Alexander Langer Alexander Langer Schriften - Alexander Langer Südtirol - Alto Adige

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Grüne Helden, grüne Spinner

1.12.1987, Distel, Dezember 1987
Die Ökologiebewegung in ihren verschiedenen Erscheinungsformen zählt sicher zu den nachhaltigsten und vermutlich dauerhaftesten "neuen Bewegungen", die sich in den letzten Jahrzehnten neu entwickelt oder die eine Wiederbelebung auf neuer Basis erfahren haben (z.B. Femminismus, Friedensbewegung, Regionalismus, religiöse und spirituelle Bewegungen u.a.m.).

"Alle reden von Umwelt" könnte man sagen: von den Müsli-Grünen zu den Werbemanagern der großen Industriekonzerne. Dabei ist natürlich die Qualität dieser Aufmerksamkeit für das ökologische Anliegen sehr unterschiedlich. Und entsprechend unterschiedliche Folgen zieht das neue Umweltinteresse nach sich: da gibt es Leute, die sich angesichts der ökologischen Bedrohung entschließen, den umfassenden Umweltschutz als oberstes Gebot und fast als eine Art neue Religion oder Ideologie zu begreifen und möglicherweise auch ihr persönliches Leben einschneidend ändern, und solche, die mehr oder weniger im gleichen Trott weitermachen, aber das Prädikat "umweltfreundlich" auf den Produkten, die sie kaufen, oder auf den Produkten, die sie unterstützen, vorfinden wollen - von der Entschwefelungsanlage in der Industrie bis zum bleifreien Benzin, solange nur insgesamt das Autofahren und die industrielle Massenproduktion nicht angetastet werden. Mit allen möglichen Zwischentönen, versteht sich, die nicht so schematisch faßbar sind.

Die Grünen als politische Bewegung, die sich seit den 70er Jahren zunehmend und meistens vor allem im "Norden der Welt" (Europa, USA, Japan...) entfaltet, stellen den sichtbarsten politischen Niederschlag dieses ökologischen Erwachens dar. Die Tatsache, daß Ökologie zum vorrangigen politischen Ziel erklärt und gewissermaßen zum Maßstab politischen Handelns schlechthin gemacht wird, läßt erkennen, wie tief die Beunruhigung ob der globalen Umweltkrise und der Bedrohung oder gar fortgeschrittenen Zerstörung ökologischen Gleichgewichts empfunden wird. Wobei allerdings bei den meisten Grünen das ökologische Anliegen in einem umfassenderen Sinn als Bemühung um die Wiederherstellung eines umwelt- und sozialverträglichen Gleichgewichts und als Sicherung des Friedens zwischen den Menschen und Völkern, sowie mit der übrigen Natur verstanden wird.

Die Grünen, die sich vorerst als eine nur in Umrissen definierte politische Tendenz, aber noch nicht als konsolidierte politische Richtung mit gesicherter und verbindlicher Theorie und Praxis bezeichnen lassen, sind jene aktive Minderheit, die die neue ökologische Priorität in die Politik einführen und dabei eine Art Hebelwirkung auf das gesamte politische Spektrum ausüben - wobei der Erfolg natürlich in hohem Maße von der Dringlichkeit der Öko-Krise und nicht zuletzt von der autonomen Stärke und Handlungsfähigkeit der Grünen selbst abhängt. Wo die Umweltkatastrophe (Tschernobyl, Veltlin, Trinkwasserverseuchung usw.) in ihrer Schärfe wahrgenommen wird und die politische Konkurrenz der Grünen Angst macht, wird die Hebelwirkung erfolgreich eintreten; wo das eine oder das andere nicht passiert, kann der ökologische Schlummer ungestört fortgeführt werden, wie die Erfahrung der ersten Hälfte der 80er Jahre in Italien oder die derzeitige Entwicklung in Frankreich oder Großbritannien beweist.

Viel eher und vor allem sind die Grünen der Niederschlag einer stark veränderten Einschätzung unserer gesamten Zivilisation: Technologie, Industrie, Wachstum, Marktdominanz, Wissenschaftskult, Expertenherrschaft und dergleichen mehr wird in Frage gestellt oder zumindest hinterfragt. Das Wachstumsmodell, das derzeit in der gesamten industriealisierten und im größten Teil der sich zu industriealisierenden Welt vorherrscht, setzt auf quantitative Zunahme der Produktion, extensive und intensive Ausdehnung des Marktes, mehr Einkommen, mehr Herrschaft, mehr Kontrolle, mehr Rüstung, gründlichere Nutzung sämtlicher Ressourcen - kurzum, auf Vermarktung und Bürokratisierung, Erfassung und Kontrolle eines jeden Lebensbereiches, und zwar auf dem gesamten Planeten und womöglich auch noch darüber hinaus.

Dazu tragen viele neue Erkenntnisse bei, die das Ausmaß der Bedrohung verdeutlichen: Waldsterben, Versteppung, Verbauung und Verwahrlosung des Bodens, Energieverschwendung und Einführung unbeherrschbarer Energiequellen, Lebensmittelverfälschung, und -Vergiftung, Unwirtlichkeit der Städte (insbesondere für behinderte, ältere oder junge Menschen), Aussterben von Tier- und Pflanzenarten, Luftverschmutzung, Wasserknappheit und -Verseuchung, Monokulturen mit verheerender Auswirkung auf althergebrachte, einst ausgeglichene ökologische und soziale Strukturen, Landwirtschaft als Domäne der Chemie, Genmanipulation und weiß Gott, was sonst noch alles. Diese neueren Erkenntnisse schärfen auch das Bewußtsein gegenüber bereits seit längerem wahrgenommenen Bedrohungen durch den Rüstungswettlauf und die tatsächlich Möglichkeit eines atomaren Holocausts oder den Sinn für jene Millionen und Millionen Menschen die auch in "Friedenszeiten" durch die verheerenden Auswirkungen des sog. "development" (das neue Traumziel der Industriegesellschaft nach dem 2. Weltkrieg) an Hunger, Krankheit, forcierter Verstädterung, Raubbau an Rohstoffen, u.dgl. alljährlich sterben müssen.

Angesicht derartiger tiefgreifender Erkenntnisse treten bei vielen die Forderungen etwa nach parteipolitischer Umverteilung der Regierungsmacht oder sogar nach Umverteilung des Reichtums zwischen den sozialen Klassen innerhalb der hochentwickelten Gesellschaften einigermaßen in den Hintergrund und es drängt sich eine radikalere und umfassendere Kritik und Selbstkritik am vorherrschenden Zivilisationsmodell auf, das auch die Begriffe wie Entwicklung, Wachstum und Fortschritt selber fragwürdig erscheinen läßt.

In der Herausbildung eines grünen Bewußtseins hat das neue kritische (auch wissenschafts- und herrschaftskritische!) Wissen, das auf der Woge der Protestbewegungen der 60er Jahre entstanden ist, eine große Rolle gespielt, wenn auch der Bezug zu jenen Jahren nicht ungebrochen und als reine Fortschreibung zu sehen ist. Aber man denke nur daran, wieviel konkretes Bemühen ums "anders leben" seit damals in den verschiedensten Bereichen entwickelt wurde, als man die selbstverständliche und implizite Zweckbestimmung des Wissens zur Mehrung von Profit und Herrschaft in Frage zu stellen und es am Maßstab der Autonomie, der Befreiung und der Solidarität zu messen begann - von der Medizin zur Pädagogik, von der Architektur zur Psychologie... Die radikale Kritik am Wachstumsmodell, die die Grünen kennzeichnet, ist der Nährboden für eine reichhaltige Versuchswerkstatt, in der langsamere, dezentrale, gewaltfreie, kommunikative, selbstverwaltete, energiesparende, solidarische, umweltverträgliche, demokratische Modelle für Produktion, Verbrauch, Zusammenleben, Verkehr, Gesundheitsversorgung, Wohnen, Lernen, Anwendung der Technologie, Landwirtschaft, Gesellschaftsorganisation u.dgl. erprobt und verbessert werden. Selbstversorgung (statt Markt), Selbstverwirklichung, Qualität statt Quantität, multidimensionale Entwicklung (statt einseitiger profit-orientierter), konvivale Gesellschaftsformen (statt marktdominierter Konkurrenz unter Leistungsdruck oder bürokratisch verwalteter Organisation von oben). Kooperation statt Wettbewerb, Gebrauchswert statt Tauschwert und letztlich eine grundsätzliche Hinwendung zur Selbstbeschränkung sind einige Aspekte, die grüne Erfahrungen und Vorstellungen im Unterschied zur Wachstums-"Normalität" auszeichnen.

Dabei ist in der grünen Ablehnung der "Wegwerfgesellschaft" und im Suchen nach dezentralen und mehr kreislauf-orientierten Wirtschafts- und Gesellschaftsformen sicher manch blauäuigige Einfalt, manch ideologisch verbrämtes Eiferertum und viel idealistische Willensanstrengung zu finden. Nicht umsonst werden die Grünen oft ob ihrer "Weg mit...(Atomkraftwerken, Waffen, Konzernen...)-Litaneien" verspottet und kritisiert, weil da meist der konkrete Hinweis auf die gesellschaftlichen Voraussetzungen für alternative Entwicklungen nur am Rande erwähnt wird.

Insofern haftet den Grünen in den meisten Ländern noch recht viel Utopisches - und nicht im besten Sinne Utopisches! - an: mit anderen revolutionär gesinnten Bewegungen teilen sie manchmal die Illusion, daß ein neuer Abschnitt der Geschichte sozusagen aus der Asche früherer Fehlentwicklungen und gewissermaßen von Null auf eröffnet werden müsse - und könne. Allerdings spricht es sich mittlerweile gerade bei den profunderen Denkern des grünen Spektrums herum, daß die Erreichung eines ökologisch-sozialen Gleichgewichts - das man ja nicht durch eine autoritäre, aber möglicherweise "segenreiche" Öko-Diktatur zu erreichen wünscht bzw. auf autoritäre Weise gar nicht für erreichbar hält - eben nicht durch einen totalen Neubeginn nach der Stunde X denkbar ist, sondern der Weg dazu ebenso komplex und vernetzt ist, wie die Zusammenhänge in Natur und Gesellschaft überhaupt.

Insofern bleibt es also auch den Grünen nicht erspart, ihre ökologische Wende durch die Irrungen und Wirrungen der politischen, technologischen, wirtschaftlichen, sozialen und sonstigen vielschichtigen Realitäten anzupeilen. Gerade dabei ist es für die Grünen entscheidend - und unterdessen auch von den meisten Grünen in den meisten Ländern so erkannt - daß sie sich nicht einfach als Neuauflage oder Verlängerung früherer Emanzipationsbewegungen (z.B. der sozialistisch-kommunistisch geprägten, aber dasselbe gilt natürlich auch für andere Ansätze) verstehen und darstellen, sondern fähig werden, einen ursprünglichen und unabhängigen Standpunkt zu beziehen und zu erarbeiten. Sich ins herrschende Schema zwischen rechts und links (d.h. in die Auseinandersetzung rechter oder linker Industrialisten) einzuordnen, oder sich von der politischen Machtbeteiligung allzuviel Veränderung zu erwarten, oder gar durch das organisierte Erstarken der eigenen Bewegung und Organisation die entscheidende Voraussetzung zu einer günstigen Wende der Dinge (weg von der Katastrophe, hin zum Wiederaufbau) zu erhoffen, würde die Grünen binnen kurzer Zeit zur x-ten Variante parteipolitischer Neugründungen und ideologischer Hoffnungssstifter vorkommen lassen. (Und es ist nicht garantiert, daß dies nicht am Schluß auch passiert und die Grünen sich damit aller Wahrscheinlichkeit nach ihrer historischen Chance begeben.)

Angesagt wäre anderes und größeres, so anmaßend das klingen mag: die gesellschaftliche Koalition jener zu begründen und zu stärken, die dem weiteren "Fortschritt" (fort von jeder Möglichkeit zur selbstbestimmten Lebensgestaltung der Menschen und ihrer erlebbaren Gemeinschaften und hin zu immer unentrinnbarerer Abhängigkeit von großen industriellen und technischen, militärischen und administrativen Apparaten und ihrer Totalmanipulation der Menschen) in die Quere kommen und Alternativen entgegenstellen wollen. Nicht den "Rückschritt", der übrigens - das hat die Geschichte bisher erwiesen - gar nicht möglich und in vielen Fällen auch nicht wünschenswert wäre, sondern Auswege: zuerst vielleicht abseits des Siegeszuges des Marktes und der Profitwirtschaft, und indem man dessen weiteren zerstörerischen Vormarsch hemmt und möglichst nicht überall dorthin, und durch das Auftun von kronkreten Möglichkeiten, sich auch anders zu entscheiden und ökologisch bedachtsame, nicht der Wegwerflogik verfallene Lebensgestaltung zu praktizieren. Dazu braucht es sicher auch Gesetze und Politik, auch Verbote und Vorschriften, auch Umentscheidungen über die Verwendung von Geldern und Machtmittel, auch Informationskampagnen und global-gesellschaftliche Weichenstellungen (z.B. für Atomausstieg, Immissionsschutz, Abrüstung u.dgl.). Aber vor allem muß sich eine Denk- und Lebensweise herausbilden und verbreiten, die die andere, die ökologische, die maßvolle, die selbstbegrenzende, die gewaltfreie, die dezentrale, die langsame, die vielfältige... Entfaltung als wünschenswert und in der Qualität besser hinstellt.

Denn die Grünen werden die ökologische Wende nur dann wirksam fördern können, wenn klar wird, daß sie nicht nur Moralisten und Selbstbestrafer, Asketen und Helden, vom Atomkrieg oder vom Ozonloch terrorisierte Menschen, sondern ganz gewöhnliche Leute um des Überlebens und des besseren Lebens willen erstreben können. Die Konkurrenz mit den Mächten, die das Gegenteil suggerieren, ist ein ungleicher Kampf: insofern sind die Grünen vielleicht doch Helden und Spinner.

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