Alexander Langer Alexander Langer Schriften - Alexander Langer Südtirol - Alto Adige

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Johann Pircher: Vergessen, nicht bereut

1.5.1985, Arbeitsgemeinschaft Antifaschismus, Innsbruck, Mai 1985
Eigentlich müßte man sich schon fragen, warum der Nationalsozialismus in Tirol - südlich und nördlich des Brenners - einen so leichten und letztlich triumphalen Einzug halten konnte. Hatte sich doch das Tiroler Volk seit Jahrhunderten durch ausgeprägtes Mißtrauen und Verschlossenheit gegenüber neuen und von außen kommenden Ideen und Ideologien ausgezeichnet.

Das letzte Mal, als eine Botschaft von außen auf Zustimmung gestoßen war und eine massenhafte Befreiungsbewegung in Tirol angezettelt hatte, war zur Reformationszeit gewesen: das Täufertum, im besonderen, hatte den Bauern und den kleinen Leuten die geistigen Waffen gegen die Unterdrückung durch geistlichen und weltlichen Großgrundbesitz geschmiedet. Michael Gaismairs Landesordnung hatte zu den ausgereiftesten politischen Früchten der religiösen Reformation in Europa gehört.

All die Jahrhunderte nachher hingegen hatte sich ein verhängnisvoller und konstanter Faden durch die Tiroler Geschichte gezogen: Neuerungen, Fortschritte, Öffnungen, Anstöße wurden nicht mehr aus eigener Kraft geleistet, sondern nur von außen an die Tiroler herangetragen - und entsprechend bekämpft. Die Aufklärung kam im wesentlichen auf den französisch-bayrischen Bajonetten; der Liberalismus wurde durch die Wiener Behörden erst nach einem zähen und langwierigen Kulturkampf dem Land Tirol aufgedrängt; sozialistische Ideen wurden ebenfalls als "fremdartig" (in Südtirol als "walsch") erkannt und zurückgewiesen. Danach, daß das Neue immer von außen kam, ließ es sich auch leichter diffamieren und bekämpfen: nicht bloß konservative, sondern richtig reaktionäre Haltung wurden geradezu zur Bürgerpflicht tirolischer Patrioten.

Nur einmal stieß ein "neue" Idee von außen auf Zustimmung in Tirol (obwohl ein wichtiger Teil des Klerus dagegen war): der Nationalsozialismus fiel seltsamerweise nicht unter die Fremdkörperabwehr, sondern erschien einem großen Teil der Tiroler als das gerade richtige und notwendige Gegengift gegen die Drohungen der Zeit: gegen sozialistische und republikanische Versuchungen im österreichischen Bundesland Tirol, gegen die italienische (faschistische!) und entnationalisierende Unterdrückung im südlichen Landesteil.

Dabei waren die Tiroler ihrer Überlieferung nach bekanntlich weder "national" noch "sozialistisch" eingestellt. Aber nach dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie war offensichtlich eine konservativ-reaktionäre Grundstimmung des Tiroler Massenbewußtseins derart verwaist, daß man sich - mit gewissen Überwindungen und Vorbehalten, aber letztlich mit Begeisterung - der deutschnationalen und angeblich so bodenständigen Verführung des Naziwahnsinns nur allzuleicht und allzugläubig anschloß.

Es ist bezeichnend, daß der "Andreas-Hofer-Bund" in Südtirol, der sich in einem Miniatur-Partisanenkampf der Naziherrschaft entgegenstellte und zu dessen aktivsten Vertretern Hans Egarter, Johann Pircher, Karl Gufler und andere gehörten, den Namen des Volkshelden aus den Tiroler Freiheitskriegen für eineen Freiheitskampf in Anspruch nahm, in dem die übergroße Mehrheit ihrer Landsleute auf der Seite der Unterdrücker standen - und diese Unterdrücker sogar als "Befreier" gefeiert hatten: im österreichischen Tirol im März 1938 ("Anschluß" ans Deutsche Reich), in Südtirol im September 1943 (Einmarsch der Deutschen Truppen): die Begeisterung war ähnlich, die Folgen auch.

Es ist aber auch bezeichnend, daß der (sowieso recht bescheidene) Widerstand gegen den Nazi-Faschismus aus dem Gemeinschaftsgedächtnis der Tiroler weitgehend gelöscht wurde. Die Gedenktafel für den "Andreas-Hofer-Bund" in Sand/Passeier wurde von "Unbekannten" entfernt und die Südtiroler Landesregierung wies im "Gedenkjahr" 1984 das Ansinnen (des "anderen Südtirol") empört zurück, diese Tafel wieder anbringen zu lassen.

Bei der gemeinsamen Sitzung beider Tiroler Landtage im März 1985 in Innsbruck lag ein Beschlußantrag der politischen Mehrheit beider Landtage zur Erinnerung an die 40. Wiederkehr des Kriegsendes vor, in dem das Wort "Widerstand" nicht einmal vorkam. Und während im Andreas-Hofer-Jahr 1984 (und 1959) das Wort "Freiheit" immer wieder bis zum Überdruß gedroschen wurde, wird die Erkämpfung demokratischer Verfassungen kaum je mit derselben Feierlichkeit in ursächlichen Zusammenhang mit dem Sturz des Faschismus und Nationalsozialismus gebracht. "Befreiung" ist ein in diesem Zusammenhang ungebräuchliches Fremdwort.

Auf den Kriegerfriedhöfen ganz Tirols werden die in Finnland, Rußland, Frankreich, Griechenland, Afrika, Italien usw. gefallenen Tiroler der Hitler-Armeen unter dem Wehrmachtskreuz angeführt. Der Opfer und der (seltenen) Widerstandskämpfer gedenkt man nur an den wenigen eigens dazu bestimmten Orten. Wer dem Herzen des Volkes näher steht, läßt sich aus den Begleitumständen unschwer erkennen.

Nach dem Ende des Nazi-Grauens war man in Tirol schnell bereit, die Fronten wieder zu verwischen. "Dableiber" und Hitler-Optanten, Braunhemden und katholische Regimekritiker fanden sehr bald wieder zueinander. Vor allem, weil es galt, gegen neue Feinde zusammenzustehen: gegen die "Walschen" und gegen die Roten. Die Südtirolfrage spielte dabei eine große Rolle: im Kampf für die Rechte der Tiroler südlich des Brenners schien es wichtiger, fest zusammenzustehen und den nötigen Rückhalt aus Innsbruck zu bekommen als sich durch demokratische und antinazistische Gesinnung auszuweisen. Und im österreichischen Tirol mußte man gegen die Roten zusammenhalten: da war man auf die Unterschiede zwischen (katholisch-)"schwarz" und (nazi-)"braun" nicht so genau bedacht.

Und hatte noch unmittelbar nach dem Kriegsende der so mäßige Tiroler Anteil am Widerstand und die Qualifikation als "Opfer Hitlers" herhalten müssen, und sich bei den Alliierten zu empfehlen, ging man so balb als möglich zur Tagesordnung über und verdrängte die Erinnerung an die doch sehr unterschiedlichen Verhaltensformen der Tiroler auf der einen und auf der anderen Seite, um nicht zugeben zu müssen, daß nur eine kleine Minderheit vor dem Tribunal der Geschichte und der Demokratie bestehen konnte.

Der Prozeß gegen die Mitglieder des Andreas-Hofer-Bundes (und damit gegen Johann Pircher) ist ein äußerst aufschlußreiches und beredtes Beispiel dafür: wurden die Partisanen noch in erster Instanz vom Bozner Schwurgericht freigesprochen, weil die ihnen zur Last gelegten Taten (vom "Speckdiebstahl" bis zur Beschlagnahmung von Vieh) als legitime Kriegshandlung anerkannt wurden und ihnen keinerlei Mörderei vorgeworfen werden konnte, befand das Oberlandesgericht in Trient wenige Jahre später, daß da nicht Freiheitskämpfer, sondern gewöhnliche Banditen am Werk gewesen waren; ein hartes Urteil war die Folge. Doch während etwa die Südtiroler Sprenger der 60er Jahre in ihren Kerkerjahren einen Ehrenplatz im Gemeinschaftsbewußtsein ihrer Landsleute eingenommen hatten und die gegen sie verhängten Urteile als ungerechte Übergriffe des Staates empfunden worden waren - entsprechende Solidarität wurde ihnen spürbar zuteil! - wurde Johann Pircher, der Partisan aus dem Passeiertal, jahrzehntelang im Kerker begraben und aus dem Gedächtnis seiner Landsleute gelöscht. Bis ihn der italienische Partisan Giambattista Lazagna dort "entdeckte" und die demokratische Öffentlichkeit auf ihn aufmerksam machte - was schließlich zu seiner vorzeitigen Begnadigung und Haftentlassung geführt hat.

Der Fall Pircher ist zwar einzigartig, aber nicht isoliert. Im Laufe der Zeit wurde - besonders im südlichen Tirol - jedes Andenken an den aktiven Widerstand systematisch zertreten, übertüncht, verstreut. Während die ehemaligen Wehrmachtskämpfer und auch prominente NS-Parteimitglieder an die Macht kamen (bis hin zum Landeshauptmann Pupp, NS-Mitglied, und Magnago, Wehrmachtsoffizier) und die schon erwähnten Kriegerdenkmäler auf den Friedhöfen erbaut wurden, mochte der Opfer - und erst recht der Widerständler - niemand gedenken. Hans Egarter, der Anführer des Andreas-Hofer-Bundes, wurde seines Archivs beraubt und mit Bedacht in die Isolierung, in den Alkohol und in die Vergessenheit manövriert (er liegt heute, von allen unbedacht, in Brixen begraben). Die Juden Tirols (besonders aus Meran und Innsbruck, und aus dem Vorarlberger Hohenems) wurden - ebenso wie die gleich ihnen deportierten und vernichteten Geisteskranken aus Hall, Pergine und anderen Anstalten - erneut totgeschwiegen. Die einst nach vorn geschobenen und den Alliierten gegenüber eifrig vorgezeigten Nazi-Gegner gerieten sehr bald in den Parteien, Bauernbünden und sonstigen Organisationen ins Hintertreffen, bis sie gänzlich unschädlich geworden waren.

Erst in den letzten Jahren findet eine gewisse Rehabilitation der Nazi-Opfer und -Gegner statt. Vor allem katholische Vertreter, die den Nationalsozialismus abgelehnt oder (seltener) sogar bekämpft haben, werden endlich der Vergessenheit entrissen und geehrt (z.B. Mayr-Nusser, Schwingshackl u.ä.). Und bei bestimmten prominenten Gestalten, die bisher vor allem ob ihrer Verdienste "um die Volksgruppe" hochgehalten worden waren, wird nun auch intensiver an ihre Nazigegnerschaft erinnert (z.B. Kanonikus Gamper, Friedl Volgger).

Aber insgesamt darf man daraus keineswegs ableiten, daß Widerstand oder Verweigerung gegenüber dem Nazi-Faschismus in allen Landesteilen Tirols auch nur annähernd ins heimatliche Ehrenbuch eingetragen worden wären - im Gegenteil. Die Benennung einer Mittelschule nach dem katholischen Nazi-Opfer Mayr-Nusser bereitet dem Gemeinderat von Vintl (Südtirol) nahezu unüberwindliche Schwierigkeiten und zu einem aufrechten Bekenntnis zum Widerstand konnte sich das offizielle Tirol nördlich und südlich des Brenners auch 40 Jahre nachher nicht aufraffen.

Die Unfähigkeit zu trauern ist mit der Unfähigkeit zu lernen gekoppelt.

Der Brustton der Überzeugung, man hätte in Tirol die Nazis nur erlitten, aber gewiß nicht unterstützt - das ist immer wieder zu hören und gilt inzwischen schon als verbindlicher Gemeinplatz - klingt und ist unehrlich.

Eine innere Veränderung, eine gemeinschaftliche Reue ist da nicht zu spüren. Höchstens das Wegschieben des Vergessenwollens.

pro dialog