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Seine Majestät der Gast

13.11.1968, Aus: Die Brücke Nr. 13, November 1968
Fremdenverkehr - das Allheilmittel für Südtirols Wirtschafts- und Sozialprobleme?

Zu den in Südtirol ganz selbstverständlichen Dingen, die nicht angezweifelt und nur belobigt werden dürfen, gehört auch der Fremdenverkehr als Erwerbsquelle und primär wichtige Wirtschaftsform für unser Land.

Da aufgrund dieser Selbstverständlichkeit kaum je kritische Gedanken über diese Erwerbsquelle laut werden, sollen zumindest hier einige geäußert und zur Diskussion gestellt werden. Dabei handelt es sich bewußt nur um den Versuch, einige Schattenseiten aufzuzeigen: es soll also keine "ausgewogene" oder Vollständigkeit beanspruchende Analyse sein, sondern eher ein Hinweis auf Schwachstellen, die Überlegungen und Veränderungen erfordern, aber eben darum endlich einmal besprochen werden müssen.

1. Fremdenverkehr und Entfremdung

Eine erste Behauptung ist diese, daß sich in unserem Lande weithin feststellen läßt, wie sehr der Fremdenverkehr die Menschen Südtirols vor sich selbst fremd werden läßt, wie sehr er schwer zu verarbeitende Belastungen auferlegt.

Ganze Familien, Dorfgemeinschaften, Täler und dgl. stellen sich in den Dienst der Fremden, ohne kritische und distanzierte Haltung bewahren zu können und ohne dabei menschliche Erfüllung zu finden oder auch nur zu suchen. Eine servile Haltung ("seine Majestät, der Gast") dem Fremden gegenüber führt oft bis an den Rand der vollkommenen Verleugnung der eigenen Persönlichkeit (und oft auch über diesen Rand hinaus), und - was noch schlimmer ist - diese Verleugnung geschieht in einer Art freiwilliger Knechtschaft um Geld. Insofern unterscheidet sich die Lage der Selbständigen auf dem Gebiet des Fremdenverkehrs (Zimmervermieter, kleine Gasthofbesitzer u. ä.) von der Situation der Lohnabhängigen in der Industrie und auch im Fremdenverkehrsgewerbe selbst: diese bleiben sich zumindest meist ihrer Versklavung irgendwie bewußt (und können dadurch eine gewisse innere Spannkraft bewahren) währen jene gar nicht merken, wie stark sie sich - um Geld - der Knechtschaft ausgeliefert haben, und somit womöglich sogar die Illusion haben, "freie Menschen" (vielleicht sogar "freie Unternehmer") zu sein. Diese Art der Entmenschlichung führt in vielen Fällen dazu, daß sich die Betroffenen - nämlich die im Fremdenverkehr Beschäftigten - selbst nur noch als Funkton verstehen, die ohne jede menschliche Beziehung eben einfach gemietet und eingesetzt werden kann, wenn "entsprechendes" Entgelt vorliegt: Menschen werden Kellner, Stubenmädchen, Fremdenführer, Portiers u. a. und werden nur mehr nach ihrer Funkton eingestuft.

Dasselbe passiert natürlich nicht nur im Fremdenverkehr, sondern weithin in der Welt der wirtschaftlichen und moralischen Ausbeutung der arbeitenden Menschen, aber vielleicht liegen im hier besprochenen Fall einige besondere Umstände vor (siehe unten), die die Lage noch erschweren.

Inzwischen soll weiter untersucht werden, wie sich diese "Diktatur" der Urlaubsgäste auswirkt. Dabei geht es natürlich nicht so sehr um Einzelfragen (Freizeit, beschränkte Arbeitszeit, usw.), sondern mehr um die allgemeinen Zusammenhänge.

Da ist einmal an die weitere Entfremdung zu denken, die durch die Ansprüche der Fremden in weiten Gebieten des gemeinschaftlichen Lebens der "heimgesuchten" Gesellschaft hervorgerufen wird: ein falsches Leben wird häufig vorgespiegelt, weil man ja den prospektgemäßen Erwartungen der Touristen gerecht werden muß; also soll munter das kulturelle Leben, die Sprache, die Umgangsformen, die Wertvorstellungen und überhaupt der ganze Tagesablauf im weitesten Sinn sich so gestalten, daß ein bilderbuchhaftes Südtirol mit Erfolg dargestellt wird. Diese Verlogenheit wird häufig nur am Anfang als solche empfunden und von den Einheimischen solange auch mit einer gewissen inneren Distanz und fast mit Mitleid und Ironie dem Fremden gegenüber gespielt: aber man kann leicht beobachten ,wie schnell solches "Theater", solches "Spiel" - aus kommerzieller Gefälligkeit begonnen - Wirklichkeit, und aus Kultur somit Folklore wird, aus unmittelbarer eine gekünstelte Sprache, aus echten Überlieferungen gespielte Festlichkeiten, und im ganzen aus echtem Leben museales Tun. Diese "Diktatur" geht aber noch viel weiter: nicht nur spielt man dem Fremden das vor, was er sich erwartet und gewissermaßen mitbestellt und mitbezahlt hat ("Südtiroler Existenzkampf" unter Umständen inbegriffen), sondern man paßt sich überhaupt in vielem seiner Vorstellungwelt und seinem Denken durchaus unkritisch an: der Fremde ist nicht nur in den gewerbsmäßigen Beziehungen "Majestät", sondern beeinflußt auch mehr oder weniger stark die Welt des wehrlosen Einheimischen, dessen eigenes kulturelles Rüstzeug für eine kritische Auseinandersetzung natürlich nicht ausreicht (ein Erfolg der segensreichen Kulturpolitik der letzten zwanzig Jahre!): wer einigermaßen kritisch beobachten kann, wird die Auswirkungen in Südtirol auf den mannigfachsten Gebieten (Kunstgeschmack, Zeitungen - siehe Verbreitung der "Bild-Zeitung" und der deutschen Illustrierten, Umgangsformen, Sexualmoral, Glauben, kirchliche Praxis, Ausdrucksformen, usw.) feststellen können. Da es sich hier aber um unkritische Anpassung an nicht selbst verarbeitete und verkraftete Werte und Verhaltensweisen handelt, kommt es zu gefährlichen Desintegrationserscheinungen, die dann entweder in haltlose Nachahmung (mit oft grotesken Zügen) oder aber zu sturem Widerstand oder einfach zu inneren oder äußeren Spaltungen führen (d. h. man trennt sich in zwei oder mehrere Bezugssysteme, die untereinander nicht verbunden sind, weil eine solche Verbindung die Haltlosigkeit deutlich machen würde).

Parallel zur Anpassung an die Welt des Urlaubsgastes geht die Verdrängung des eigenen Lebens und der eigenen Welt vor sich: und die äußeren Symptome (die Familie lebt auf dem Dachboden, damit die Fremden die Stube benützen können; die einheimischen Kunden werden in den Geschäften nur mehr nachlässig bedient; das eigene kulturelle oder religiöse oder soziale Leben der Gemeinschaft wird durchaus beiseite geschoben, usw.) sind nichts anderes als Hinweise auf eine innere Haltung, die von Unsicherheit, Minderwertigkeitsgefühlen, Nachahmungstriebe, geldbedingtem Servilismus, u. a. geprägt ist.

Daß diese "Diktatur" des Fremden nicht auf eigentliche Gastfreundschaft im menschlichen Sinn (als bezieungsvolles Geben und Nehmen) zurückzuführen ist, braucht wohl nicht eigens angedeutet zu werden.1

2. Starke Abhängigkeit im Fremdenverkehr

Zum zweiten läßt sich - neben der Entfremdung - feststellen, daß der Fremdenverkehr noch mehr als andere Erwerbsformen zu Abhängigkeit und somit zum Ausgeliefertsein des Menschen führt. Im großen beginnt es damit, daß natürlich dieser Erwerbszweig noch stärker konjunktur-abhängig ist als andere: da es sich um ein Luxus-Verbrauchsgut handelt, ist er von den Schwankungen der Wirtschaftskraft stärker abhängig als andere Branchen, und verspürt in besonderem Maße die Rückschläge politischer, gesellschaftlicher und anderer Spannungslagen (siehe die diesbezügliche Auswirkungen des Terrorismus in Südtirol).

Darüber hinaus aber ist bekannt, daß bei den Lohnabhängigen im Fremdenverkehr die Abhängigkeit vom jeweiligen "Herrn" (Hotelier, usw.) viel stärker ist als in anderen Zweigen, weil eine gewerkschaftliche (kollektive) Wahrnehmung der eigenen Belange kaum möglich ist und sich also die ständige und direkte Konfrontation mit dem "Herrn" nicht vermeiden läßt. Daß dies zu vermehrter und fast unabwendbarer Ausbeutung führt, läßt sich auch leicht begreifen.2 Die Ausnützung wird vielleicht dadurch erträglicher (natürlich nur scheinbar erträglicher!) gemacht, daß man versucht, den Lohnabhängigen irgendwie mit am "Geschäft" zu beteiligen und somit Elemente der Akkordarbeit einführt (Trinkgeld, z. B.), oder indem man sich auf die saisonbedingte Mehrbelastung hinausredet und einen diesbezüglichen Ausgleich für die flaue Zeit in Aussicht stellt, wenn die menschliche Spannkraft aber vielleicht schon gebrochen ist durch die Überbeanspruchung der Saisonszeit. Darüberhinaus ist natürlich jede saisonbedingte Arbeit ein stärkeres Druckmittel auf die Arbeitnehmer, die sich in einer schwächeren Verhandlungsposition befinden, weil sie ja auch an die "mageren" Monate zu denken haben.

Noch ein Aspekt soll hervorgehoben werden (ohne daß damit alles gesagt wäre): vielleicht kann man die Funkton des Fremdenverkehrs in Südtirol auch dahingehend interpretieren, daß durch ihn gewisse sozial unhaltbare Zustände (Bauern, z. B) durch "Blutspenden" aus anderen Erwerbszweigen wieder erträglich und somit unexplosiv gemacht werden, ohne die Frage aber an der Wurzel angehen zu müssen.

3. Der Fremdenverkehr im völkischen Kampf

Diesbezüglich nur einige ganz kurze Bemerkungen und Hinweise: es ist bekannt, daß der Fremdenverkehr in Südtirol zu einem überwiegend großen Anteil in "deutschen Händen" liegt. Schon insofern könnte man vielleicht daran denken, daß hier wieder einmal - wie zufällig - völkische Interessen vorgeschoben werden, wo auch noch und vielleicht vor allem Lebensformen erhalten werden sollen, die eine soziale Umgestaltung als wenig aussichtsreich oder wahrscheinlich erscheinen lassen.

Darüber hinaus aber wäre es höchst interessant, einmal näher die Art des Gästepublikums zu untersuchen, das z. T. organisiert (durch oft sehr fragwürdige Heimatsbünde, und oft mit direkter Unterstützung politischer Stellen) nach Südtirol gepumpt wird. Gefährlich daran sind die möglichen Auswirkungen auf die einheimische Bevölkerung: wie oben angedeutet wurde, ist der Einfluß und das moralische Ansehen des Gastes (und seiner Meinungen) sowieso sehr hoch und gewichtig, ganz besonders, wenn es sich um bundesdeutsche Gäste (mehr noch als bei Österreichern) handelt; es wäre nun wohl wert zu untersuchen, welche Art von Beeinflussung von all jenen Kreisen ausgeht, die etwa von der "National- und Soldatenzeitung" aufgefordert werden in Südtirol ihren Urlaub zu verbringen (auf italienischer Seite ist zuweilen ähnliches zu vermerken, nur seltener, weil ja weniger Gastbetriebe in italienischem Besitz sind und diese faschistischen Kreise doch nicht gar so gerne für die "deutsche" Wirtschaft werben).

Folgerungen

Es wäre nun interessant herauszubekommen, wie weit solche Motive, wie sie hier aufgezeigt wurden, auch die auf Südtiroler Seite so rege betriebene Förderung des Fremdenverkehrs - eines vorläufig so wenig gefährlichen, weil so wenig revolutionären und leicht zu kontrollierenden Wirtschaftszweiges - ursächlich bestimmt haben, oder wie weit es sich wieder einmal um eines jener "zufälligen Zusammentreffen" von nationalen Motiven (Kampf gegen Überfremdung und Industrie, Erhaltung des tirolischen Landschaftsbildes, usw.) und konservativen Interessen handelt.

Bisher wurde kaum etwas gegen die hier aufgezeigten Aspekte unternommen. Einzig von kirchlicher Seite bemühte man sich um eine - allerdings äußerst stückhafte - Fremdenverkehrsseelsorge, die aber meistens bei ganz oberflächlichen Auswirkungen haltmachte und nicht auf die Ursachen vorzustoßen imstande (?) war: der Kampf ging dabei vorwiegend um Sonntagsmesse, Kruzifix an der Zimmerwand, Wachsamkeit gegenüber unverheirateten Paaren und eventuell Verteilung von Bibeln in Gastzimmern. Die tieferen Aspekte wurden dabei außer acht gelassen, würden aber vielleicht eine entsprechende Berücksichtigung verdienen.

Es soll nun beileibe nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttelt und der Fremdenverkehr als Erwerbszweig für Südtirol verdammt werden. Hier ging es darum, bewußt einerseits zur Reflexion aufzufordern, um bestimmte entfremdende und konservative Züge aufzuzeigen, die durch den Fremdenverkehr vorzüglich gefördert werden (es gäbe noch viele andere, doch sollte hier nur ein erster Stein des Anstoßes gesetzt werden). Es mag sein, daß es da und dort auch echt menschliche Beziehungen gibt, zwischen Gastgebern und Gästen (manchmal allerdings ist eine scheinbar menschliche Form nur ein Weg zu noch raffinierterer Unterdrückung oder Bevormundung), im ganzen aber ist unser Fremdenverkehr noch vordergründig auf rein wirtschaftliche Belange ausgerichtet und vergißt den Menschen. Es ist klar, daß es auch hier um eine Wahl geht: menschliche Erfüllung und wirtschaftliche Optimalleistung lassen sich meistens nicht vereinbaren (weil die zweite fordert, daß der Mensch zur möglichst reibungslos funktionierenden Maschine degradiert werde).

Dieser Beitrag wollte allerdings noch keine Lösungen aufzeigen, sondern einige Ansatzpunkte, die vielleicht eine Diskussion wert sind. Zu solcher Diskussion soll hiermit eingeladen werden.

1Es wird in diesem Beitrag bewußt verzichtet, die durchaus möglichen und höchst wünschenswerten positiven Auswirkungen des Fremdenverkehrs ("Gastfreundschaft" in jahrtausendealter menschlicher Tradition) aufzuzeigen. Das würde schon zum Problem "Gegentherapie" gehören, das hier diesmal nicht behandelt werden kann.

2Außerdem wird durch dieses starke Abhängigkeitsverhältnis und die Verhinderung kollektiver Organisation wirksam daraufhin gearbeitet, die gegebenenfalls revolutionäre, d. h. umgestaltend, wirkenden Kräfte zu isolieren und zu zerschlagen, was natürlich etwa in einer Fabrik viel schwerer ist.

Die Tendenz zur Aufsplitterung der Arbeitnehmer und ihrer Neutralisierung in möglichst kleinen und isolierten Gruppen läßt sich in Südtirol häufig beobachten. Hinweise darüber siehe in meinem Beitrag "Zum Selbstverständnis der Südtiroler" in "brücke" Nr. 8/9 - Juni 1968.

Ebenso entspricht es durchaus der Taktik des Südtiroler Establishments, möglichst viele kleine "Besitzer" mit scheinbarer Unabhängigkeit (Handwerker, Bauern, kleine Gastwirte, Kleinhändler, usw.) zu schaffen, die leichter in bestehende konservative Interessen integriert werden können, weil sie in der Illusion der eigenen Unabhängigkeit und Freiheit leben und sich somit energisch gegen "Proletarisierung" verwahren.
pro dialog