Alexander Langer Alexander Langer Schriften - Alexander Langer Südtirol - Alto Adige

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Stiefvater Staat

1.1.1968, Aus: die brücke Nr. 3
Wir wissen es ja, wir Südtiroler sind anders. Nicht immer danken wir Gott, daß wir nicht sind wie jene, aber wir sind jedenfalls "in einer besonderen Lage". Manchmal leiden wir darunter, manchmal tun wir alles, um die bestehenden Verhältnisse zu bewahren. Es ist nicht immer leicht festzustellen, bis zu welchem Grad es Schuld der tatsächlichen Umstände ist, daß wir so isoliert leben (darauf wird noch einmal näher zurückzukommen sein) und inwieweit wir selber die Verantwortung dafür tragen.

Bestimmt ist es aber in Südtirol notwendig, in ehrlicher Selbstbesinnung zahlreiche Beziehungen neu zu überdenken: wir müssen auf fast allen Gebieten neue Maßstäbe gewinnen, wenn wir nicht in geistiger Hinsicht ein Naturschutzpark für vorzeitliche Wesen werden wollen.

Da es auf kulturellem Gebiet nicht so durchaus eindeutig ist, welche Beziehungen und Maßstäbe für Südtirol heute nottun, mag unterdessen ein Problem untersucht werden, dessen Evidenz es gestattet, ohne große Streitigkeiten über Präliminarfragen eine kritische Betrachtung zu wagen. Es handelt sich dabei um das Verhältnis der Südtiroler und Südtirols zum Staat.

Mitmachen im Staat
Es ist klar, daß es sich dabei um den italienischen Staat handelt: diese Tatsache nicht erkennen oder mit dem Gedanken auf diesbezügliche Änderungen spielen zu wollen, wäre Illusion und politischer Unsinn. Wer darüber noch Zweifel hätte, sei an die weisen Worte Magnagos, Volggers und Benedikters bei der letzten SVP-Landesversammlung erinnert.

In der Wirklichkeit aber ist es dann gar nicht so selbstverständlich, daß die Realität des italienischen Staates entsprechend berücksichtigt wird. Immer noch gibt es - auch unter den Politkern - Leute genug, die den Tatsachen ausweichen und ihren Gefühlen und Sehnsüchten Raum geben, wo sie durchaus nicht am Platz sind, nämlich in der Politik. Wenn in Kultur- und Geistesleben eine Anlehnung an Österreich und den deutschen Sprachraum lebensnotwendig ist, heißt das noch lange nicht, daß dieselben Kategorien für die Politik gelten, zumindest nicht unter gewöhnliche Umständen (die Verhandlungen um die Neuordnung der Autonomie bilden hier eine Ausnahme, da es sich dank des Pariser Vertrages um eine zwischenstaatliche Frage handelt). Es schient mir deshalb dringend notwendig, mutig die italienische Innenpolitik anzugehen und "mitzumachen", ohne sich von irgendwelchen Vormündern oder (zudem unzuständigen) Ratgebern etwas dreinreden zu lassen oder politische Kontakte weiterhin mehr nach Norden als nach Süden zu orientieren.

Es handelt sich beim Verhältnis Südtiroler - Staat darum, baldigst eine Normalisierung der gegenwärtigen Zustände herbeizuführen, und zwar gegenseitig. Das setzt eine ehrliche Untersuchung und viel guten Willen voraus. Vor allem fordert es von den Südtiroler, sich loyal und ohne Vorbehalte als Bürger des italienischen Staates anzuerkennen und am Leben des Staates und der politischen Gemeinschaft in jeder Hinsicht teilzunehmen. Psychologisch braucht es dazu sicherlich eine tiefgreifende Umstellung: es kann einem Südtiroler nicht "wurscht sein, wos dö Walschen unter sich tien", sondern er muß erkennen (ob es ihm gefällt oder nicht), daß er demselben Staatsverband angehört und dieselben Probleme mitlebt.

Los von der "Krähwinkel-Perspektive"!

Eine erste und folgenschwere Umstellung bezieht sämtliche gängigen Südtiroler Horizonte und Maßstäbe ein; wir sind nunmehr seit Jahrzehnten gewöhnt, die Welt aus unserer "Krähwinkel-Perspektive" heraus zu messen und zu beurteilen. Auf politischer Ebene in Bezug auf den Staat bedeutet das, daß heute noch die offizielle Südtiroler Politik und Publizistik Zustände, Ereignisse und Persönlichkeiten auf Südtirol bezogen betrachtet, wodurch sich oft ganz beträchtliche Fehlurteile ergeben. Ein Politiker oder Journalist, der einmal ein freundliches Wort über Südtirol fallen läßt, gilt dann gleich als "gut", während bedeutende Gestalten, die sich mit unserem Problem nicht befassen oder befaßten, vor dem Tribunal unserer Geschichtsschreibung und Weltbetrachtung schlecht wegkommen. Die Welt teilt sich also in "Freunde Südtirols" ein und solche, die diesen Titel nicht aufzuweisen haben (hier wieder zwei Unterkategorien: Feinde Südtirols und Gleichgültige). Auch soziale, rechtliche, verwaltungsmäßige und andere Zustände werden meist aus der "Krähwinkel-Perspektive" heraus gesehen: schlecht ist, was uns Südtirolern weh tut, wobei wir uns selten fragen, ob vielleicht auch andere darunter leiden und ob man vielleicht mit ihnen zusammen an einer Änderung interessiert sein könnte.

Gewisse Mißstände gibt es nämlich nicht nur in Südtirol: daß Italien z. B. vielfach noch an einen Polizeistaat erinnert (siehe etwa SIFRA-Skandal, Paß- und Meldewesen, usw.), ist nicht nur in Südtirol so und nicht aus Gehässigkeit gegen die Südtiroler. Es wäre also an der Zeit, derartige Mißstände auf gesamtstaatlicher Ebene zu beklagen und zu beheben. Die Südtiroler müßten dazu zuerst in einer allgemeinen Neubesinnung sämtliche althergebrachten Relationen durchdenken und überprüfen, und sich dann daran machen, mitzuarbeiten, damit bestimmte Dinge anders werden. Hier stellt sich z. B. die Frage nach der Haltung der SVP im Parlament: man wird sich nie klar darüber, ob die Volkspartei eigentlich zur Regierung oder zur Opposition gehört. Gewöhnlich bliebt es bei einem zaghaften "jein" zur Regierungserklärung und bei der ständigen Unschlüssigkeit, der Regierung in kritischen Fällen Schützenhilfe zu leisten (gegen kleine Freundschaftsdienste) oder die eigene Kritik gemeinsam mit den Oppositionsparteien vorzubringen, in denen man wieder "weltanschaulichen" Pestilenzgeruch wittert. Man hat dabei aber den Eindruck, die Parlamentarier aus Südtirol (d. h. der SVP) kämen immer irgendwie oder irgendwo zu spät. Der Anschluß im richtigen Moment und auf der richtigen Seite wird gewöhnlich versäumt. So kommt es, daß sich dann in den seltenen Fällen, da Südtiroler Abgeordnete sich äußern (z. B. gegen Übergriffe in Südtirol (sie meistens allein auf weiter Flur bleiben und nur ganz selten imstande sind, die Teilproblematik in die Gesamtproblematik der italienischen Demokratie einzubauen. So hätte man sich z. B. im Lauf der Debatte über Sardinien und die dort üblichen Polizeimethoden sehr wohl einen Diskussionsbeitrag durch einen Südtiroler Parlamentarier erwarten dürfen, aus der allgemeineren Sicht heraus, die jene Frage in Italien aufgeworfen hat und in Anbetracht gewisser Parallelen zu Südtirol. Aber ist es, darüber hinaus, zuviel verlangt, wenn man fordert, daß sich Südtiroler (gewöhnliche Bürger und Parlamentarier) mit den Problemen befassen, die das gesamte Staatsleben betreffen und deshalb auch Menschen anderer Volkszugehörigkeit und Kultur angehen? Da kann es sich um Außenpolitik oder das Fürsorgewesen, um die Regionen oder die Schulreform, um die Justizverwaltung oder die Staatsbürokratie handeln, schließlich haben alle diese Fragen ihre Auswirkungen auf Südtirol (wenn schon andernfalls kein Interesse dafür herrschen sollte).

Kritik "von innen"

Wesentlich scheint mir, daß sich auch die Kritik der Südtiroler an Staat und Regierung in eine "Kritik von innen" verwandelt, nicht weiterhin Polemik "von außen" bleibt. Sonst werden wir Südtiroler auch in Zukunft nicht Staatsbürger im vollen Sinne sein oder uns als solche fühlen. Wir dürfen doch den Staat nicht als fremd und außenstehend - uns jedenfalls feindlich oder im besten Fall egal - ansehen, sondern müssen mitarbeiten. Es handelt sich also um eine grundlegende Normalisierung von Südtiroler Seite, die zu einem Vertrauensverhältnis oder zur (auch scharfen) Kritik "von innen" führen kann, aber in jedem Fall ein rechtliches und politisches Zugehörigkeitsgefühl erfordert. Solange das fehlt, dürfen wir uns über mache Mißverhältnisse kaum wundern (z. B. die geringe Anzahl der Südtiroler, die in den Staatsdienst treten).

Natürlich kommt auch hierin der politischen Bildungsarbeit und vor allem der Presse eine vordringliche Verantwortung zu. Wer sich überzeugen will, in welcher Weise man der Verantwortung begegnet, denke an die von der SVP vermittelte politische Information und Ausbildung (z. B. ihrer Mandatare und Funktionäre) oder an die Berichterstattung in den "Dolomiten", die trotz so mancher Bemühungen (z. B. die Kommentare des Herrn "B.") wohl kaum geeignet sein dürfte, den Südtirolern den Anschluß an diese Ereignisse zu vermitteln oder zu erleichtern.

Damit möchte ich den ersten Teil dieser Betrachtung beschließen. Das Ergebnis - diesmal politisch gesehen, aber mit Seitenblick auf Geistlichkeit, Kultur, Gesellschaft, usw. - lautet: deprimierender Provinzialismus, auch manchmal als "Krähwinklertum" bezeichnet.

Und der Staat?

Jetzt handelt es sich darum zu untersuche, ob der Staat seinerseits etwas dazu tut, diese Engstirnigkeit der Südtiroler überwinden zu helfen und ihnen tatsächlich das Gefühl zu geben, vollwertige und durchaus "normale" Staatsbürger zu sein.

Auch in dieser Richtung fällt das Ergebnis der summarischen Analyse nicht besonders ermutigend aus. Neben den zahlreichen und zu Recht beklagten Ungerechtigkeiten (z. B. mangelnde Doppelsprachigkeit und Gebrauch der deutschen Sprache in öffentlichen Ämtern, u. ä.) auf lokaler Ebene, haben wir es durchaus mit einem autonomiefeindlichen Staat zu tun, dem es z. B. erst zwanzig Jahre nach Erlaß der neuen Staatsverfassung gelungen ist, für die darin vorgesehene Regionalordnung vorerst einmal das diesbezügliche Wahlgesetz (fast) zu genehmigen. Wenn also der Staat es im allgemeine nicht recht verstanden hat, auf jeweils lokaler Ebene (in fast ganz Italien) heimisch zu werden, so ist dieser Aspekt in Südtirol besonders schwerwiegend. Hier hat man mehr als anderswo (etwa in Sardinien oder Sizilien) das Gefühl, es mit einer Besatzungsmacht zu tun zu haben. Das liegt nicht nur an den ungeschickten Funktionären mit dem meist so geringen Einfühlungsvermögen in Südtiroler Zustände (ganz abgesehen von der Sprache), sondern an einem immer noch latenten Mißtrauen, das der Staat seinen Südtirolern deutscher Muttersprache bei allen möglichen Gelegenheiten mehr oder weniger offenbar zu Gemüte führt. Vielfach scheint (zumindest auf psychologischer Ebene - d. h. im unerforschlichen Ratschluß der staatlichen Funktionäre) der Südtiroler ein potentieller Staatsfeind zu sein, oder mindestens ein Staatsbürger zweiter Kategorie, dem man vorsichtshalber vorderhand mißtraut, solange er nicht den Gegenbeweis erbringt.

So kommt es z. B., daß es heute noch ein Ding der Unmöglichkeit schient, überhaupt nur daran zu denken, Südtiroler könnten gewisse staatliche Spitzenstellen in Südtirol bekleiden, und somit ihren Mitbürgern gegenüber den Staat repräsentieren; ich denke hier etwa an das Amt eines Regierungskommissärs, Schulamtsleiters, Rundfunkintendanten, Provinzialarztes und -tierarztes, usw. Es scheint hingegen einer stillschweigenden "consuetudo" zu entsprechen, daß derartige Stellen und überhaupt alle hohen staatlichen Funktionärsstellen Staatsbürgern erster Kategorie vorbehalten sind, da man doch nicht präsumptive Rebellen gegen die Staatsgewalt beauftragen kann, eben jenen Staat auch noch ihren eigenen Mitbürgern gegenüber zu vertreten! Ferner wirkt es ausgesprochen unangebracht, daß der Staat sich in Südtirol manchmal mehr um das Wohl der italienischen Bürger anzunehmen scheint und sich gewissermaßen zu ihrer Schutzmacht aufspielt (man erinnert sich z. B. etwa, daß man in der Neuordnung der Autonomie daran dachte - oder noch denkt? -, die deutsche Schule dem Land zu überstellen, die italienische Schule aber dem Staate vorzubehalten), was wiederum dazu angetan ist, zwei Kategorien von Bürgern zu schaffen. Schließlich mußten und müssen die Südtiroler auf interner Ebene auch ohne Schutzmacht auskommen (auch wenn es noch nicht alle eingesehen haben)!

Wenn man ferner bemerkt, daß im gewöhnlichen Sprachgebrauch das "Paket" als eine Summe von "Zugeständnissen" bezeichnet wird - fast ein zu großzügiges Geschenk von Gottes Gnaden -, dann muß man feststellen, daß auch der Staat nicht viel dazu tut, um den Südtirolern den Eindruck zu vermitteln, daß sie vollauf Staatsbürger sind, daß er auch für sie "Vater Staat" ist, nicht nur "Stiefvater". Es gäbe hier noch zahlreiche andere Argumente, etwa die Vormund-Rolle, die dem Trentino zugewiesen wird oder die Verwendung staatlicher Gelder in Südtirol (der Innenminister wüßte darüber vielleicht mehr zu berichten...), doch mag es genügen, um die Behauptung zu erhärten, daß sich der Staat häufig nur als "Stiefvater" seiner Südtiroler Söhne gebärdet.

Ansätze zur Normalisierung?

Beiderseits also handelt es sich darum, eine Normalisierung der gegenseitigen Verhältnisse anzustreben. Das bedeutet nicht, daß man "die Waffen strecken" muß, beziehungsweise daß die Südtiroler oder der Staat auf ihre gerechten Ansprüche verzichten müssen, sondern will heißen, daß die Auseinandersetzung immer mehr auf eine neue Ebene getragen werden soll.

Das Verhältnis, das bisher vielfach noch immer die Spannung Besatzungsmacht - feindliche Eingeborene (und umgekehrt) aufweist, muß sich in ein Zusammenleben gleichwertiger Staatsbürger wandeln, die sich im Rahmen rechtlicher Institutionen befinden (Staat, Land), welche gleichermaßen "Vater" für die einen und anderen sind, nicht "Stiefvater" (Staat den Südtirolern gegenüber, Land den Italienern) oder feindliche Institution für die eine der beiden Volksgruppen.

Die angestrebte Erweiterung der Autonomie ist eine notwendige Voraussetzung und kann zu dieser Normalisierung des Verhältnisses eine große Mittlerfunktion ausüben, da sie den Bürgern den Staat näher bringt und heimischer macht. Doch ist es klar, daß eine volle Normalisierung nur erreicht werden kann, wenn endlich der "circulus vitiosus" gesprengt wird, der vorläufig die Lage prägt: die Südtiroler "können" keine guten Staatsbürger sein und dem Staat nicht vertrauen, weil der Staat ihnen nur "Stiefvater" ist: der Staat "kann" den Südtirolern nicht Vertrauen entgegenbringen, solange sie nicht beweisen, daß sie es mit der Loyalität ernst meinen.

Vielleicht wäre es an der Zeit, inzwischen zu beginnen, auf die Verwirklichung der Demokratie in allen Lagern zu pochen und sich der "Schutzmächte" mehr und mehr zu entledigen, mögen sie nun Zentralstaat, Österreich oder Trentino heißen. Dazu bracht es beiderseits Mut und Vertrauen, denn es besteht natürlich die Möglichkeit eines Mißbrauches: das gehört eben zum Wagnis der Demokratie.
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