Alexander Langer Alexander Langer Schriften - Alexander Langer Südtirol - Alto Adige

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Blick zurück - mit Nostalgie 1979

1.11.1979, Aufsätze zu Südtirol- Föhn. Nr. 4, 1979
Heute kenne ich sie schon nicht mehr, die Jugend Südtirols. Nie fühlte ich mich bisher so ausgeschlossen: höchstens noch zum "Besichtigen" gut genug, zum "Podiumsdiskutieren", zum "Beraten" - in einer Aula Magna, auf den Talferwiesen, in einem Schwimmbad, beim Autostop. Und, vielleicht, zum Erzählen, wie es früher war, als es die "Bewegung" noch gab...

Da ist ein Bruch passiert, ein gegenseitiges Sich-nicht-mehr-kennen und, vielleicht, Nichts-miteinander-zu-bereden-haben. Von (mehr oder weniger politisierten) Ausnahmen abgesehen. Und mit dem ständigen Drang, zu begegnen und zu hören und zu sehen und wieder zu verstehen.

Aber wo? Welche Orte der Sozialisierung von Jugendlichen gibt's bei uns, welche davon stehen auch über 30jährigen offen, in welchen hat man sich gegenseitig etwas zu sagen? In den Schulen scheint die Eiszeit zurückzukehren, politische Wässer(lein) sind vielfach vertrocknet oder verlaufen, "in" und "out" sind wieder so weit voneinander entfernt und niemand darf beanspruchen, daß ihm sein eigenes ("erwachsenes") Nicht-angepaßt-sein von selbst Beziehung mit jugendlichen Nicht-angepaßten vermittelt.

Bleibt nur zu erzählen, wie es "früher" war. Aber wem?

1956-58

Da waren einmal die Tschöggl und die Stadtler, aber das ist sehr lang her. Die einen sahen die Welt am ersten Donnerstag des Monats, wenn sie zum Beichten "Ausgang" bekamen - die anderen protzten mit weltmännischen Abenteuern und kannten die Museumstraße. Und sogar das Deutschhaus oder das Kassianeum waren besser als die Abgeschiedenheit zuhause. Natürlich nur für Buben. Und die Franziskanerpater konnten für sicheren und geachteten Eintritt ins Leben bürgen, obwohl es damals sogar noch Italiener an ihrer Schule gab.

Richtig patriotisch waren eigentlich anfangs nur die Stadtler. Am Land war der Todesmarsch nicht so zu spüren. Weswegen man die Walschen hassen oder verachten sollte, war gar nicht recht verständlich. Und auch nicht, wieso sie mit Parolen wie "Magnago a morte" auf die Straße gingen. Gestreikt hatten wir jedenfalls nie. Dafür waren wir sehr beeindruckt, wie das christliche Ungarn sich gegen die gottlosen Russen und ihre Panzer wehrte; der Speckpater berichtete davon.

1958-61

Richtig organisiert war man eigentlich nicht, obwohl in den Köpfen mancher katholischer Jugendseelsorger noch Erinnerungen aus der Nazizeit spukten, als alle Jugendlichen erfaßt waren. Aber die Jungschar breitete sich aus, nicht überall gleich metallisch, aber doch recht zackig.

Und die Welt begann, sich in Deutsche und Italiener, Walsche, einzuteilen. Deutlich und konfliktvoll. Die Schule war zwar von allem sehr behütet und abgeschirmt, aber zu spüren war's doch immer mehr. Der Pfunderer Prozeß, ein paar Attentate.

Wer weiß, wie unsere italienischen Altersgenossen waren... Wir wußten von Zypern, ein bißchen auch von Algerien.

1961 und ff.

Es war schwer, sich über den in die Luft gegangenen Aluminiumduce nicht zu freuen und über die Polizei am Knüppelsonntag sich nicht zu empören. Und doch war alles irgendwo faul. Denn es wurde immer zackiger, immer kerniger. Die Lieder... und die Diskussion um die Fahnen.

Waren wir nicht alle Christen? War das eine Basis für Engagement, für Gemeinsamkeit, für Dialog? War das auch Begeisterung wert? Und wieso waren in den Augen unserer Lehrmeister die Walschen nicht auch Brüder, wo doch sogar die Protestanten...?

Hauptsache war, man studierte - "wer das Glück hatte". Jugend gab's praktisch nur katholisch organisiert, oder in der Familie - je mehr Leute in die Stadt zogen, desto mehr organisiert. Aber die meisten arbeiteten. Wir sahen sie kaum.

1962-64

Niemand sagte uns, daß es soziale Klassen gibt. Man hörte später, daß in Bruneck jemand davon gewußt haben soll. In Bozen gab es zwar Kommunisten und den "Bert Brecht", aber über uns selber und unsere Welt war nichts zu erfahren. Was mochten die nur mit ihrer Schulung und ihrem Jugendverband tun? Da war es doch besser, katholisch den Armen zu helfen, denn daß es sie gab, merkten wir auch. Aber auch sie teilten sich in Deutsche und Walsche, was überhaupt die wichtigste Unterscheidung war. Es gab gemeinsame Skirennen zwischen verschiedenen katholischen Jugendorganisationen, aber ein Treffen mit (katholischen) walschen Gleichaltrigen nie. Von Volkstum war immer mehr die Rede, aber viele hatten von den Bomben genug.

1964-66

Da die Bomben aber nicht aufhörten, mußte man vielleicht politischer werden? War Pazifismus richtig/notwendig/ausreichend?

Manches entdeckten wir noch selbst, vieles durch's Hinausschauen über Krähwinkel. Auch erste gemeinsame Zeitungsversuche gab's, deutsch und italienisch - BiZeta.

Im ersten Stock wurde über Südtirol und die Autonomie verhandelt, zu ebener Erde begann die "zukünftige Führungsschicht des Landes", kritischer und unruhiger zu werden: im "skolast", bei den Meraner Hochschulwochen, bei Studientagungen...

"Links" hieß meistens im Fall "linkskatholisch"; in der organisierten Jugend gab es viele Köpfe, die im Sand steckten, und einige, die ein bißchen naiv herauszuschauen versuchten.

Der Dialog wirkte bis nach Südtirol, auch wenn das den "Dolomiten" nicht gefiel. Man begann, sich zu treffen und kennenzulernen: politische, unpolitische, deutsche, walsche, katholische, indifferente, festgelegte und nicht festgelegte Altersgenossen. Auch Pläne wurden geschmiedet. Und man merkte, daß man viel mehr analysieren mußte, um zu verstehen. Und auch die Geschichte Südtirols kennenlernen.

1967

Jetzt kannten sich schon recht viele, im ganzen Land. In der Hochschülerschaft gärte manches. Die Pazifisten hatten es bis zu einer recht politischen Südtiroltagung gebracht: die Stimme der Attentate konnte nicht mehr alles übertönen, und auch nicht die Hetztiraden der Volkstumskämpfer auf beiden Seiten. Gemeinsame Initiativen waren schon recht häufig. Auch an manchen Schulen gab es kritische Jugendliche. Erschien der "reflektor" (Handelsoberschule Bozen) nicht schon damals?

Eine politische Alternative war noch nicht reif, die "oppositionellen" Parteigründungen und -austritte wurden nur von wenigen beachtet und verfolgt, auch über China wußte man wenig. Wer mit Vietnam gegen die USA solidarisierte, wurde zum nützlichen Idioten abgestempelt. Aber eine "brücke" konnte gebaut werden und wurde zu einem Kristallisationspunkt.

1968

Keine Mythen, bitte. Immerhin wurden Schulen auch in Bozen besetzt, Deutsche und Italiener diskutierten gemeinsam und vertrieben den Unterrichtsminister Gui durch die Hintertür des Rathauses, nach einem großen Sit-in (ja, so hieß es). Die Anti-Springer-Kampagne wurde gegen Toni Ebner geführt - bis hin zum Nordtiroler Grillhof. Wochenlang hing das Transparent "Enteignet die Ebner-Presse" über der Goethestraße. Es wurde auch viel diskutiert: über Gaismair, über die Attentate der früheren Jahre, über die CSSR und den Marxismus und über China, man erfuhr von Italien und von den Studenten in der ganzen Welt. Die Institutionen wurden angegriffen, die Partei, die Kirche, die Athesia, die Geldbonzen, das Kulturinstitut, das Siegesdenkmal und die Feiern zum 4. November. Es gab sogar einen Böller in einem Beichtstuhl der Bozner Pfarrkirche und Festnahmen von antimilitaristischen Demonstranten. Manche Saat war plötzlich aufgegangen (nicht immer programmgemäß), viel Neues passierte unvorhergesehen. Das Bewußtsein wuchs ähnlich wie die Bewegung. Im April wurde Martin-Luther-King geehrt, im Herbst diskutierte man über Guevara. Vietnam war nahe.

Wir fühlten uns nicht isoliert. Auch Südtiroler, die schon emigriert waren, ließen wieder von sich hören. In der "brücke" erschienen auch Gedichte und da und dort wurden Wände beschmiert.

1969

Immer mehr teilte sich die Welt in Unterdrückte und Unterdrücker, Ausgebeutete und Ausbeuter ein. Und gelesen wurde viel und gern: Texte aus der Bewegung, aus der Frankfurter Schule, hektografierte Analysen, aus dem Feltrinelli-Verlag, aus dem Kursbuch.

Auch Kontakte zu Arbeitern kamen, sogar ein Überraschungsstreik bei Durst mit euphorischer Solidarität zwischen jungen Linken und echten Südtiroler Arbeitern. Und Flugblätter, die auch vor Fabrikstoren verteilt wurden. Zu sagen hatte man vor allem über die eigene Situation, und daß man nicht privilegiert und von der Arbeiterklasse getrennt sein wollte. Oberschülerbewegung, konspirative Treffen in gehäbigen Cafés, bei denen die paar Funktionärlinge bald abgedrängt wurden. Auch Streiks in der Industrie schienen nicht mehr Privateigentum der Gewerkschaft.

1970-72

Politik war großgeschrieben. An den Schulen gab's da und dort auch eine Art linke Hegemonie: ausgelacht und in die Enge getrieben wurden die SVP-Jünglinge. Damals. Man ging mit den Arbeitern gemeinsam auf die Straße. Sogar gegen den amerikanischen Putsch in Kambodscha wurde plakatiert - und die Polizei griff zu. Taze-bao's gehörten zum täglichen Brot, Flugblätter auch. Einträchtig wurden sie vom Hektografiergerät abgezogen, deutsch und italienisch. Auch Fünfzehnjährige wußten den Apparat zu bedienen und standen morgens um fünf Uhr vor der Lancia.

Die Massen: das waren auch die Lehrlinge. Da waren die vielen Leute, die gegen die Repression solidarisierten: beim Hungerstreik vor dem Sailergymnasium, oder bei den vielen Demonstrationen. Nicht nur in Bozen gab's Bewegung: Meran und Sinich und Bruneck und Schlanders... Man spürte, daß auch die anderen zur Kenntnis nehmen mußten, daß da jemand rebellierte. Daß es solche Sachen auch im gesunden Südtirol gab. Linke Versammlungsorte waren zwar eher wie Keller, aber trotzdem gingen sehr viele dort ein und aus.

1973-75

Sich zu organisieren war schon lang im Gespräch, Ansätze gab's immer wieder, Zeitungen und Tagungen und Sitzungen und Diskussionen auch. Vielleicht war schon vieles erstarrt, dafür gab's Filialen von praktisch jeder linken Organisation. Neue Leute, junge Menschen, kamen nicht mehr so viele. Dafür wurden die vorhandenen besser "geschult". Systematischer wurde manches, auch die Analysen, die Aktionen, die Auseinandersetzungen. Aber häten wir's nicht merken müssen, daß es langsam mehr linke Lehrer als linke Schüler gab?

Die Institutionen begannen abzusahnen: die Leute endeten in der Gewerkschaft, in Parteien - übernahmen "Verantwortung". Manch einer haute ab, um sich die Welt besser anzuschauen, obwohl er damit "unwirksam" wurde. Über die richtige Linie wurde viel debattiert. Die Revolution würde sowieso nicht in Südtirol ihren Anfang nehmen.

Daß die anderen inzwischen ihre Paketgesellschaft verschnürten, entging manchem.

1975-78

Hatte es überhaupt einen Sinn, in der Provinz zu leben, sich zu bewegen? Wo Leute in ihrer Isolierung RAF-Parolen an die Sterzinger Laubenwände malen?

Der Linksruck in Italien - aber warum war bei uns vieles nur Reproduktion? Kam deshalb die Krise und zehrte an den Organisationen?

So abseits wie früher lag man in Südtirol nicht mehr. Manches war auch schon zum festen Bestand geworden, so zum Beispiel, daß Walsche und Deutsche auf dem gleichen Planeten lebten. Aber dafür lagen die Linken immer mehr abseits: ein Ghetto mit viel Bewußtsein, Kritik, sogar Tradition. Aber wenig expansionsfähig, wie sich 1976 nicht nur bei uns herausstellte.

Die anderen hatten inzwischen erkannt, daß sie nach dem Rüttler der letzten Jahre so schnell als möglich wieder zur Sammlung blasen mußten: so bauten man Organisationen auf, die wieder die Jugend erfassen sollten. Man erfaßte, man packte (ein), man steckte in Tracht und Uniform, man feierte konforme Feste und düngte mit viel Geld den Boden für eine konforme Jugendbewegung. Betriebspsychologen studierten das Terrain. Ihre Ausbildung kam aus Bayern. Kam von daher auch die Idee, die Schulen wieder zu säubern, vielleicht ein Berufsverbot zu erlassen?

Richtig neu und lebendig war eigentlich nur die Frauenbewegung, auch unter jungen Mädchen.

Und daß immer mehr sich den Luxus leisteten, Zeit zu verlieren und sich ihrer Sensibilität nicht zu schämen.

1979
War Jugendbewegung immer dort, wo wir gerade waren? Laufen heute Fäden wieder zusammen, die sich im Lauf von vielen Jahren gesponnen haben?

Aber wer sind die, die heute jung sind?

pro dialog