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Zur "neuen Linken" in Südtirol: In fernen schau' ich aus

1.6.1968, Aus: die brücke Nr. 6
In der zweiten Nummer der "brücke" stellte ich ein Thema zur Diskussion, das bisher in Südtirol (zumindest in der deutschen Volksgruppe) als tabu galt und überhaupt kaum beim Namen genannt werden durfte, ohne die unglaublichsten Anschuldigungen hervorzurufen: das Problem der Linken in Südtirol.

Durch die völkische Auseinandersetzung hat man sich unter deutschen Südtirolern politische Konflikte und Diskussionen ja weitgehend erspart. Ein konservativer, ideologisierter Herrschaftsapparat hat dazu - manchmal bewußt und manchmal unbewußt - die Einseitigkeit und Unbeweglichkeit dieser nationalen Konzentration auf bestimmten Positionen gewährleistet. Dagegen wollte ich mit meinem Aufsatz eine vorerst geistige und kulturelle Überlegung und Debatte anregen, um auch in unserem Land zumindest an jene Probleme zu denken, die anderswo schon jahrelang erörtert und auch konkret verwirklicht werden.

Ein erster Erfolg scheinen mir die zahlreichen Diskussionsbeiträge (Gartner, Weber, Abart, Abram, Tappeiner, Sennhauser, Torggler, Volgger) zu sein: also ist die Frage doch auch bei uns aktuell, und man kann beginnen, sich darüber ernsthaft Gedanken zu machen. Ferner haben sich aus der Diskussion mehrere Aspekte ergeben, die in meinem Artikel kaum angedeutet oder jedenfalls ungenügend behandelt waren (besonders in den wertvollen Beiträgen Gartners und Webers, scheint mir).

Daneben hat sich allerdings auch gezeigt, wie fern wir in Südtirol noch vom Gang des zeitgemäßen politischen Denkens sein können; manche Beiträge sprechen eine nur noch bei uns verständliche (d. h. anderswo schon ausgestorbene) Sprache und werfen Fragen auf, die sich nur aus der "Sonderlage" Südtirols erklären lassen. Anderenfalls könnte ich nicht verstehen, wie man sich eine "Demokratisierung von oben" (vgl. Griechenland!) und eine Alternative durch eine SVP-Schwesterpartei erwarten kann (H. Abram), oder was man unter einer "fortschrittlichen, christlichen Partei" (ebenfalls Abram) versteht. Ist damit eine Partei nur für Christen gemeint? Denn auch eine Partei, die den christlichen Namen nicht ausdrücklich gebraucht (d. h. meistens "mißbraucht"), kann in christlichem Sinne handeln. Auch die Verwechslung des Existenzrechtes der konservativen und nationalistischen Rechten in einer Partei statt im politischen Gesamtsystem (Abram), sowie der optimistische Glaube an eine "SVP mit Abführmitteln" (nämlich ohne ihre Fehler und Krankheiten) oder wiederum an die SFP (Abart, Tappeiner), oder die Furcht vor allem, was von links kommt oder nach Sozialismus riecht (Sennhauser, Abram, z. T. auch Volgger) - all das legt Zeugnis ab für den "Status quo" der politischen Diskussion in Südtirol.

Es ist hier nicht am Platz und auch nicht möglich, auf jeden Diskussionsbeitrag einzeln einzugehen. Vielmehr sollen einige Schwerpunkte der Diskussion hervorgehoben und einige Probleme für die nächste Zukunft aufgeworfen werden.

Gretchenfrage "Marxismus"

Ich will darauf verzichten, noch einmal darzulegen, warum ich mir eine Alternative nur von links her erwarten kann. Es dürfte bei einiger Überlegung nicht schwer sein, die Entwicklung der Geschichte in diese Richtung festzustellen; über Begriffsbestimmungen näher zu streiten, scheint mir unnütz.

Hier aber erhebt sich die Gretchenfrage nach dem Marxismus, die ja auch tatsächlich in mehreren Beiträgen aufgeworfen wurde. Soll eine "neue Linke" marxistisch sein oder nicht?

Ich glaube, dass es an der Zeit wäre, auch den Marxismus und die Angst vor ihm zu entmythologisieren. Denn sofern das marxistische Denken (nicht nur seines Begründers, natürlich) zu einer realistischen Betrachtung der Gesellschaft und ihrer Ungerechtigkeiten und zur Ausarbeitung einer mehr oder weniger gültigen Hypothese zu deren Beseitigung geführt hat, scheint es mir nicht nur annehmbar, sondern ein notwendiger Bestandteil des politischen "Inventars" jeder Linkstendenz, die diesen Namen verdienen will. Sofern dann der Marxismus beansprucht, ideologische Gültigkeit zu besitzen und sich zu einer Art Ersatz-Metaphysik oder Ersatz-Religion aufspielen möchte, fällt die Diskussion darüber außerhalb des Bereiches der eigentlichen Politik und endet in der Weltanschauung. Persönlich lehne ich ihn in dieser Hinsicht ab, muß aber feststellen, dass die allgemeine Krise der "Weltanschauungen" auch den Marxismus in seinen vielfältigen Schattierungen erfaßt hat, und er - nebst anderen, auch sogenannten "christlichen" Ideologien - immer mehr zu Grabe getragen wird. Natürlich kann man dann noch über eine mehr oder weniger ideologisch definierte Linke diskutieren: zum Unterschied von der maoistisch orientierten Linken lehne ich eine "ideologisierte" (d. h. zur Weltanschauung erhobene) Politik auch linker Prägung ab. In Südtirol dürfte sich diese Frage wohl überhaupt nicht stellen. Eine politische Linke kann hier nur als Methode politischen Handelns verstanden werden, die natürlich auf geistige und kulturelle Voraussetzungen aufbaut, aber niemals beanspruchen könnte, einen "ideologischen" gemeinsamen Nenner zu finden.

Damit dürfte die Frage wohl annähernd beantwortet sein: Marxismus als weltanschauliches System: nein, Marxismus als Methode zur Interpretation und Umwälzung gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse: ja, soweit zeitgemäß und wissenschaftlich haltbar.

Daher auch die Absage an die Möglichkeit, sich einfach in die "alte Linke" zu integrieren, da sie sich als wesentlich unfähig erwiesen hat, in ihrer gegenwärtigen Form (vgl. die meisten kommunistischen Parteien des Ostens und viele des Westen) eine echte gesellschaftliche Alternative zu bieten und zudem zu viele (ehemals ideologiebedingte) Fehler begangen hat.

Opposition von "innen" oder von "außen"?

Die zweite Frage, die sich heute in Südtirol dringend stellt, ist jene nach der Opposition "im System" oder "außerhalb". Meine persönliche Ansicht ist, dass eine "systemimmanente" Linksopposition in Südtirol mehr noch als anderswo abzulehnen ist. Die SFP liefert den besten Beweis, wie man sogar dazu beitragen kann, den Überlebenskampf eines Systems zu verlängern, indem man ihm das Alibi einer inneren Opposition liefert, ohne jedoch aus der Gefangenschaft ausbrechen zu können. In Südtirol wiegt das "System" doppelt schwer: einmal wegen des völkischen Gegensatzes (weswegen ich fortfahre, eine "deutsche" oder "italienische" Partei abzulehnen), sodann wegen der Unfähigkeit, in einem so begrenzten Raum, unter so begrenzten Voraussetzungen, gesellschaftliche und politische Alternativen zu versuchen.

Gerade aus diesem Grund ist es - meines Erachtens - die wichtigste Aufgabe der Linksopposition heute in Südtirol, in verstärktem Ausmaß im "Vorfeld" (Gartner) zu arbeiten, um die Voraussetzungen zu schaffen, bald eine politische Alternative zu ermöglichen. Das wird einerseits heißen, sich auf kultureller, wirtschaftlicher, soziologischer, usw. Ebene mit den verschiedenen Problemen unserer Gesellschaft und der Gesellschaft im allgemeinen zu befassen, um dadurch das nötige Rüstzeug bereitzuhaben, wenn das "System" zufällig früher als erwartet von selbst zusammenbrechen sollte, oder um eben die Waffen zu schärfen, die es besiegen können. Andererseits wird es höchste Zeit, in Südtirol die gesellschaftlichen Kräfte ausfindig zu machen, auf die sich eine politsch-soziale Alternative stützen soll: praktisch bedeutet das, dass sich die Opposition unter deutschen und italienischen Südtirolern immer mehr ausbreiten muß, um nicht Gedankengut einiger weniger zu bleiben, während die Masse gläubig ihren (Ver)Führern nachläuft. Und schließlich muß, meines Erachtens, die Linke Südtirols immer mehr mit der politische, kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Linken in den Nachbarräumen (Italien, Österreich, Europa) in Verbindung kommen, um überhaupt lebensfähig zu sein und nicht eine unfruchtbare Absonderung zu riskieren.

Daran zu arbeiten, ist - nach meiner Meinung - vorderhand am wichtigsten. Andere kurzfristige Hypothesen aufstellen zu wollen, scheint mir persönlich noch übereilt. Wichtiger als unmittelbare Wahlergebnisse für die nächsten zwei oder drei Jahre sind die Vorarbeiten für eine gründliche und dauerhafte Änderung auf lange Frist.

Aber vielleicht ist die Unterscheidung zwischen langfristiger und kurzfristiger Arbeit heute schon überholt. Denn die Geschichte läuft schnell wie noch nie.
pro dialog