft und bei den reichen Völkern der Erde ist die Kirche heute keine Kirche der Armen, sondern in manchen Ländern sogar eine Kirche der Reichen und der Mächtigen. Ganz allgemein gesprochen ist sie weder selbst arm noch den Armen zugeordnet. Die Armen in unserer Gesellschaft können noch so vielen Entfremdungen und Unterdrückungen unterworfen sein: die Kirche stellt ihnen gegenüber einen äußerst wirksamen Integrationsfaktor dar, ein gemeinsames Bezugsmoment, das klassenverbindend und vertröstend wirkt. Sie ist eine Macht, die im besten Fall lieber durch ihre Institutionen Caritas betreibt, als daß sie den Armen durch die Verkündigung der frohen Botschaft eine Kraft vermitteln würde zur Befreiung und Selbstbefreiung.
Das prophetische Amt der Kirche
Wir haben uns an eine Kirche gewöhnt, die durch eine ganze Apparatur bestimmter Riten, Moralgesetze, Strukturen und verpflichtender Dogmen eine Institution lokalisierbarer Heilsvermittlung ist. Sie erhebt den Anspruch, objektiv das Heil in der Welt zu verwalten. Auch die Strukturen der Kirche, sowohl die organisatorischen wie auch die sakramentalen, verstand man als objektiv wirkend - ex opere operato - und selbst die Zugehörigkeit zur Kirche, bzw. die missionarische Ausbreitung der Kirche wurden als Weg zum Heil gesehen. Heute ist das Verständnis der Heilswirksamkeit im Sinne des Ritualismus und Automatismus theologisch überholt. Auch die Notwendigkeit der institutionellen Zugehörigkeit zur Kirche wird immer mehr relativiert. Stattdessen tritt das prophetische, das zeugnishafte und auf Verkündigung bedachte Amt in der Kirche und der christlichen Gemeinschaft mehr und mehr in den Vordergrund.
Unter dem Aspekt einer "Demokratisierung" der Kirche ist ihr prophetisches Amt in Bezug auf ihre Strukturen zu bedenken. Diese Strukturen hat die Kirche vorwiegend "ad intra" ausgerichtet, auf die Verwaltung der Institution und die Erfüllung wirklicher oder vermeintlicher Aufträge. Nach außen, zur Welt hin, trat die Kirche durch eine Vielzahl von Einrichtungen auf, die vornehmlich der stellvertretenden Wahrnehmung von Aufgaben dienten, die eine fortgeschrittene Gesellschaft ohne weiters und wesentlich besser ohne die Kirche durchführen kann. Man denke an Schulen, Krankenhäuser, karitative Institutionen usf..
Die Kluft zwischen Zeichen und Realität
Die christliche Gemeinschaft, die Kirche, kann heute der Welt einen anderen und dringenderen Dienst leisten. Sie kann der Welt eine Gemeinschaft vorleben, die auch in ihren je gegebenen Strukturen zeugnishaft jene Werte verwirklicht, an die sie glaubt und die sie verkündet: Freiheit, Brüderlichkeit, Würde des Menschen, Hoffnung.
Soll eine solche christliche Gemeinschaft überzeugend sein, dann muß sie die Kluft zwischen Zeichen und Realität auf ein Mindestmaß reduzieren. Unablässig muß sie daran arbeiten, Struktur und Wert, Zeichen und Realität einander so anzunähern, daß diese Relation auch für Menschen, die der Kirche fernestehen, deutlich in Erscheinung tritt. Nur so kann sie glaubhaft verkünden. Dabei ist nicht zu übersehen, daß auch in einem solchen Bemühen Gefahren liegen können, die sich heute in einem sogenannten progressiven Kirchenverständnis auch bereits niederschlagen. Die christliche Gemeinschaft verwirklicht die ideale Gesellschaft in ihrem Inneren. Menschen, die ihr zugehören, flüchten in diese Oase der Menschlichkeit, Freiheit, Liebe. Das prophetische Amt der Kirche aber fordert unmißverständlich, daß sie ihre Botschaft und ihr Zeugnis ständig der Welt zur Konfrontation anbietet und damit Unruhe schafft. Sie kann sich nicht damit begnügen, Evasionsbedürfnisse zu befriedigen.
Wirklich befreiend können humane und christliche Züge innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft erst dann wirken, wenn dadurch Impulse zur Realisierung der von ihr verkündeten Werte in der Welt vermittelt und die Widersprüche zu den bestehenden Ungerechtigkeiten deutlich gemacht werden.
„Offen dem Wehen des Geistes“
Prophetische Kirche, Entinstitutionalisierung und Kirche der Armen gehören zusammen, denn die institutionelle und von den Armen und der Armut entfernte Kirche kann ebenso wenig prophetisch wirken wie sie ihr prophetisches Amt, wieder institutionalisiert, nur einfach in einer anderen Richtung - also etwa links statt rechts - wahrnehmen kann.
Ist eine Kirche, die nicht institutionalisiert, arm und prophetisch ist, realisierbar? Entinstitutionalisierung der Kirche bedeutet eine Gemeinschaft, deren Selbstverständnis nicht durch eine vorgefundene und von den Gliedern wesentlich unabhängige Institution bestimmt wird, sondern die trotz ihrer historischen Kontinuität ihre Gestalt, ihren Glauben, ihren Auftrag ständig neu vollzieht und erfährt und dabei dem „Wehen des Geistes“ offenbleibt.
Der Schritt von der bürokratisch-hierarchisch verfaßten autoritären Institution zur Kirche, an die wir glauben, kann nicht von selbst und nicht sofort erfolgen. Das Dilemma jeglichen reformistischen Denkens wird offenbar: Soll eine Politik der kleinen Schritte versucht werden? Soll der lange Marsch durch die Institutionen anheben? Sollen Kompromisse geschlossen werden oder sind klare eindeutige Verhaltensweisen zu bevorzugen?
Aprioristische allgemeingültige Leitsätze aufzustellen ist sicher nicht möglich. Vielmehr sollte die Taktik streng funktional zur einmal erkannten und beschlossenen Strategie sein, ohne irgendwelchen absoluten Wert zu beanspruchen. Doch ist zu bedenken, daß ein Reformismus abzulehnen ist, der hinauszögert und verschleiert. So wenig etwa ein Moralist, der die Polygamie abschaffen will, einen graduellen Übergang von zehn zu neun, von neun zu acht Frauen usf. gutheißen würde, so wenig kann die Kirche "tropfenweise" reformieren. Der Papst irrt, wenn er glaubt, eine Erneuerung und Demokratisierung der Kirche wirklich einzuleiten dadurch, daß er den Prunk und die Zahl seiner aristokratischen Trabanten vermindert, seine Schweizer Garde einfacher ausstattet, die Purpurschleppen seiner Kardinäle verkürzt.
Affront aus Liebe zur Kirche
Um die Entinstitutionalisierung in der Kirche voranzutreiben, wird sich in vielen Fällen die Ablehnung und Verweigerung als einziger Weg anbieten. Die Christen werden aus Liebe zur brüderlichen Kirche jede Verlautbarung oder Äußerung der institutionellen Kirche, die nicht aus der Gemeinschaft erwächst, ablehnen und ihr christliche Legitimität absprechen müssen. Sie werden an der Zerstörung des Apparats der Kirche, ihrer Vereine und Verbände, ihrer Presse, ihrer alten und neuen kirchenrechtlichen Vorschriften arbeiten müssen. Neue Verhaltensweisen zwischen den Kirchengliedern, besonders zwischen den Amtsträgern und der Basis sind zu entwickeln. Autoritäre Elemente und Strukturen, abgesichert durch Katechese, durch Gebete und Gesten in der Liturgie, durch eine bestimmte Aura des Unnahbaren und Heiligen, sind zu entlarven und zu bekämpfen.
Vor allem anderen aber muß eine intensive Bewußtseinsbildung aller Kirchenglieder einsetzen, so daß jeder Christ weiß, er selbst ist die Kirche und hat sich dementsprechend zu verhalten. Zugleich ist die Legitimation nach innen und nach außen zu zerstören, die heute noch weithin der kirchlichen Institution anhaftet. "Die Kirche hat gesprochen", "die Stellung der Kirche zu ..", "die Kirche meint" -, alles das sind Unwahrheiten, die als solche gekennzeichnet werden müssen. Bei allem aber ist der Versuchung zu entgehen, der institutionellen Usurpierung neue Usurpierungen entgegenzusetzen.
Wo im Namen der Kirche und mit entsprechenden Zitaten, etwa aus "Rerum Novarum" gegen die Vergesellschaftung der Produktionsmittel argumentiert wird, sollte man nicht "Populorum progressio" bemühen und die Gegenmeinung als Position der Kirche hinstellen. Wahr ist, daß die Kirche keine Position beziehen kann, solange sie nicht als Kirche, als Gemeinschaft, besteht. Ob sie zu solchen Fragen etwas sagen wird, wenn sie brüderliche Gemeinschaft ist, läßt sich nicht mit Sicherheit voraussagen.
Wie die "Könige der Heiden“ ...
Damit die Kirche eine Kirche des Volkes, das heißt, eine Kirche der Basis und der Armen wird, muß eine ganze Reihe von Hindernissen abgetragen werden. Die unverständliche und volksferne Symbolik, die Pracht- und Machtentfaltung und ähnliche evangeliumfremde Entartungen sind abzubauen. Vielleicht können hier nur massive Aktionen helfen wie etwa kollektive Enthaltung von Gottesdienst und Kommunion, Demonstrationen, Übernahme und Veräußerung kirchlicher Gegenstände und Reichtümer.
Abzuschaffen sind auch alle Strukturen, die der weltlichen Gesellschaft nachgebildet sind und schlichtweg das Evangelium verleugnen. Im Evangelium werden bestimmte Formen der Machtausübung "den Königen der Heiden" angekreidet. Heute findet man wenige "Könige der Heiden", die so verbissen an Macht, Prestige, Autorität und Statusdenken, an erstarrten sozialen Rollen hängen wie die "Kirchenfürsten". Dabei soll gerade die Kirche eine Gemeinschaft sein, die das Magnifikat wahrmacht und die Mächtigen von den Thronen stürzt. Nur mehr von der Gemeinde effektiv geforderte und anerkannte Dienste, nicht eine Vortäuschung unkontrollierbarer Investitur, soll die Funktionsträger in der Kirche ausweisen. Auch hier wäre ein gradueller Reformismus verfehlt. Es sei denn, man wollte dadurch den Zerfall der Institution beschleunigen, um nach dem Zusammenbruch wieder neu bauen zu können.
Der neue Mittelbau im kirchlichen Apparat
Man kann die autoritären Strukturen innerhalb der Kirche nur überwinden, wenn die Prozesse der Information, der Kommunikation und der Entscheidung auf ganz andere Grundlagen gestellt werden. Die Vorenthaltung von Informationen, ihre Konzentration bei gewissen Stellen, ihre Verschleierung dienen dem Machtzuwachs einiger weniger und dem Abhängigkeitsverhältnis der vielen. Alle Christen sollten für größte Wahrhaftigkeit und Öffentlichkeit, d. h. für effektive Zugänglichkeit und Verbreitung der Information eintreten. Auch das Spiel um die Entscheidungsprozesse, die Ansätze zu einer zaghaften Parlamentarisierung, haben in der bisher entwickelten Schau keinen Sinn. Man sollte prüfen, ob der Boykott von Pastoralräten nicht dringlicher ist als der Versuch, einige passable Leute in die Gremien hineinzuschmuggeln.
Besonders schwerwiegend wirkt sich in diesem Zusammenhang die fortdauernde Klassentrennung zwischen Priestern und Laien in der Kirche aus. Alle Informationen, Entscheidungen, Wahlen, werden doppelgleisig kanalisiert. Als Unterklasse des Klerus sind dabei vielleicht privilegierte Laien anzusehen, die allein oder in Gruppen langsam beginnen, einen neuen Mittelbau im kirchlichen Apparat darzustellen. Auch diese Christen erster Kategorie haben jedoch keinerlei Sonderlegitimation.
Das Problem des Amtes
Wie soll eine Demokratisierung in der Kirche als Mitbeteiligung aller am kirchlichen Gemeinschaftsleben bewirkt werden ?
Vielleicht wäre ein erster Schritt, die Möglichkeit des freien Wortes zu schaffen. Dabei wird sich dann allerdings zeigen, wie sehr die Kirche heute von den tatsächlichen Bedürfnissen und Lebensbereichen derer entfernt ist, denen sie das Evangelium verkünden will. Aus diesem Grunde und in Rücksicht auf den langdauernden Prozeß einer Demokratisierung und Bewußtseinsbildung sollte man versuchen, entsprechende synodale Strukturen von unten zu entwickeln, um die Gemeinschaft dort wirksam vertreten zu können, wo sie zahlenmäßig nicht mehr in direkter Wahrnehmung ihrer Aufgabe handeln kann. Damit ist das Problem des Amtes in der Kirche neu gestellt.
Kirche und Macht
Wichtiger noch als die Veränderung der Gemeinschaftsstrukturen in der Kirche ist ihr Rückweg zu einer Kirche der Armut und der Armen. Wer von Demokratisierung der Kirche spricht, kann nicht absehen von dem Verhältnis Kirche und Macht. In der Geschichte hat die institutionelle Kirche der politischen Macht vielfältige Dienste geleistet. Immer hat sie dadurch beigetragen zum Beharren des herrschenden Gesellschaftssystems innerhalb der christlich-abendländischen Welt. Sie hielt die Menschen zu einem autoritätsunterworfenen Gehorsam an, lieferte dem Bestehenden ideologische Legitimierung und bestimmten Machtformen und ihren Trägern theologische Investitur. Angeblich unpolitisch, betrieb sie in Wirklichkeit eine eigene Politik - eine Politik der unkritischen Anpassung an das jeweils herrschende System, soweit es von der Kirche gesegnet war. Immer wieder kanonisierte sie, oft asketisch verbrämt, die Flucht vor der weltlichen Verantwortung. Unter diesen und zahlreichen anderen Formen hat die Kirche als Institution neben anderen Institutionen der Macht gelebt, sich mit ihnen in die Herrschaft der Welt geteilt und ihnen sogar einen besonders wirksamen Dienst erwiesen: sie hat sie mit ihren Mitteln sanktioniert.
Auftrag der Kirche nur im Jenseits?
In dieser für die Herrschenden dieser Welt so nützlichen Institution ist nun Unruhe erwacht. Eine Gesellschaft, deren Ordnung sie garantiert hat, versucht, sie in ihre Schranken zu verweisen. Immer mehr Unternehmer, Presseleute, Politiker und andere Machtträger erkennen plötzlich, daß der "eigentliche" Auftrag der Kirche im Jenseits, nicht im Diesseits begründet ist.
Vorsicht ist geboten. Jeder Kompromiß und jede Absprache mit den Mächtigen ist zu entlarven und zu unterbinden, gleich ob es sich um Militärseelsorge, um Kirchensteuer, um Religionsunterricht, um Finanzen handelt.
Manche Menschen glauben heute, eine bisher institutionelle, konservative Kirche solle sich nun progressiv engagieren, um frühere Sünden wieder gutzumachen. Die Versuchung, das institutionelle Prestige der Kirche mit dem entsprechenden Einfluß auf viele Menschen für das legitime Anliegen der gesellschaftlichen Umgestaltung in Anspruch zu nehmen, ist groß. Dennoch: solange ein Bischof die Kirche als Institution versteht, sollte er nicht, auch wenn er links steht, für "die Kirche" sprechen. Ein diffuses Kirchenbewußtsein und eine effektiv entinstitutionalisierte Kirche vertragen in der gegenwärtigen historischen Belastung solche Haltungen nur schwer.
Politische Theologie sollte heute nur mehr auf der Basis einer nicht mehr institutionell fixierten christlichen Gemeinde betrieben werden. Andernfalls werden die Mächtigen dieser Welt wieder einen Weg finden, mit der Institution entschärfende Absprachen zu treffen. Eine institutionelle Kirche läßt sich festlegen und knebeln, während sie munter den Anwendungsbereich der Konkordate auch auf den sozialistischen Machtbereich ausdehnt. Nur eine diffuse Kirche kann Ort der befreienden Kritik und Prophetie sein und bleiben.
Gefahren der Erneuerung
Dem Konzept zur Erneuerung und Demokratisierung der Kirche stellen sich selbstverständlich zahlreiche Widerstände entgegen. Dabei ist der Widerstand, der offen von autoritär-konservativer Seite her erfolgt, vielleicht noch der relativ ungefährlichste, weil er offen erfolgt und leicht zu durchschauen ist. Bedenklicher ist es, wenn sich einerseits die weltlichen Machtträger bemühen, gefährliche Tendenzen in der Kirche abzufangen oder wenn andererseits der kirchenbürokratische Apparat mit mehr oder weniger gutgemeinten Konzessionen und Scheinreformen aufwartet, die einmal das Dilemma aufwerfen, ob man damit einen Kompromiß schließen soll oder nicht, und zum anderen leicht den Effekt haben, die Kräfte der Umwälzung zu spalten, ja sogar gegeneinander auszuspielen. Auch die Gefahr des Neointegralismus oder Neotemporalismus von links, die Umfunktionierung der Institution Kirche durch Bündnisse nach links statt nach rechts, weil nun einmal die Entwicklung dahin geht, liegt nahe. Trotzdem: alle Gefahren werden die Erneuerung der Kirche nicht verhindern, wenn sich nur genug Menschen existentiell und überzeugend dafür einsetzen.
In was für einer Gestalt wird sich die Kirche am Ende dieses Entwicklungsprozesses konkretisieren? Das ist eine Frage, die heute niemand mit Sicherheit beantworten kann. Sicher ist, daß eine Gemeinschaft, die sich im Gehorsam zum Evangelium weiß, den Entwicklungsprozeß wagen muß. Wagt sie ihn nicht, dann bleibt für die Menschen, die in Treue zur Botschaft stehen, nur das Engagement zur Zerstörung der institutionellen Kirche schlechthin oder aber das Aufgeben jeglicher Bemühungen um die Kirche, damit die Toten ihre Toten ungestört begraben können.

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