Alexander Langer Alexander Langer Schriften - Alexander Langer Südtirol - Alto Adige

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Südtirol - Traumland der Isolierungspsychiatrie

1.1.1982, Aus: skolast Nr. 1-2
Als im August 1979 der Bozner Lehrer Peter Lusa in der psychiatrischen Abteilung des Bozner Krankenhauses bei lebendigem Lieb verbrannte, war das auch für mich ein Alarmsignal. Ich war damals im Landtag und wollte beitragen, etwas zu tun, damit so etwas Schreckliches möglichst nie mehr vorkomme.

Da kam ich sehr schnell drauf, daß ich mich mit der Situation der psychiatrischen Versorgung in Südtirol näher befassen mußte. Denn der Tod von Peter Lusa war eben nicht so sehr außergewöhnlichen Umständen oder außergewöhnlichem Versagen zuzuschreiben, sondern dem gewöhnlichen und programmierten Versagen. Nicht so sehr der Menschen (Pfleger, Ärzte), denen er anvertraut war, sondern der Einrichtungen, die für ihn sorgen hätten müssen. Und jener Menschen, die für diese Einrichtungen am meisten Verantwortung tragen.

Ich bemühte mich also, durch Gespräche mit Ärzten, Pflegern, Betreuern, Patienten und Verwandten von Patienten der Lage der Psychiatrie in Südtirol auf die Spur zu kommen.

Sofort merkte ich, daß man bei uns auf das Reformgesetz von 1978 ("legge 180", damals in aller Eile vom Parlament verabschiedet, um einer von den Radikalen geforderten Volksabstimmung zur Abschaffung der Irrenhäuser zuvorzukommen) eigentlich nur schimpfte. Für Südtirol schien es gänzlich unzumutbar, "die Narren freizulassen".

Bis dahin hatte alles doch so herrlich geklappt wie sonst nirgends: geistig kranke oder behinderte Menschen wurde einfach außer Landes deportiert: vorwiegend nach Pergine (Trient), teilweise auch nach Hall (Nordtirol). So war man sie los. Und so war man das Problem los. Besonders begüterte Geisteskranke konnte nimmer noch in humanerer Form in ihren Familien oder in privaten Kliniken versorgt werden.

Das "Narrenhaus" schien überhaupt die denkbar passendste Lösung eines jeden Problems, in Südtiroler Köpfen: Neigt man doch bei uns sowieso dazu, jegliche Frage des Zusammenlebens von verschieden gearteten Menschen durch Absonderung und Konzentrierung zu lösen. "Gleich mit gleich" zusammenlegen und von den übrigen isolieren, ist nämlich nicht nur das Rezept für die Lösung des Sprachenkonfliktes in unserem Lande, sondern auch die Antwort auf die Frage, wie man mit Behinderten mit alten Menschen, mit Kranken, mit Linken, mit Blinden und mit wem auch immer fertig wird.

Für Peter Lusa brachte ich damals eine Antrag im Landtag ein, mit dem gefordert wurde, die Gesamtsituation der Psychiatrie in Südtirol in Angriff zu nehmen, um die Reform von 1978 "südtirolgerecht" zu verwirklichen. Nach längere Debatte blieb ich allein. Auch die PCI-Abgeordneten (Peter Lusa war eingeschriebenes Parteimitglied gewesen) wollten sich nicht frontal gegen die Landesregierung stellen und enthielten sich der Stimme ... und versprachen, später einmal etwas zu unternehmen.

Die Landesregierung hatte damals verssprochen, von sich aus die Frage der psychiatrischen Versorgung in die Hand zu nehmen und dem Landtag jährlich Bericht zu erstatten. Trotzdem hat sich fast nichts geändert.

Es wurde zwar ein Einteilung der "psychischen Gewalt" in Südtirol nach den vier Priamren (Frick, Pristinger, Corrò Dossi, Hinterhuber) vorgenommen, die den Dienst vorwiegend nach den ihnen genehmen Kriterien zu organisieren begannen, aber die wichtigste Voraussetzung unterblieb. Dies stellten im Sommer 1981 die untergeordneten Ärzte, Pfleger und Sozialassistenten fest: Man hatte praktisch nichts unternommen, um einen territorial gestreuten Stützdienst aufzubauen.

Im Gegenteil: es mußte der Eindruck entstehen, daß man eher darauf wartete, daß sich die an Basaglia orientierte Psychiatriereform (mit dem Konzept einer offenen Betreuung und möglichst breiten Eingliederung psychisch kranker Menschen in die übrige Gesellschaft) totlaufe. Und daß man alles dazu tun wollte, daß dies bald geschehe.

Natürlich kann man nicht einfach nur die "Irrenhäuser" bzw. die Neuro-Abteilungen oder die psychiatrischen Abteilungen der Krankenhäuser schließen und die Kranken nach Hause schicken; vor allen, wenn sie an jahrelange Isolierung von er Außenwelt gewöhnt sind oder ihre Behandlung nur unter Zwang und Absonderung erlitten haben. Damit löst man nichts und wirft sie nur auf die Familien zurück (wenn es Familien gibt, die sich um diese Kranken überhaupt kümmern).

Es gibt also nichts Besseres, als die psychisch kranken Menschen einfach "auf die Straße zu setzen", um die Notwendigkeit von Isolieranstalten wieder unter Beweis zu stellen. Und daran arbeitet man munter weiter.

Solange nämlich dezentralisierte Beratungs- und Betreuungsstellen, "extramurale" Dienste (Tagesstätten, Gemeinschaftszentren, Ambulatorien usw.) oder halb-beschützte Heime fehlen, wird die Alternative zwischen Absonderung oder Integration zwangsläufig zugunsten der Absonderung ausfallen müssen.

Nach dem Hilfeschrei der Fachleute und Bediensteten der Psychiatrie, im Sommer 1981, versuchte ich es noch einmal im Landtag. Die Kritiken und Vorschläge schienen nämlich so einsichtig und vernünftig, und die Gefahr eines totalen Zusammenbruchs der psychiatrischen Versorgung in Südtirol (ohne sofortige Maßnahmen) so drohend, daß ich mir dachte, es müßte diesmal besser gehen als mit dem Antrag von 1979.

Gefordert wurde im Grunde dasselbe wie damals: die Psychiatriereform den südtiroler Gegebenheiten anzupassen; die Anregungen der Fachleute zu berücksichtigen; eine dezentralisierten psychiatrischen Dienst aufzubauen, der auch außerhalb der Krankenhäuser funktioniert und sich in das Grundkonzept der Gesundheitsvorsorge einbaut; eine entsprechende Schulungs- und Qualifikationspolitik für das Personal zu betreiben und den Dienst zu demokratisieren (die Kritiken an den Primarärzten waren unüberhörbar, Landeserzpsychiater Frick lastet bleiern auf der gesamten Psychiatrie Südtirols).

Zudem stellte ich eine fast symbolische Forderung: Der Landtag sollte eine Delegation von Abgeordneten nach Pergine entsenden, wo immer noch die von allen verlassenen und vergessenen "altoatesini" ein grausames und mittelalterliches Relikt der Isolierungspsychiatrie darstellten.

Auch dieser Antrag wurde abgelehnt (diesmal stimmt die gesamte Opposition dafür). Auch der Hilfeschrei des Personals war ungehört verhallt. Ob daraus Konsequenzen gezogen werden, ist noch nicht bekannt.

Wahrscheinlich bleibt Südtirol noch auf lange Zeit das Traumland der reaktionären Psychiatrie: eine Gesellschaft, die mit allen ihren zahlreichen "Abartigkeiten" nur dadurch fertig wird, daß sie sie in je gesonderte Gettos einsperrt.

Und wo ließe sich dafür mehr Zustimmung finden, als wenn es die "Narren" betrifft?
pro dialog