Alexander Langer Alexander Langer Schriften - Alexander Langer Südtirol - Alto Adige

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Bäuerliche Kultur und Folklore

1.4.1991, Aus "Antonius-Blatt"
In den fünfziger und sechziger Jahren zogen Leute durchs Land, die den Bauern weismachten, ihre alten Bauernmöbel seien nicht mehr zeitgemäß, und ihnen dafür Spanholz- und Kunststoffmöbel, Linoleumprodukte und sonstige Industrieerzeugnisse aufdrängten. Von "Tuifelemalern" geschaffene Bilder wurden da und dort durch neon-beleuchtete Fabrikate ersetzt und selbst das alte Kirchengestühl mußte "bequemeren" und "moderneren" - womöglich "gestylten" - Einrichtungsgegenständen weichen. Heute zieren viele dieser ausrangierten Bauernmöbel vornehme Villen, andere finden sich, mit entsprechenden Preisschildern versehen, bei den Antiquaren, die ehrlicherweise alle von jenem Händler ein Beispiel nehmen sollten, der da den Wahlspruch aufmalen ließ: "was sich Ihre Großmutter abschwätzen ließ, können Sie hier um teures Geld zurückkaufen". Schöne Höfe verwandeln sich - zum Glück in Südtirol eher selten - in Ferienwohnsitze für begüterte Städter (die natürlich meistens die Landwirtschaft verkommen lassen) und die bäuerlichen Trachten werden zu Staffagen für die Veranstaltungen der Kurverwaltungen und Hotels. Bis hin zum Glockengeläut, das mit Rücksicht auf den Schlaf der Gäste nur dann erklingen darf, wenn das Klischee es erfordert - möglichst mit romantischer Kulisse.

Der materielle Ausverkauf ländlicher Kulturgegenstände ist aber nur ein Aspekt dieser Mißentwicklung. Was noch viel tiefer geht, ist die geistige Austrocknung und Amputation. Diesbezüglich geht es in unseren Breiten nicht viel anders zu als in der "dritten Welt". Der erste Schritt ist meistens der aufdringlich eingehämmerte Vergleich zwischen dem "Reichtum" in Land und Stadt, bäuerlicher und industrialisierter Welt. Da bäuerlicher Reichtum zutiefst mit dem (langsamen) Rhythmus der Natur verbunden ist, kann er sich mit dem Wachstumstempo der Industrie- und Finanzwelt nicht messen - kurzfristig zumindest. Und wo die Verwandlung jeglichen Reichtums in Geld Trumpf wird, können bäuerliche Maßstäbe nicht bestehen: auch weil der meiste von Bauern geschaffene und erhaltene Reichtum zutiefst "sozial" ist, d.h. nicht nur dem vermeintlichen "Eigentümer" zugutekommt. Man denke nur an die Gesundheit des Bodens und des Waldes, an den Humusbestand der Abhänge, an die Pflege der natürlichen Kreisläufe, an die gute Luft u.v.m.

So setzt sich in den meisten bäuerlichen Gesellschaften die Überzeugung der Minderwertigkeit ländlicher Lebens- und Kulturformen sehr schnell durch - sobald eben der Geldmaßstab angelegt wird. Und entsprechend wächst der Druck auf die bäuerliche Bevölkerung (der ja sehr schnell verinnerlicht und damit um vieles stärker wird), sich ins Rennen um Geld zu stürzen.

Bäuerliche Kultur, die traditionell bei allen Völkern ein mühseliges, hart und geduldig erarbeitetes und eher karges Gleichgewicht mit der Natur zum Ausdruck bringt und somit eher den Stempel der Langsamkeit, der Bedächtigkeit, des nur äußerst vorsichtigen und gemächlichen Wandels und der Rücksicht auf langfristige Entwicklungen trägt, kann da nicht Schritt halten und muß unter dem Ansturm industrieller und finanzieller "Fortschritte" meist weichen. Fernsehen, Bargeld, Motorisierung, industrielle Machbarkeit, Mechanisierung von Haushalt und Landwirtschaft, Mobilität passen unmittelbar nicht in das Gewand bäuerlicher Lebens- und Kulturformen (nicht nur bei uns in Südtirol).

Die so geschaffene Überzeugung von der "Minderwertigkeit" bäuerlicher Kultur (wir könnten sie auch die systematische "Entwertung" bäuerlicher Lebensweisheit nennen) treibt viele Bauern in eine recht verzweifelte Alternative: entweder sich dem "Fortschritt" verschließen und ein hoffnungsloses Rückzugsgefecht führen (das meist schon in der nächsten Generation scheitert), oder sich anpassen und "modernisieren", wobei sie aber trotzdem oft unsicher und letztlich unangepaßt bleiben und zwar noch mit dem Fuß (eigentlich mit dem Traktor) auf bäuerlicher Erde stehen, sich aber mit dem Kopf schon in der städtischen Industriewelt befinden.

Was kann da wirksam dagegensteuern, wie kann sich ein Bewußtsein der Würde und des Wertes bäuerlicher Kultur und Lebensform erhalten, ohne in käufliche Folklore zu verkommen?

Letztlich gibt es keine sichere Antwort auf diese Frage. Denn solange der Geldmaßstab alles in der Gesellschaft bestimmt, ist eigentlich kaum einzusehen, warum Bauern heldenhafte bessere Menschen sein sollten, die den Sirenengesängen des Geldes tapfer widerstehen. Insofern geht diese Frage gewiß nicht nur die Bauern an.

Doch das Selbstwertgefühl, das es heute braucht, um einer bäuerlichen Kultur treu zu bleiben und trotzdem nicht völlig abseits von der zeitgenössischen Gesellschaftsentwicklung zu leben, kann im wesentlichen nur von innen kommen, von außen kann es höchstens unterstützt werden. Mag sein, daß die immer weiter verbreitete Rückbesinnung auf die Gefährdung der natürlichen Kreisläufe und auf den hohen Wert gesunder Natur dazu beiträgt, den Bäuerinnen und Bauern, und vor allem der bäuerlichen Jugend, das Bewußtsein zu stärken, daß ihre Kultur nicht minderwertig oder "unmodern" ist und daß jede Verwandlung in Folklore eine unverdiente Schändung und Demütigung enthält. Aber gesichert ist damit das Fortleben echter bäuerlicher Lebensformen noch lange nicht - weder in Südtirol, noch anderswo in der Welt.

Vielleicht kann es sein, daß die zunehmende Anzahl von jungen Menschen, die sich freiwillig entscheiden, Bauern ("Neubauern") zu werden und nicht selten in verschiedenen Ländern Europas schon aufgelassene Höfe und Dörfer neu besiedeln und bewirtschaften, ein bißchen dazu beiträgt, die Agri-Kultur in einem tieferen Sinne auch als Kultur, und als wertvolle Kultur, aufzuwerten und dem reinen Geld-Spiel von Angebot und Nachfrage zu entziehen. Und gewiß trägt das öffentliche Klima, aber auch die Gesetze und Förderungsmaßnahmen, viel dazu bei. Doch letztlich ist es wie mit der Pflanzendecke auf steilen Hängen: wenn die Erosion da einmal das meiste weggeschwemmt hat, ist es schwierig, den Hang mit künstlicher Aufforstung oder Begrünung wieder zum Leben zu bringen. Insofern ist die Verantwortung all jener, die heute vor der Entscheidung stehen, bäuerliche Kultur zu erhalten oder in geldträchtige Folklore zu verwandeln und einfach zu vermarkten, sehr groß und schon in der nächsten Generation wohl kaum noch einzubringen.


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