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Wählen...nichts Neues: Aussichten für das nächste Parlament

1.7.1968, Aus: die brücke Nr. 7
Der durchschnittliche Staatsbürger wird am kommenden 19. Und 20. Mai einen der seltenen Höhepunkte seiner staatsbürgerlichen Existenz erleben: er wird sich für einen Augenblick von jener Machtfülle berauschen lassen, die er in Wirklichkeit nie zu schmecken bekommt. Durch seine Beteiligung an den Parlamentswahlen gibt sich unser Durchschnittsbürger wiederum der Illusion hin, für weitere fünf Jahre zur Willensbildung des Volkes beigetragen zu haben.

Nun ist der Wahlakt als solcher zweifellos wichtig und in einer formal perfekten Demokratie sogar wesentlich. Aber wer die Politik mitlebt und die Ereignisse der letzten Zeiten verfolgt hat, weiß genau, dass es jenseits und unabhängig von den Parlamentswahlen bessere und wirksamere Formen politischer Mitbestimmung am Leben des Staates gibt. Der gewöhnliche Staatsbürger "betreibt" zweifellos Politik, wenn er seinen Anteil an der Staatsgewalt den Mächtigen seines Vertrauens delegiert: wirkungsvoller aber kann er durch persönlichen Einsatz in den verschiedensten Formen politisch aktiv sein (z. B. durch Demonstrationen, Streiks, Mitarbeit in Parteien und Gewerkschaften, Politisierung bestimmter Gebiete des gesellschaftlichen Lebens wie etwa Schule, Kultur, Wirtschaftszweige, usw.).

Dass außerdem diesmal die Parlamentswahl in Italien mit einer allgemeinen Krise des klassisch liberalen Regierungs- und Parteiensystems zusammenfällt, trägt bestimmt nicht dazu bei, die Wahlen als besonders entscheidend oder gar als nicht zu überbietenden Ausdruck der Volkssouveränität hinzustellen.

Diese Wahl - ein ungefährliches Spiel

Trotzdem hat die Entscheidung, die in diesem Monat zu fällen ist, ihre unleugbare Wichtigkeit. Wollen wir allerdings eine mögliche Spitze sofort abbrechen: Neues werden die Parlamentswahlen kaum bringen. Die einflußreichsten Vertreter der Regierungsparteien (besonders der DC) versichern uns immer wieder die tröstliche Wahrheit, dass die gegenwärtige Regierungskoalition durchaus ohne mögliche Alternativen dasteht, sodaß die allfälligen Korrekturen durch diese Wahl nur "regierungsinterne" Folgen haben dürfte und gegebenenfalls Randverschiebungen auch im Feld der Opposition hervorrufen werden, ohne aber wesentliche Umwälzungen herbeizuführen. Nicht zu Unrecht weisen erfahrene politische Beobachter auf den Umstand hin, dass in Italien die Lage so festgefahren ist, dass die DC nichts anderes als Regierungspartei und die KPI nichts anderes als Oppositionspartei sein kann. Die beachtliche Stabilität der Wahlergebnisse in den letzten zwanzig Jahren (seit dem schicksalsträchtigen 18. April 1948, an dem sich Italien für die DC entschloß) läßt daran keine Zweifel aufkommen, obwohl die Regierungsparteien der natürlichen Erosion aller Machthaber ausgesetzt sind.

Der Sinn dieser Betrachtung läßt sich - je nach Temperament und politischer Gesinnung melancholisch oder freudig - in folgendem Satz zusammenfassen: "Bellt nur, ihr Hunde da unten; der Mond strahlt ungestört fort" - obwohl man boshaft hinzufügen könnte, dass der Mond immerhin schon in der abnehmenden Phase ist.

Blick auf die Parteien -Schwerpunkt DC

Es wird jedenfalls gut sein, einen Blick auf die einzelnen Parteien zu werden, um daraus besser die Aussichten für die nächste Legislatur zu erkennen.

Der Schwerpunkt des italienischen politischen Kräftefeldes befindet sich nach wie vor immer in der christlichdemokratischen Partei (DC). Man weiß zwar nicht immer genau, welche Linie eigentlich diese Partei vertritt und ob der gemeinsame Nenner überhaupt nur konfessionell oder auch politisch ist. Im großen und ganzen aber kann man wohl sagen, dass es sich um eine gemäßigte, dennoch aber ziemlich volksnahe Partei handelt. Die Wähler kommen aus allen Schichten (eben weil die konfessionelle Zweideutigkeit vorherrscht) und die Gewählten vertreten dementsprechend nicht immer einheitliche Interessen. Der Wahlschlager der DC "Fortschritt ohne Abenteuer" zeigt ganz gut, was diese Partei will: die Angst vor den "Abenteurern" hat allerdings meist als bremsendes Element nachteilige und schwerwiegende Folgen gezeitigt. Die DC hat aber immerhin in ihrem eigenen Inneren auch neue Kräfte am linken Flügel, obwohl andererseits ein beachtlicher Teil der Parteibonzen weiterhin vor allem die antikommunistische und pro-amerikanische Trommel schlägt. Ob es im Laufe dieser Legislatur dem linken Flügel der DC endlich gelingen wird, politisch aktiv zu werden und konkret auf die Führung der Regierungspolitik Einfluß zu nehmen? Wahrscheinlich kann das erst gelingen, sobald dieser Teil der DC den Mut zu einer Spaltung der Partei findet. Dann allerdings mag sein, dass eine politisch belebende Kraft neue Umstände schafft (denn der linke Flügel der DC und weiter hinaus überhaupt die sogenannte "katholische Linke" sind wesentlich lebendiger und entschiedener als die meisten Sozialisten).

Für diese Wahl aber dürften noch einmal - allerdings weniger stark - die pseudoreligiösen und politischen Motive in altgewohnter Konfusion (und mit altgewohnter geistlicher Unterstützung) die DC zusammenhalten und die verschiedenen Seelen in ihrer Brust versöhnen.

Rechts die Rumpelkammer

Rechts von dieser Hauptfigur der italienischen Politik befinden sich eigentlich nur mehr die Überbleibsel vergangener Zeiten, die politisch aber großteils aus dem Spiel geworfen sind (deren Interesse aber deshalb lieber in anderen Parteien, z. B. DC und PSU, Unterschlupf und Protektion suchen). Die Faschisten nehmen schon seit Jahren eher ab; es könnte zwar sein, dass die traditionell faschistenfreundlichen Kreise wie Heer, Polizei (man denke nur an Mailand und Rom, wo letzthin bereits festgenommene Studenten und Studentinnen von der Polizei in wüster Weise geprügelt und getreten wurden) und ehemalige Beamte diesmal einen kleinen Aufschwung erleben, da sie sich als einzige Hüter der Autorität in einem von Unruhen erschütterten Staat aufspielen, aber alles in allem gehören diese Kräfte der Rumpelkammer des italienischen Nationalismus und der Reaktion an.

Beachtenswerter sind die Liberalen, die schon seit Jahren verlorenen Regierungsposten nachweinen und der Regierung abwechselnd Fehdehandschuhe hinwerfen und den Hof machen. Hier ist es nicht so sehr die politische Stärke der Partei als vielmehr das wirtschaftlich-soziale Gewicht der Interessensgruppen, die dahinter stehen: Großkapital, Hausbesitzer, Aktionäre, Freiberufler, Geschäftsleute, Unternehmer, usw. Bleiben noch die Monarchisten, die heute allerdings schon zu einer seltenen Rasse gehören, die demnächst aussterben dürfte, obwohl sie versuchen, ihre Geschicke durch die Kandidatur eins hoch-kompromittierten Skandal-Generals (DE Lorenzo) zu heben.

Die regierende Linke

Auch auf der Linken sieht das Panorama nicht rosig aus. Die vereinigten Sozialisten (PSU) haben innerhalb kürzester Zeit alle nachteiligen Züge einer Macht- und Regierungspartei angenommen; von den "zwei Seelen" (Sozialdemokraten und Sozialisten) scheint sich zwar nicht zahlenmäßig, aber politisch immer mehr die durchaus gemäßigte sozialdemokratische durchzusetzen, sodaß die neue sozialistische Partei fast wie eine neue, nicht-klerikale DC aussieht. Man sieht, wie sich eine Partei innerhalb kurzer Zeit von der Macht bestechen und verbrauchen läßt.

Die kleine republikanische Partei dürfte wohl bei dieser Wahl den größten perzentuellen Erfolg erringen und ihre bescheidene Abordnung ins Parlament (6 Mann) etwa verdoppeln. Politisch dürfte sich trotzdem nicht viel ändern: die Republikaner werden es sich dank ihrer Schwäche weiterhin leisten können, mit einem Fuß im Lager der Regierung, mit dem anderen in dem der Opposition zu stehen, was bestimmt bequem ist und aufgeklärten Intellektuellen wohl ansteht. Wie lange sich die beiden anderen Parteien das gefallen lassen, muß sich erst zeigen.

Die Linke der Parlamentarischen Opposition

Bleibt die "extreme" Linke, soweit sie sich parlamentarisch ausdrückt: die starke kommunistische Partei (ein gutes Viertel aller Wähler) wird voraussichtlich ihre Stärke halten und vielleicht sogar vermehren, ohne aber den Traum der "großen Linken" verwirklichen und ohne eine effektive Regierungsalternative bilden zu können. Bestimmt handelt es sich auch bei dieser Partei - ähnlich wich bei der DC - um eine große und volksnahe Kraft, deren Schwächen aber denen der DC erstaunlich ähnlich sind: wie die DC durch ihre eigene Machtausübung stark belastet und kompromittiert ist, so sind es die Kommunisten durch die Verhältnisse in den "Ostblockstaaten". Außerdem hat die KPI ihren eigenen Schatten (Dogmatismus; Demagogie; "für alle etwas": Arbeiter, Intellektuelle, Bauern, Kaufleute, Beamte, usw.; zuwenig partei-interne Demokratie und kein eindeutiges Bekenntnis zur traditionellen Demokratie) noch nicht zu überspringen vermocht. Dennoch bleibt sie die einzige Kraft, die der Regierung einen tatsächlichen Gegenpol und somit eine starke Kontrolle auferlegt; deshalb ist es nicht falsch, wenn man behauptet, dass in Italien die Demokratie in vielen Fällen nur durch die Anwesenheit und Wachsamkeit der KPI gewährleistet worden ist (vgl. SIFAR z. B.).

Die linkssozialistische Partei PSIUP war lange im Zweifel, ob sie als die "linksextremste" Partei Italiens auftreten oder doch einfach ihren Platz im System einnehmen sollte: sie zog das zweite vor und integrierte sich soweit, dass sie mit der KPI ein enges Wahlbündnis einging, und somit den Kommunisten wenigstens auf parlamentarischer Ebene Konkurrenzlosigkeit nach links sicherte. Außerdem hanelt es sich beim PSIUP um eine Partei, die weniger aus eigentlichen Arbeitern und mehr aus Intellektuellen und Studenten besteht.

Noch keine "neue Linke" zur Wahl

Diese notwendige oberflächliche Rundschau mag vielleicht überzeugen, wie ungenügend und zutiefst inadäquat (zur kulturellen, sozialen und politischen Lage Italiens) die Parteien sich der Wahl stellen. Diese Unzufriedenheit ist nun schon im ganzen Land deutlich spürbar, und man spricht immer deutlicher von "weißen" Stimmzetteln. Aber die "neue Linke" besteht eben noch nicht, und wahrscheinlich wäre es absolut ungünstig, sie jetzt schon "parlamentarisch" zu bilden und damit wieder nach altem Muster festzufahren, bevor sie sich geistig genügend herausgearbeitet hat (wie es zur Zeit immer mehr politisch-kulturelle Gruppen in ganz Italien tun).

Neue Verteilung der Macht - ein Grundproblem

Jenseits der Parteien und Wahlalternativen aber bleiben die konkreten Probleme Italiens, die wohl auch in der nächsten Legislatur nur stückhafte Verbesserungen statt grundlegender Reformen erfahren werden, wenn der gegenwärtige Trend anhält. Vielleicht gibt es eine Grundlinie, die zur Lösung der Einzelfragen die notwendige Voraussetzung liefern könnte, nämlich eine neue und direktere Verteilung der Macht im Staat und in der Gesellschaft. Bei der herrschenden und unkontrollierten Machtkonzentration ist es nämlich unmöglich, effektive Reformen durchzuführen, da man an die eigentlichen Schwerpunkte des Systems gar nicht herankommt.

Diese Grundvoraussetzung könnte es vielleicht möglich mache, an die konkreten Probleme mit neuen Voraussetzungen heranzugehen. Diese Einzelfragen können hier nur ganz knapp und auszugsweise (als Beispiele, aber unvollständig) angegeben werden. Man denke etwa an das Grundproblem der demokratischen Staatsreform; bisher leidet Italien immer noch an einem Gebilde, das sukzessive von den Bourbonen, dem Liberalismus und dem Faschismus ererbt und inzwischen schon fast mythologisch geworden ist, aber praktisch häufig nicht funktioniert und die Rechte des Bürgers mit Füßen tritt, ohne andererseits imstande zu sein, die Probleme des Landes zu lösen. Somit werden die Einführung der Regionen, die Reform der öffentlichen Verwaltung, des Steuersystems, des undemokratischen Staatsapparates im ganzen vordringliche Aufgaben sei. Dann die Schule; es bedurfte der manchmal gewaltsamen Studentenunruhen, um den Staat und den Unterrichtsminister aus seinem Schlaf zu erwecken; dabei geht doch jede Reform im Staat notwendig über die Schule! Ferner denke man an die öffentliche Fürsorge, das Sanitätswesen, die Renten, die soziale Sicherheit im allgemeinen, usw. Oder an das Problem der Arbeit und Industrie: es wird sich darum handeln, neue Arbeitsplätze und eine gerechtere Verteilung des Reichtums zu gewährleisten (neue Verstaatlichungen, mehr Kontrolle über die Privatindustrie, besser Verteilung der Investitionen und des Kapitals). Auch die anachronistische und undemokratische Politik im italienischen Heereswesen muß endlich angegangen werden: oder etwa das Verhältnis zwischen Staat und Kirche, um zumindest von staatlicher Seite her das Konzil zu verwirklichen, wenn die Kirche nicht von selbst dazu Schritte unternimmt (Ehescheidung, Konkordat, "Entkonfessionalisierung" des Staates). Von der Außenpolitik gar nicht zu reden; europäische Einigung (aber ohne "großeuropäischen" Nationalismus!), Revision oder Austritt aus der NATO, Entwicklungshilfe, usw. sind nur einige wenige Schwerpunkte.

Hier mag ein Wort über Südtirol fallen: denn die Wahlen werden letztlich auch darüber entscheiden, ob sich die Südtirolpolitik des vernünftigen Moro oder die größenwahnsinnige und nationalistisch betonte Linie des sonst geschickten Fanfani durchsetzen wird. Aber es wäre an der Zeit, im Parlament diese Frage nicht mehr unter dem Gesichtspunkt der "Zugeständnisse" zu sehen, sondern als eines der vielen Probleme der Gerechtigkeit im Staate zu lösen.

Keine Wunderdinge

Sich von der nächsten Regierung Wunderdinge oder große Änderungen zu erwarten, wäre bestimmt verfehlt. Vielleicht müssen wir uns begnügen, mitzuwirken, dass sich zumindest eine Tendenz durchsetzt, die zur weiteren Auflockerung der Machtverhältnisse beiträgt, statt die bestehende - ungerechte - Machtverteilung noch mehr zu kristallisieren. Es muß verhindert werden, dass die Gesellschaft sich vom erbarmungslosen Rhythmus der Erfordernisse des Kapitals, der Produktion, des Verbrauchs, der Technik, beherrschen läßt. Andernfalls werden die Voraussetzungen auch für eine spätere Änderung jetzt schon zerstört.
pro dialog