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Chancen und Hindernisse für eine Zweisprachigkeit in SüdtirolL

1.10.1983, Langer Archiv
Südtirol ist ein heute in Europa in dieser Art wohl einmaliger Fall institutionalisierter Mehrsprachigkeit (vor allem deutsch und italienisch, daneben in gewissem Maße auch ladinisch).

Stichworte zur Geschichte

Ehemaliges österreichisches Territorium, vorwiegend deutsch und ladinisch, besiedelt. Teil des mehrsprachigen alten Tirol, ist Südtirol am Ende des 1. Weltkriegs gegen den Willen der Bevölkerung von Italien annektiert worden. Im Laufe von rund 60 Jahren brachte dies große Veränderungen mit sich: staatlich geförderte Einwanderung italienischer Bevölkerung (heute ein schwaches Drittel), Industrialisierung der Talsohle, Minderheitensituation für die angestammte Tiroler Bevölkerung, italienischer Faschismus in Südtirol als auch nationale Unterdrückung, (auch als Reaktion darauf:) ziemlich hohe Identifizierung der Südtiroler mit dem Nationalsozialismus, Verbleib Südtirols bei Italien auch nach 1945 mit einem internationalen Vertrag zwischen Österreich und Italien für mehr Minderheitenschutz und Sonderautonomie (1946).

Die erste Antonomieregelung von 1948 wurde als ungenü-gend empfunden, man kämpfte um mehr. Ende 1971 wurde sie umfassend reformiert und erweitert. Diese Autonomiereform (_Südtirolpaket_) steht heute noch im Zuge der Durchführung, Österreich hat ein gewisses Mitspracherecht, eine gemischte paritätische Kommission (Südtirol Italien) arbeitet die betreffenden Bestimmungen aus.

Die _dominierende Minderheit_

Das Kräfteverhältnis zwischen den Sprachgruppen hat sich im Lauf des letzten Jahrzehnts im Zuge der Autonomiereform und einer auch dadurch bedingten wirtschaftlichen Expansion wesentlich geändert. Heute spricht man von den Tirolern in Südtirol als einer _dominierenden Minderheit_: Minderheit sind sie gegenüber dem Staat, dominierend im eigenen Territorium der »Autonomen Provinz Bozen Südtirol« mit weitgehend eigener Gesetzgebung und Verwaltung.»Politische Rahmenbedingungen

Heute leben in Südtirol etwa 430000 Menschen, davon zwei starke Drittel deutscher Muttersprache, ein schwaches Drittel Italiener, etwa 4% Ladiner, wobei fließende Übergänge und andere Volkszugehörige unberücksichtigt bleiben.

Die von der CSU-ähnlich ausgerichteten _Südtiroler Volks- partei_ maßgeblich regierten Landesbehörden betreiben eine Politik der ziemlich dezidierten Volksgruppentrennung, die von manchen Kräften als Vorstufe zur Selbstbestimmung (mit welchem Ziel bleibt unklar) verstanden wird. Der italienische Staat tole-riert diese Politik, da er an einem guten Verhältnis zur _Südtiroler_ Volkspartei interessiert ist; die ideologisch ähnlich ausgerichte-ten italienischen Lokalpolitiker bemühen sich ihrerseits, den italienischen Nationalismus als Sammelbecken ihrer Volksgruppe zu verwenden.

Eine Minderheit der Bevölkerung aller Sprachgruppen (politisch vor allem von der inter-ethnischen _Neuen Linken/Nuova Sinistra_ vertreten) strebt anstelle des dominierenden _Volkstumskampfes_ eine Linie der Zwei- und Mehrsprachigkeit an: durch diffuse Beherrschung und Verwendung zumindest der beiden wichtigsten Landessprachen (deutsch und italienisch) und Zugang zu mehreren Kulturkreisen sollen Barrieren abgebaut und interkulturelle Kommunikation und Zusammenleben erleichtert werden. Außerdem soll dadurch eine nicht rein ethnozentrische Polarisierung der Gemeinschaftsbildung gefördert werden und somit mehr Pluralismus und demokratische Auffächerung angestrebt werden.

Der positive Wert der Erhaltung und Pflege der ethnischen und kulturellen Identität der Sprachgruppen wird heute in Südtirol grundsätzlich von allen Richtungen anerkannt, wenn auch mit sehr verschiedener Akzentsetzung und praktischer Ausgestaltung, wobei die Verfechter einer fast völlig getrennten Entwicklung der Volksgruppen den Ton angeben. »Je klarer wir trennen, umso besser verstehen wir unsErrore. L'origine riferimento non è stata trovata.Sprachgruppenregistrierung 1981

Im Oktober 1981 wurde erstmalig jeder Südtiroler Bürger unter Androhung rechtlicher Sanktionen und Verlustes zahlreicher Rechte gezwungen, seine individuelle und auf mindestens 10 Jahre verbindliche Zugehörigkeit zu einer der drei legal anerkannten Sprachgruppen zu erklären und registrieren zu lassen. Diese Maßnahme wurde, trotz erheblicher Proteste von Minderheiten, einvernehmlich von der Staats- und Landesregierung vorgenommen und hat eine Stärkung der deutschen (66,5%, +3,5% gegenüber 1971) und ladinischen (4,1%, +1,4%), sowie eine Schwächung der italienischen Sprachgruppe (29,4%, 3,9%) verzeichnen lassen.

Sprachensituation

Von der Sprachensituation her gesehen, sind de facto die meisten deutschsprachigen Südtiroler (und erst recht die Ladiner) imstande, genügend italienisch zu sprechen und zu verstehen oft schon in der 2. oder 3. Generation. Aus der Not, die Staatssprache lernen zu müssen (was früher unerläßlich war), haben sie eine Tugend gemacht, die heute einen sehr konkreten und spürbaren Vorteil am Arbeitsmarkt darstellt.

Zugleich haben die deutschsprachigen Südtiroler zwar (zu Recht) immer die gleichberechtigte Anerkennung des Deutschen als Amtssprache verlangt, aber keinerlei nennenswerte Anstrengung unternommen, ihren italienischsprachigen Mitbürgern das Erlernen der deutschen Sprache zu erleichtern. Im Gegenteil, vielleicht sah man in der Unkenntnis des Deutschen von seiten der Italienisch-Südtiroler auch eine Art Garantie für deren Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Minderheit.

Heute verbietet die Südtiroler Landesregierung geradezu der italienischen Sprachgruppe, ihren Kindern einen frühzeitigen Vorschulkontakt zur deutschen Sprache zu vermitteln, was von vielen italienischsprachigen Eltern intensiv angestrebt wird.

Die allermeisten italienischsprachigen Bewohner Südtirols sind hingegen nicht zweisprachig und verstehen nur wenig oder kein Deutsch. Dafür hat die italienische Sprache als Staatssprache immer noch einen besseren Rechtsstatus und eine gewisse Dominanz im öffentlichen und normierten Bereich. Allerdings ist die Gleichstellung der beiden Sprachen im Lande gesetzlich festgelegt und die (durch Prüfung nachzuweisende) _Zweisprachigkeit_ sämtlicher Angehöriger des öffentlichen Dienstes, mit Ausnahme der militarisierten Einrichtungen, vorgeschrieben und zwingendes Einstellungserfordernis.

Mundart

Zu berücksichtigen ist, daß die deutschsprachige Südtiroler Bevölkerung als Haus- und Alltagssprache die Mundart verwendet. Deshalb ist der Erwerb der deutschen Hoch- und Umgangssprache vor allem für Kinder im ländlichen Raum mit einer gewissen Anstrengung verbunden.

Besonders für die Italiener und Ladiner ist es schwer und oft nahezu unmöglich, die verschiedenen Ebenen der in Südtirol verwendeten deutschen Sprache zu erwerben.

Sozialstruktur

Die Sozialstruktur der beiden größeren Sprachgruppen (die Ladiner können diesbezüglich zusammen mit der deutschen betrachtet werden) weist immer noch merkliche Unterschiede auf, allerdings in minderem Maße als in der Vergangenheit. Dies wirkt sich natürlich auch auf die Verwendung der beiden Hauptsprachen aus. In der deutschsprachigen Bevölkerung dominieren die mehr traditionellen Erwerbszweige wie Landwirtschaft, Handwerk, Handel, Fremdenverkehr, Kleinbetriebe, Lokalverwaltung; in der italienischsprachigen Bevölkerung sind Industriearbeit, öffentlicher Dienst (vor allem Staatsdienst), Baugewerbe überproportional vertreten, wobei zudem die deutschsprachigen Südtiroler stärker auf dem Land, die italienischsprachigen mehr in der Stadt zu finden sind.

Mit Ausnahme von Grenzfällen (etwa: Landwirtschaft/ deutsch, Militär und Polizei/italienisch) gibt es keine ausnahmslose Domäne der einen oder anderen Gruppe.

Positive Voraussetzungen

Gute Voraussetzungen sind, unter anderem:

a)der Stellenwert der beiden Sprachen ist heute sehr ähnlich. Die beiden Sprachen genießen vergleichbares Sozialprestige (was früher, zur Zeit der Diskriminierung der deutschsprachigen Südtiroler nicht der Fall war und auch in Zukunft nicht mehr so sein könnte, wenn z.B. eine revanchistische Politik die Benachteiligung der Italiener im Schilde führen oder, vielleicht als Reaktion darauf, der Staat seinerseits den Spielraum der Tiroler Minderheit wieder beschneiden sollte); beide Sprachen kommen in breiter Diffusion vor, die Unterschiede in den Geltungsbereichen gleichen sich in etwa aus;

b)beide Sprachen genießen heute ähnlichen Rechtsschutz (Differenzen, die es gibt, kompensieren sich beispielsweise durch die unterschiedliche ökonomische Stärke der Sprachgruppen);

c)die beiden Sprachen sind durchaus wettbewerbsfähig; es handelt sich um zwei große, aneinander angrenzende europäische Kultursprachen, die _rangmäßig_ zweifellos vergleichbar sind;

d)das reale Vorkommen der beiden Sprachen ist in etwa äquivalent, die Sprachen werden vielfach gleichzeitig gesprochen (Geschäfte, Ämter, Arbeitsplätze, Stadt, Familie, usw.); Übergänge, auch viele Male täglich, sind keine Seltenheit; in vielen (auch familiären) Bereichen gibt es regelrechte Misch-Situationen;

e)die Minderheit im Staate ist Mehrheit im Lande, das Staatsvolk hingegen ist auf lokaler Ebene in der Minderheit; ökonomisch sind viele Bereiche eher eng verflochten; die beiden Gruppen sind durchaus konkurrenzfähig, wenn auch ungleich stark;

f)die gesetzlich geforderte Zweisprachigkeit im öffentlichen Dienst zwingt einen erheblichen Teil der Bevölkerung sowieso zur Erlernung beider Sprachen;

g)beide Sprachen haben einen durchaus vitalen Kontakt zum jeweiligen Mutterraum und sind dadurch gegen Verkümmerung und Isolierung besser geschützt;

h)im gegenwärtigen historischen Augenblick besteht vielleicht zum ersten Male, und für wie lange? in beiden größeren Sprachgruppen in vergleichbarem Ausmaß die Einsicht in die Notwendigkeit/Nützlichkeit, die zweite Sprache zu erlernen, bzw. dafür zu sorgen, daß zumindest die Kinder sie lernen.

Politische Hindernisse

Die Gegenindikationen kommen im wesentlichen von der politischen Führung, die offensichtlich (und in gewissem Maße in beiden Gruppen) befürchtet, eine allzu verbreitete Zweisprachigkeit könnte die Besitzansprüche der einen oder anderen Seite in Frage stellen oder den ethnisch-politischen Zusammenhalt der Gruppe gefährden und neue Formen der Solidarität auch über die Grenzen der eigenen Sprachgruppe hinweg möglich machen.

Daher besteht von dieser Seite her die Tendenz, aus der Zweisprachigkeit eher _zweimal Einsprachigkeit_ zu machen: näm- lich getrennte Geltungsbereiche für die beiden _gleichberechtigten_ Sprachen. Diese Trennungspolitik arbeitet systematisch und Schritt für Schritt. Noch ist man zwar nicht bei getrennten Sprachkantonen angelangt (die aber von mancher Seite schon angeregt werden), doch greift die Trennung auch durch die gezielte Wirkung entsprechender behördlicher Maßnahmen in Kultur, Schule, Freizeit, Sport, Politik, Kirche, Wohnen, Amtssprache usw. immer mehr um sich und frißt zunehmend auch in den ökonomischen und gewerkschaftlich-sozialen Bereich eine regelrechte _Entmischungsstrategie_.

Die schon erwähnte individuelle Festschreibung sämtlicher Bürger nach Sprachgruppen (Kinder inbegriffen) mit Verleihung des entsprechenden Status mit zum Teil noch ungeklärten Folgen war der bisherige Höhepunkt dieser Trennpolitik.

Unter diesen Umständen ist es also kein Wunder, wenn die Konflikte zwischen den Sprachgruppen steigen und die oben beschriebenen positiven Voraussetzungen für Zweisprachigkeit mehr und mehr in Frage stellen.

Historische Sternstunde?

Aufgrund des bisher Gesagten möchte ich die Behauptung wagen, daß es in Bezug auf Gemeinschaften ähnlich wie bei Individuen günstige und weniger günstige Phasen für den Spracherwerb gibt.

Bei Gemeinschaften sind natürlich sozialpsychologische, kulturelle, historische und gesellschaftspolitische Momente wesentlich stärker als entwicklungspsychologische oder pädagogische Faktoren. Die gesellschaftliche Bewertung und Verarbeitung der Zweisprachigkeit und vor allem der Beziehungen zwischen den Sprechergruppen (_Kultur des Zusammenlebens_) spielen dabei die ausschlaggebende Rolle. Im Fall Südtirols besteht heute die konkrete Gefahr, daß politisch erzeugte nationalistische Engstirnigkeit eine vielleicht in Europa einmalige historische Chance vertut auch auf die Gefahr hin, daß die heute gegebene relativ positive Konjunktur sich vielleicht nie mehr einstellt und die Anheizung von Konfliktbereitschaft die Kontakt- und Begegnungsmöglichkeiten belastet oder gar zerstört, um Exklusivansprüche anzumelden und durchzusetzen versuchen. Was also heute not tut, ist eine außergewöhnliche Anstrengung der gesamten Südtiroler Gesellschaft was nicht ohne den politischen Willen der verantwortlichen Behörden erreicht werden kann zum systematischen Erwerb breitgestreuter Zweisprachigkeit, etwa einer richtiggehenden Alphabetisierungskampagne vergleichbar.

Die Alternative zur Bereitschaft zu Zweisprachigkeit und Zusammenleben heißt wahrscheinlich Volkstumskampf und übersteigerter Ethnozentrismus.

Europäisches Interesse

Daß in Südtirol selbst die gesamte Sprachenfrage vor allem als volkstumspolitisches Streitobjekt verstanden und behandelt wird, darf nach dem Gesagten nicht wunder nehmen. Um so schmerzlicher empfindet man das Fehlen jeglicher wissenschaftlicher Institution auf lokaler Ebene, die den zahlreichen Problemen der Mehrsprachigkeit ihr qualifiziertes Forschungsinteresse widmen würde (nebenbei gesagt: trotz aller politischer Alarmrufe über das _gefährdete Deutschtum_ hat man es in Südtirol auch versäumt, eine entsprechende Institution zur Pflege der deutschen Sprache zu schaffen).

Bei der Bewältigung dieses und ähnlicher lokaler Konflikte könnte eine größere, und somit relativierende Öffentlichkeit eine wichtige Rolle spielen. Eine breitere sowohl wissenschaftliche wie europäische Aufmerksamkeit gegenüber den Problemen dieser Region würde sich zweifellos positiv auswirken auch im Interesse wissenschaftlicher Erforschung und europäischer Bewältigung solcher Entwicklungen und Konflikte.

Südtirol als Modellfall?

Interessant wäre es, über den Modellfall Südtirol hinaus, aber auch anhand dort erworbener Erfahrungen und Erkenntnisse und im Vergleich mit anderen Situationen zu untersuchen, ob unter den genannten Voraussetzungen Zwei- oder Mehrsprachigkeit ohne Bastardisierung der beteiligten Sprachen möglich ist (wie wir aufgrund der bisher vorliegenden Erfahrung im wesentlichen annehmen), und ob Südtirol nicht vielleicht auch für manch andere Situation exemplarischen (positiven oder negativen) Wert haben könnte, gerade mit Rücksicht auf die Probleme einer _Kultur des Zusammenlebens_. Ich denke dabei vor allem an andere Minderheiten oder Mehrsprachigkeitsgebiete, mitinbegriffen das Problem der Arbeitsimmigranten.
pro dialog