Alexander Langer Alexander Langer Schriften - Alexander Langer Südtirol - Alto Adige

Biographie Schriften - Alexander Langer
Albanien Europa Ex-Jugoslawien Friedenspolitik Grüne Kultur Israel/Palestina Lebensstile Nord/Sud Ost/West Politik Religion Südtirol - Alto Adige
Umweltpolitik Zusammenleben
Bibliographie Erinnerungen Nachlass
(22) Cassar-Simma: Trag Sorge - Abbi Cura - Take Care (11)

Südtirol ABC - Ein unvollendeter Buch 1 (Alpen-Fremdenverkehr)

1.8.1988, Aufsätze zu Südtirol -Scritti sul Sudtirolo - Alpha&Beta 1996
Begonnen als Entwurf eines Beitrages für das "Optionsbuch" das von Reinhold Messner unter dem Titel "Option 1939" herausgegeben worden ist. Es wurde von Alexander Langer in weiten Teilen bis 1988 geschrieben und in späteren Jahren teilweise weitergeführt, aber nicht vervollständigt.

Es ist ein Fragment und es bezeugt die Sensibilität dieses einmaligen Grenzgängers und Brückenbauers in der zaghaften, Verletzungen scheuenden Auswahl der Stichworte, wie in der vorsichtigen, aber auch drängenden und überzeugten Beschreibung der ausgewählten Themen selbst.
Das "Südtirol ABC" ist unvollendet, ist umzuschreiben, ist neu zu schreiben, ist ein Dokument das zum Weiterschreiben aufruft

Alexander Langer: provisorischer entwurf meines anteils am optionsbuch

derzeit (24.8.1988) sind's 134 stichwörter, davon 108 wichtigere und 26 eher verzichtbare.

provisorisches verzeichnis der stichwörter:

1 alpen <
2 alternativen <
3 ängste <
4 assimilation <
5 attentate <
6 autonomie <
barbaren??
7 bauern <
bomben??
8 bürokratie <
9 christlich <
10 demokratie(defizit)? <
11 denkmäler? <
12 deutschtum <

13 diskriminierung <
14 dissidenten <
15 dornenkrone? <
16 einheit der volksgruppe <
17 emigranten <
endsieg??
18 ethnisch <
19 europäer <
20 farbe bekennen? <
21 faschisten <
22 feindbilder <
(fest in deutscher hand)
finanzen?
23 fremdenverkehr <
fremdkörper
freiheitskämpfer?
gebetbuch?
geheimdienste?
24 gemischte <
25 geschichte <
26 gewalt <
27 gleichgewicht, labiles <
28 gleichschaltung (geschlossenheit) <
29 grenzen <
großdeutsch??
30 grün? <
31 heimat(recht) <
32 helden <
33 herz-jesu-kult <
34 identität <
35 industrie <
36 information? <
intellektuelle?
37 inter-ethnisch <
38 italianisierung <
39 “italianità <
40 italien <
41 italiener
42 je klarer wir trennen
juden?
43 jugend
kirche
kirchturm
kompromiß
konformismus?
kultur
ladiner
landes...
lederhosenkultur
lesen?
leserbriefe?
linke
(los von trient)
medien
militär
minderheit
minderheitenschutz
mischkultur
nationalismus
natur?
nazis
nichtoptanten
nordtirol
österreich
opposition
optanten
option 1981?
ortsnamen
paket
paragraphenreiter
pariser vertrag
partisanen??
pluralismus
proporz
provokation?
querulantentum
rassismus?
rechte
region
rückverdeutschung?
sammelpartei
(schönes land, böse leut)
schule
schützen
selbstbestimmung
sozialpartner?
sprachen
sprachgruppenzugehörigkeitserklärung
staat
südtiroler
symbole?
tauziehen
(tirol isch lei oans)
todesmarsch
trentino
tricolore??
überlebensfähig
universität
ureinwohner
verbrüderungsapostel?
verdrängung/vertreibung
vereine, verbände
vergangenheitsbewältigung
verräter?
versöhnung?
verzichtpolitik?
(vittimismo)
vokabular
volksgruppen
volkstum und was dazugehört (völkisch, volkstumskampf u.dgl.m.)
volkszählung
vorurteile?
wiedergutmachung
xenophobie
zentralismus
zusammenleben
zweisprachigkeit(sprüfung)


ALPEN

Daß Südtirol mitten in den Alpen liegt und die meisten seiner Probleme mit den anderen Alpenregionen gemeinsam hat, ist eigentlich eine Binsenwahrheit, über die zu reden es sich gar nicht lohnen würde, hätte nicht die jahrzehntelange Nabelschau um die ganze Volkstumsproblematik oft den Blick auf die natürlichen Grundlagen des Lebens in Südtirol und des Überlebens von Südtirol etwas verstellt oder getrübt. Heute beginnt man, den Alpenraum als ein gemeinsames Ökoystem zu begreifen, das bei den Alpenvölkern jenseits der Verschiedenheit der Sprachen und Überlieferungen und unabhängig von politischen und administrativen Grenzen eine weitgehend gemeinsame Kultur und Zivilisation hervorgebracht hat. Die Sorge um die Zukunft dieses gemeinsamen Lebensraumes - der sich ja auf verschiedene Staatsgebiete erstreckt (Frankreich, Italien, Schweiz, Liechtenstein, Österreich, Bundesrepublik Deutschland, Jugoslawien) - könnte heute dazu beitragen, Südtirols Erfahrung in einen angemessenen, grenzüberschreitenden Rahmen einzubauen. Daß nämlich die Alpen nicht ohne oder gar gegen ihre Bewohner „geschützt“ oder „gerettet“ werden können und die enge Verquickung naturverbundener und maßvoller alpiner Lebens- und Bewirtschaftungsformen die Grundvoraussetzung für das ökologische und soziale Gleichgewicht des Alpenraumes darstellt, kann man in Südtirol auch an vielen positiven Beispielen erfahren. Die Zusammenarbeit zwischen den Alpenregionen hat in den letzten Jahren erfreulich zugenommen, bewegt sich aber immer noch in einem recht unverbindlichen Rahmen, beispielsweise in der “Arge Alp“ und in der “Alpe Adria“, wobei das Land Südtirol als solches nur in der mehr nord-süd-orientierten „Arge Alp“ mitmacht und für die west-ost-gerichtete „Alpe Adria“ weniger übrig hat.
Vielleicht kann eine stärkere Besinnung auf die Verantwortung und die Rolle Südtirols im vielsprachigen und kleinräumig organisierten Alpengebiet und eine engere Kooperation in diesem Zusammenhang aus einer deutschtümelnden Verkrampfung heraus zu einer europäischen Funktion führen.

> BAUERN, FREMDENVERKEHR, GRÜN, REGION, SCHÖNES LAND, BÖSE LEUT


ALTERNATIVEN

Manche meinen, die Alternative für Südtirols Zukunft bestünde darin, daß das Land entweder „deutsch“ bleibt (oder wieder wird) oder „verwelscht“ - wobei je nach Standpunkt des Betrachters die eine oder andere Aussicht als Katastrophe empfunden und die nationale Behauptung im eigenen Sinn als wünschenswert hingestellt wird. Ein Zoll um Zoll geführter Volkstumskampf soll - in dieser Sichtweise - das Überwiegen der einen oder anderen Alternative sichern, und jeder, der in Südtirol lebt oder mit dem Land zu tun hat, wird demzufolge als bewußter oder unbewußter Wegbereiter oder gar Kämpfer für das eine oder andere der beiden entgegengesetzten Ziele verstanden und möglicherweise mobilisiert.
Wahrscheinlicher und einleuchtender ist, daß die Alternative in Wirklichkeit darin besteht, ob ein Weg zum guten Zusammenleben mehrerer Sprach- und Volksgruppen, die alle ihre Identität bewahren, aber auch nicht versteinern wollen, gefunden wird und über die Gesetze und Behörden hinaus im Bewußtsein der Bevölkerung Wurzeln schlägt, oder aber für alle Zukunft die ethnische Frontbildung und gegenseitige Abwehr das Feld behaupten.
Die Alternative kann also nicht heißen „entweder deutsch oder italienisch“, sondern “entweder“gemeinsam oder gar nicht”.

> FEINDBILDER, KOMPROMISS, TAUZIEHEN, VERDRÄNGUNG,
VOLKSTUMSKAMPF, ZUSAMMENLEBEN


ÄNGSTE

Ängste spielen in der ganzen Südtirolfrage eine große Rolle, und werden naturgemäß von den verschiedenen Beteiligten recht verschieden erlebt. So sitzt den deutschsprachigen Südtirolern die Erfahrung der ungewollten Annexion an Italien und vor allem der Unterdrückungen und Italianisierungsbestrebungen des faschistischen Regimes und auch noch der Nachkriegszeit sehr in den Knochen - man hat erlebt, was es bedeutet, ungesichert einer Übermacht gegenüberzustehen. Auch das Vorgehen der Polizei in den 60er Jahren, während der Bekämpfung der Attentate, und andere behördliche Maßnahmen im Lauf der Jahre haben dazu beigetragen, Ängste hervorzurufen oder wachzuhalten. Aber auch die italienischsprachige Bevölkerung des Landes hat mehrmals Ängste kennengelernt: nicht nur zur Zeit der nazi-deutschen Okkupation des Landes, sondern auch später, zum Beispiel die Angst vor lebensgefährdenden Attentaten in den 60er Jahren und auch wieder in den 80er Jahren, und neuerdings die Angst vor der Autonomie und der damit verbundenen Machtfülle der Südtiroler Volkspartei.
Dazu kommt beiderseits die Angst vor der Diskriminierung und ungerechten Behandlung durch die (manchmal tatsächliche, manchmal auch bloß vermeintliche Übermacht der anderen: die deutschsprachigen Südtiroler haben da vor allem den italienischen Staat und die „60 Millionen Italiener“ im Auge, die Italiener die „Deutsche Überrmacht“im Lande und manchmal sogar alle Deutschen nördlich des Brenners.
Mit Ängsten wird Politik gemacht. SVP-Obmann Magnago hat mehrmals erklärt, daß eine Minderheit nur durch angemessene Angstgefühle ihre Wachsamkeit und Geschlossenheit erhalten kann, und auf italienischer Seite hat nicht nur die Propaganda der neofaschistischen MSI-Partei ausdrücklich die Vertreibungsangst der im Lande lebenden Italiener geschürt und angesprochen, um eine Politik der Stärke zur Wahrung italienischer Interessen zu empfehlen.

> ASSIMILATION, ATTENTATE, FEINDBILDER, GEWALT, ITALIANISIERUNG, MINDERHEITEN, SAMMELPARTEI, TODESMARSCH,VERDRÄNGUNG, VOLKSZÄHLUNG,


ASSIMILATION

Den massiven Versuch zur Assimilation der deutsch- und ladinischsprachigen Südtiroler hat das faschistische Regime ausdrücklich unternommen, das Programm dazu wurde detailliert von Senator Ettore Tolomei entworfen (der auch die Ortsnamen italianisiert hat). Durch eine gründliche Entnationalisierung (Schule, Amtssprache, Namen, öffentliches Leben, usw.) der einheimischen Bevölkerung und entsprechend geförderten Zuzug italienischer Einwanderer sollte aus dem Land Südtirol eine mehr oder weniger normale, national gleichgeschaltete italienische Provinz werden. Auch nach Gründung der Republik Italien wurde die Absicht zur Assimilation nicht ganz aufgegeben, aber weniger offen und gewaltsam verfolgt. Eher hoffte man auf die Wirkung weiterer Einwanderung, auf einen gewissen sprachlich-kulturellen Sog und auf die - damals fast gänzlich über Italien vermittelte - Modernisierung des öffentlichen und privaten Lebens.
Der Widerstand gegen die Assimilation von deutsch- und ladinischsprachiger Südtiroler Seite war zu allen Zeiten sehr entschieden, auch als dies unter diktatorischen Verhältnissen gar nicht einfach und eher gefährlich war. Der Wille zur ethnischen, sprachlichen und kulturellen Selbstbehauptung und zur Wahrung der eigenen Identität war jederzeit klar erkennbar und nicht zu brechen.
Seit Erlaß des zweiten Autonomiestatuts (nach dem sogenannten Südtirolpaket) kann man sagen, daß Italien seine Assimilierungsabsicht fallengelassen hat, auch weil sich inzwischen im öffentlichen Bewußtsein eine andere Auffasung vom Wert der ethnischen und sprachlichen Vielfalt und des Minderheitenschutzes durchgesetzt hat. Trotzdem ist man in Südtirol ständig - oft mißtrauischer als gerechtfertigt - auf der Hut vor Assimilation, und die Furcht davor kann als eine Art (auch künstlich lebendig gehaltener) Südtiroler Urangst gelten.
Neuerdings ist zuweilen auch eine gewisse Angst der in Südtirol lebenden Italiener vor Assimilation (d.h. Eindeutschung) zu bemerken, die insbesondere im Unterland und in den Tälern nicht ganz von der Hand zu weisen ist.
Die Ladiner hätten an und für sich den meisten Grund, sich vor Assimilierung (hin zur jeweils stärkeren der beiden benachbarten Volksgruppen) zu fürchten und haben durch jahrhundertelange Assimilationsprozesse ja auch den größten Teil ihres Siedlungsgebietes (auch in Südtirol) eingebüßt. Die ladinische Renaissance der letzten Jahre hat dieser schleichenden Entwicklung zumindest den Widerstand eines geschärften Bewußtseins entgegengebracht.
Im übrigen ist zu sagen, daß es gerade in sprachlichen Grenzgebieten immer wieder individuelle und kollektive, bewußte und unbewußte, gewollte und nicht gewollte Assimilierungserscheinungen gegeben hat und wohl auch weiterhin geben wird, und daß im allgemeinen die stärkeren und prestigeträchtigeren Volksgruppen eine diesbezügliche Anziehung ausüben, die sich nicht bloß durch Politik und Normen steuern oder drosseln läßt. Die Tatsache, daß heute, zum Unterschied von früher, von den deutschsprachigen Südtirolern ein gewisser Assimilierungssog ausgeht, spricht für die jetzt erreichte Stärkung und das Ansehen dieser noch vor wenigen Jahrzehnten schwer existenzgefährdeten Minderheit.

> ÄNGSTE, AUTONOMIE, GEMISCHTE, IDENTITÄT, ITALIANISIERUNG, JE KLARER WIR TRENNEN, KOMPROMISS, MINDERHEITENSCHUTZ, MISCHKULTUR, PARISER VERTRAG, RÜCKVERDEUTSCHUNG, TODESMARSCH, ÜBERLEBENSFÄHIG, UREINWOHNER, VITTIMISMO, VOLKSZÄHLUNG




ATTENTATE


Attentate und Bomben haben - leider - in der jüngeren Geschichte Südtirols und seiner Autonomie immer wieder eine Rolle gespielt. Dabei haben sich bis zur Gegenwart die Aktionen verschiedener Urheber manchmal bis zur Unkenntlichkeit vermischt.
Grob gesprochen kann man zwei Perioden von Südtirol-Attentaten unterscheiden, von denen sich jede wiederum in zwei Phasen einteilen läßt.
Eine erste Periode betrifft die Zeit des „Los von Trient“, mit Beginn in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre. Damals wurde insbesondere durch die großaufgemachten Andreas-Hofer-Feiern des Jahres 1959 der Nährboden vorbereitet, um den Zustand der allgemeinen Unzufriedenheit mit der halbherzigen Autonomie in eine Art bewaffneter Erhebung überzuführen. Die wichtigste Episode dabei ist die sogenannte Feuernacht zu den Herz-Jesu-Feiern 1961 (11.6.1961), die meisten damaligen Sprengstoffattentate richteten sich gegen Elektromasten und kamen im wesentlichen aus aktiven und der SVP nahestehenden Kreisen der Südtiroler Bevölkerung. Man wollte die Weltöffentlichkeit - in einem Klima, das damals von Befreiungsbewegungen und Entkolonisierung gekennzeichnet war - auf Südtirol aufmerksam machen und den legal erhobenen Forderungen (Los von Trient), mehr Selbstverwaltung, möglicherweise Selbstbestimmung) Nachdruck verleihen. Durch diese erste Phase der Sprengstoffattentate der 60er Jahre wurden auch tatsächlich alle Seiten zum Handeln gezwungen, und man kann sagen, daß trotz der harten und erfolgreichen Repression durch den italienischen Staat die damaligen Anschläge die Autonomiereform entscheidend mitausgelöst haben, was nicht unbedingt für die Qualität der damals herrschenden Demokratie spricht. Den “Freiheitskämpfern” (wie sie sich verstanden) jener ersten Phase, folgten sehr bald und bis zum Jahre 1967 - solange die Verhandlungen um die Neuordnung der Südtirol-Autonomie dauerten - zahlreiche weitere Attentate, die nun wesentlich lebensgefährdendere Ziele (Kasernen, Polizei- und Militärstreifen, usw.) aufs Korn nahmen und insgesamt etliche Menschenleben forderten, wobei auch die Opfer der polizeilichen Reaktionen mitzurechnen sind. Die Attentate der zweiten Phase jener Periode können nur zum Teil Südtiroler Urhebern zugerechnet werden, da sich zunehmend auch ausländische, vor allem nazi-lastige Gruppierungen und, wie es glaubhaft scheint und später bekannt wurde, auch italienische Geheimdienste einmischten und eine äußerst undurchsichtige Situation hervorriefen. Vor allem kann man sagen, daß die Attentate der ersten Phase im wesentlichen die Unterstützung oder Billigung breiter Kreise der deutschsprachigen Bevölkerung gefunden hatten, während die Urheber der späteren Anschläge dies nicht mehr erzielten und zunehmend isoliert handelten.
Eine zweite Periode von Sprengstoffanschlägen und anderen gewaltsamen Aktionen hat im Jahre 1978 begonnen und dauert derzeit (1988) noch an. Auch diesmal lassen sich etwa zwei Phasen unterscheiden. In einer ersten (vor allem bis 1981) kommt es zu einer Serie ethnischer Provokationen, die mit anti-italienischen Attentaten beginnt (insbesondere werden Denkmäler aufs Korn genommen), bald aber auch Gegenschläge verzeichnet: auch deutsch-südtirolische Objekte und Symbole (Seilbahnen, Denkmäler usw.) werden zur Zielscheibe. Zahlreiche Schmierereien gegen italienische, bzw. deutsche Orts- und sonstige Aufschriften und Aktionen gegen Autos mit italienischen Kennzeichen, sowie gelegentliche ethnisch gefärbte Aggressionen begleiten derartige Initiativen, die auf dem Nährboden des gesteigerten Volkstumskampfes gedeihen. Von deutscher Seite kommt dabei eine gewisse Unzufriedenheit mit dem Südtirolpaket zum Ausdruck und die Überzeugung, daß man jetzt darüber hinaus und weiter gehen könne und müsse, und die öffentliche Reaktion innerhalb der Volksgruppe läßt einen gewissen Spielraum für solche Geisteshaltungen. Von italienischer Seite kommt, zum Unterschied von den 60er Jahren, wo die italienische Reaktion ausschließliches Monopol des Staates war, eine unterschwellige Tendenz zum Ausdruck, es den deutschsprachigen Südtirolern gleichzutun: „Wir schlagen zurück“, heißt es in Flugblättern, und immer öfter hört man, daß die Südtirolitaliener vielleicht heute ebenso auf ihre Nöte aufmerksam machen sollten, wie die Deutschsüdtiroler in den 60er Jahren. Empfindet man auf deutscher Seite das „Paket“ als zuwenig, wird es auf italienischer Seite eher als zuviel gesehen.
Gegen diese Attentate mobilisieren sich ernsthaft eigentlich nur die inter-ethnischen Kräfte, die in einer weiteren Radikalisierung des Volkstumskampfes eine schwere Gefährdung des Zusammenlebens sehen; die breite Öffentlichkeit und die großen Parteien unterschätzen diese Signale und finden nicht viel dabei, wenn die systematische ethnische Entzweiung der Gesellschaft hin und wieder auch gewaltsame Blüten treibt.
Eine neue Welle ethnisch gefärbter Gewaltakte beginnt dann ab 1986, mit einer Reihe von Anschlägen, die großteils italienische Objekte - bis hin zu Sozialwohnungen, öffentlichen Gebäuden, Politikerwohnungen u.dgl. - betreffen und eigentlich von allen Seiten mit Bestürzung aufgenommen werden und keinerlei Billigung oder Zustimmung finden. Die Auswirkung dieser (bisher) neuesten Serie von Anschlägen zeigt sich vor allem bei den italienischen Bewohnern Südtirols, die sich stark verunsichert fühlen und durch Hinwendung zu nationalistischen Einstellungen reagieren. So spielen also auch diese Attentate eine erhebliche und noch gar nicht absehbare Rolle in der Südtirolpolitik und ebnen jenen den Weg, die sie am liebsten in ein Polizeiproblem verwandeln würden. Die enorme Aufbauschung und Dramatisierung durch viele Medien richtet dabei nicht weniger Schaden an als die häufig gezeigte Indifferenz von deutschsprachiger Seite.
Täter werden in den seltensten Fällen ausfindig gemacht und rechtskräftig verurteilt. Vielleicht sind die Fahndungsorgane auch allzuschnell bereit, fertige Schablonen anzuwenden, und möglicherweise trifft es auch zu, daß von der Bevölkerung aufgrund des verbreiteten Mißtrauens gegen Polizei und Gerichtsbehörden keine zweckdienliche Mitarbeit kommt.
“Wenn wir schon die Attentate nicht verhindern können, wollen wir wenigstens ihren psychologischen und politischen Schaden eindämmen”: unter dieser Devise wurde immer wieder von inter-ethnischen Gruppen Kundgebungen, Solidaritätsfonds für die Geschädigten und ähnliche Initiativen gestartet.

> ÄNGSTE, AUTONOMIE, DENKMÄLER, FASCHISTEN, GEWALT, HELDEN, HERZ-JESU-KULT, LOS VON TRIENT, MILITÄR, NATIONALISMUS, NAZIS, PROVOKATION, RECHTE, SCHÜTZEN, SELBSTBESTIMMUNG


AUTONOMIE

Schon bald nach der Annexion Südtirols an Italien, die auch vielen italienischen Demokraten und Sozialisten Bauchschmerzen bereitet hatte, versprach der König, die herkömmliche Selbstverwaltung zu achten. Die baldige Machtergreifung des Faschismus machte dies zunichte: für Autonomien war da kein Platz. Nach dem zweiten Weltkrieg war Südtirol nicht mehr bedingungslos Italien zugesprochen worden: im Pariser Vertrag zwischen Italien und Österreich war u.a. eine territoriale Autonomie vereinbart. Deren erste Fassung wurde von einer Unterkommission der italienischen Verfassunggebenden Versammlung im wesentlichen ohne Einbeziehung von Südtiroler Vertretern festgelegt und im Jahre 1948. Südtirol wurde mit dem Trentino zu einer der damals vier Regionen mit Sonderautonomie zusammengeschlossen, und mit einer im Vergleich zu Sizilien oder dem Aostatal recht bescheidenen Autonomie ausgestattet. Somit wurden die wichtigsten Angelegenheiten regional, d.h. im Rahmen des Trentino-Südtirol, geregelt, und die daneben bestehende Unter-Autonomie der beiden Provinzen Bozen und Trient spielte eine geringere Rolle. Diese Zwangsehe Südtirols mit dem Trentino hatte eine Situation geschaffen, in welcher die italienische Bevölkerung auch innerhalb der Autonomie die Mehrheit hatte. Außerdem wurde selbst diese bescheidenere Autonomie von Rom nur sehr langsam und widerwillig durchgeführt. Immerhin hat sie aber die Voraussetzungen für das Wiedererstarken der Tiroler Minderheit geschaffen und dem Prozeß der Regeneration der minderheitlichen Volksgruppen den Weg geebnet.
Die Unzufriedenheit mit dieser Autonomie hat dann zur Forderung „Los von Trient“ geführt, die von der Südtiroler Volkspartei (SVP) mit kompakter Unterstützung durch die deutschsprachige Bevölkerung und großteils auch der Ladiner erhoben wurde.
Die Neuordnung der Autonomie wurde dann im Zuge der Durchführung des sog. Südtirolpakets in Angriff genommen und 1972 trat ein neues, mit der SVP vereinbartes und vom italienischen Parlament verabschiedetes Autonomiestatut in Kraft. In den nachfolgenden Jahren und bis zur Gegenwart wurden weitere Autonomiegesetze - vorwiegend sog. Durchführungsbestimmungen zum Statut - erlassen.
Kernpunkt der Autonomiereform ist der sehr erhebliche Ausbau der Landesautonomie und die Aushöhlung der Regionalautonomie, von der nur mehr ein mehr oder weniger symbolischer Rahmen übrigbleibt. Befugnisse und Gelder werden auf Landesebene - bei den beiden autonomen Provinzen Bozen und Trient - angesiedelt, sodaß man nun im wesentlichen von zwei Selbstverwaltungsregionen sprechen kann, die unter dem Dach der alten Region voneinander weitgehend unabhängig nebeneinander bestehen.
Die meisten Befugnisse zur Gestaltung der Wirtschafts-, Sozial-, Raumordnungs- und Kulturpolitik gehen an das Land Südtirol über (mit dem Landtag als Autonomieparlament und der Landesregierung mit dem Landeshauptmann an der Spitze). Auch die Finanzierung der Selbstverwaltung erweist sich als großzügig, Südtirols öffentliche Haushalte (Land, Staat, Gemeinden usw.) geben insgesamt mehr Geld aus als im Lande an Steuern und Abgaben eingehoben wird. Insofern genießt Südtirol sogar eine breitere Autonomie als beispielsweise das österreichische Tirol. Allerdings ist Italien kein Bundesstaat und so hat sich der Zentralstaat nicht nur alle wichtigsten Befugnisse wie Währungspolitik, Polizei, Justiz, Militär, Außenpolitik u.dgl. vorbehalten, sondern auch ein Kontrollrecht gegenüber der Autonomie: alle Landesgesetze müssen von der römischen Regierung gutgeheißen werden, nicht selten gibt es Versuche zur Beschneidung oder Aushöhlung der Autonomie und Streitigkeiten zwischen Autonomie und Zentralregierung kommen immer wieder vor. Schiedsrichter sind im Bedarfsfall der Verfassungsgerichtshof (in Rechtsfragen) oder das italienische Parlament (in politischen Fragen). Das Autonomiestatut und die dazugehörigen Durchführungsbestimmungen regeln das Ausmaß der Autonomie und die Kompetenzenverteilung zwischen Staat und Land.
Innerhalb der Südtirolautonomie besteht ein gesetzlich vorgesehener Kooperationszwang zwischen den Volksgruppen: damit niemand völlig majorisiert und von der Teilhabe an der Selbstverwaltung ausgeschlossen werden kann, müssen die Regierungsorgane des Landes, der Region und der Gemeinden aus Vertretern aller Sprachgruppen zusammengesetzt sein.
Auch der neuen Autonomie gegenüber gibt es Kritiken - und zwar sowohl von deutsch- als von italienischsprachiger Seite: manchen genügt sie nicht, andere empfinden sie als übertrieben ausgedehnt. Die Ladiner ihrerseits fühlen sich manchmal als Zaungäste dieser Autonomie. Und manchmal hat man den Eindruck, daß die Autonomie gegenüber Rom sozusagen genüge und die Demokratie im Lande selber ersetze. Die Väter dieser Autonomieregelung schließlich neigen dazu, die ihre Quintessenz in den komplizierten Paragraphen über ethnischen Proporz und Zweisprachigkeit zu sehen. Doch trotz allem kann gesagt werden, daß die derzeitige Autonomieregelung den Konsens der Mehrheit der Bevölkerung des Landes genießt und im Lauf von einem Jahrzehnt eine spürbare Umverteilung der Macht zugunsten der Tiroler Minderheit und erheblichen wirtschaftlichen Wohlstand ausgelöst hat.

> ATTENTATE, GLEICHGEWICHT, KIRCHTURM, KOMPROMISS, LOS VON TRIENT, LANDES.., ÖSTERREICH, PAKET, PARAGRAPHENREITER, PARISER VERTRAG, PROPORZ, REGION, SELBSTBESTIMMUNG, SPRACHGRUPPENZUGEHÖRIGKEITSERKLÄRUNG, STAAT, TAUZIEHEN, ÜBERLEBENSFÄHIG, VERZICHTPOLITIK, VOLKSZÄHLUNG, WIEDERGUTMACHUNG, ZENTRALISMUS, ZWEISPRACHIGKEIT.


BAUERN

Südtirol ist ein immer noch stark bäuerlich geprägtes Land. Das hat nicht nur mit dem alpinen Charakter der Gegend zu tun, sondern auch damit, daß die durch Italien und den Faschismus als Fremdkörper importierte Modernisierung und Industrialisierung sich jahrzehntelang nicht richtig durchgesetzt hat.
Ethnischer Widerstand gegen die Italianisierung und kultureller-ideologischer Widerstand gegen den nicht selber gewollten Wandel des Landes gingen ineinander über und wurden eins. Das soziale Rückgrat dieser Bewahrung waren vor allem die Bauern, größtenteils Kleinbesitzer, die unter recht schwierigen Umständen eine eher karge Berglandwirtschaft betrieben und größtenteils noch betreiben. Der “geschlossene Hof” - das unteilbare bäuerliche Erbe - erwies sich auch im 20.Jahrhundert noch als stabilisierendes Element und überdauerte de facto seine rechtliche Abschaffung durch den Faschismus (wurde inzwischen durch Landesgesetz wieder eingeführt).
Die Entbäuerlichung, die andere Landstriche Europas vor allem seit dem Wirken der EG-Agrarpolitik schwer betroffen und geradezu entvölkert hat, hält sich in Südtirol in Grenzen. Aufgrund der kompakten gesellschaftlichen Verhältnisse und der Nutzung autonomer Befugnisse konnte man die EG-Politik gegen die Klein- und Bergbauern mindestens teilweise unterlaufen. Deshalb gibt es bei einer Bevölkerung von rund 430.000 Personen noch über 26.000 landwirtschaftliche Betriebe, wobei allerdings etwa die Hälfte Nebenerwerbsbetriebe sind. Das soziologische und kulturelle Erscheinungsbild der deutschen und ladinischen Sprachgruppe ist auch heute noch stark durch diesen bäuerlichen Hintergrund geprägt.
Ob sich allerdings gegen die Naturbedrohung in Südtirol und im Alpenraum ein ähnlicher bäuerlicher Widerstand regen wird, wie seinerzeit gegen die vom Faschismus versuchte Entnationalisierung, läßt sich noch nicht absehen - auch weil die Sirenengesänge der Teilhabe am modernen Wirtschaftswachstum ungleich höhere Anziehungskraft ausüben als alle bisherigen Anfeindungen und Anfechtungen, denen sich die bäuerliche Welt gegenübergestellt sah. Daß allerdings Naturbearbeitung nicht unbedingt Naturzerstörung heißen muß, läßt sich im bäuerlichen Südtirol vielfach beobachten - allerdings neben dem Vormarsch der Gifte und der Monokulturen. Von der Landesregierung wird für die Förderung der Bauern und der Landwirtschaft sehr viel Geld ausgegeben, das teilweise zur Bewahrung traditioneller Strukturen und teilweise zu ihrer Modernisierung und Umwandlung der Höfe in landwirtschaftliche Betriebe dient. Die parteipolitische Geschlossenheit der Bauern in der SVP honoriert diese Politik, die nur dann und wann mit der Unzufriedenheit kleinerer Gruppen oder einzelner Bauern rechnen muß, die unter die Räder kommen.
Die Erinnerung an den großen Tiroler Bauernkrieg im 16.Jahrhundert unter Michael Gaismair, der einen radikalen sozialen Ausgleich zwischen Städtern und Bauern, Adel und Volk forderte, ist aus der Erinnerung der Südtiroler Bauern fast völlig verdrängt.

> ALPEN, FREMDENVERKEHR, HEIMAT(RECHT), INDUSTRIE, WIRTSCHAFT(SWUNDER)


BÜROKRATIE

Beamte und Bürokraten gibt es in Südtirol in großer Menge (rund 30.000 Personen im öffentlichen Dienst). Die vielen Stellen und Behörden (Staat, Land, Region, Gemeinden..), die nebeneinander bestehen, und die starke Tertiarisierung des Landes, in dem Dienstleistungs- und Verwaltungsfunktionen immer mehr um sich greifen (Import-Export, Verkehr, Banken, Fremdenverkehr, usw.) haben das mit sich gebracht. Teilhabe an der Verwaltung in Form von Beamtenposten und Ämtern ist auch Gegenstand ethnischer Auseinandersetzungen: wird anderswo bei derartigen Händeln vorwiegend nach politischem Proporz aufgeteilt, hat in Südtirol der ethnische Disput den Vorrang. Somit werden die Stellen nach komplizierten und meist wenig durchsichtigen ethnischen Proporzformeln vergeben. Zudem wird von den öffentlichen Beamten verlangt, daß sie die Kenntnis beider Landessprachen (deutsch und italienisch) nachweisen, in gewissen Fällen auch des Ladinischen. Im Staatsdienst herrschen noch immer italienische Beamte vor, bei den lokalen Behörden deutschsprachige Bedienstete.
Jede Volksgruppe legt größten Wert auf Ämter und Posten - seit der Annexion an Italien und bis vor kurzem eher eine Domäne der Italiener - und merkt manchmal gar nicht, wie sich die vielbeschworene Bewahrung ihrer Eigenart in eine beiderseitige, schleichende und parallele Umwandlung in Ethno-Bürokraten vollzieht. Bis hin zu Dienststellen, die Trachten, Erbhöfe und Sprache hüten.

> AUTONOMIE, KULTUR, PARAGRAPHENREITER, PROPORZ, VOLKSZÄHLUNG, ZWEISPRACHIGKEIT(SPRÜFUNG)


CHRISTLICH

„Christlich“, ja sogar katholisch, sind in Südtirol eigentlich fast alle: die wichtigsten Parteien (Südtiroler Volkspartei und die italienischen Christdemokraten der DC), die wichtigsten Medien (vor allem die Presse des Verlagshauses Athesia, die fast eine Monopolstellung einnimmt), die wichtigsten Vereine, die wichtigsten Unternehmer, die sogenannte Sozialpartnerschaft zwischen den SVP-nahen Wirtschafts- und Gewerkschaftsvertretungen und noch vieles andere.
Auch die Wortführer des Nationalismus auf der einen und der anderen Seite sind sehr christlich und setzen sich für „Heimat und Glauben“ auf deutsch und „Dio, Patrie e familia“ auf italienisch ein.
Bei Einweihungen von Parteilokalen der SVP nimmt meistens ein Vertreter des katholischen Klerus die Segnung vor, und die DC profitiert von der engen Verquickung ihrer Parteitätigkeit und
italienisch-katholischen Vereinen, Einrichtungen und Gebäuden. Thron und Altar scheinen auch heute in Südtirol nicht recht weit voneinander entfernt. Bei Prozessionen und feierlichen kirchlichen Anlässen fehlen die führenden Politiker kaum je in der vordersten Reihe, und so mancher rückt bei Wahlen seine christlichen Verdienste gebührend ins rechte Licht.
Ein gemeinsames Gebetbuch für katholische kirchliche Feiern in deutscher und italienischer Sprache gibt es noch immer nicht, und die Seelsorge findet im großen und ganzen nach Volksgruppen getrennt statt. So manche Christen beten hüben und drüben um himmlischen Beistand im Volkstumskampf.

> DISSIDENTEN, HERZ-JESU-KULT, KIRCHE, PLURALISMUS, SAMMELPARTEI



DEMOKRATIE(DEFIZIT)

Tirol sieht und feiert sich gerne als eine der ältesten Demokratien der Welt, ja, als eine Wiege der europäischen Demokratie, weil Bürger und Bauern - ähnlich wie in der Schweiz oder in Schweden - schon früh im Mittelalter ein gewisses Recht auf parlamentarische Vertretung und Mitsprache hatten.
Seit der Niederlage der Bauernkriege im 16.Jahrhundert scheint sich allerdings die Lust auf Demokratie ziemlich verflüchtigt und an ihrer Stelle ein recht verbreitetes Obrigkeitsdenken eingeschlichen zu haben. Und nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie und der Annexion Südtirols an
Italien hat sich ein derart ungestilltes Bedürfnis nach einer starken und glaubwürdigen Obrigkeit breitgemacht, daß es den Nazis nur allzuleicht gelang, es sich zunutze zu machen: autoritäre Vorstellungen wurden von den Tirolern (südlich und nördlich des Brenners) nicht etwa als wesensfremd empfunden.
Demokratische Widerstandsformen, Zivilcourage, kritische Selbstorganisation gegen die Mächtigen und ziviler Ungehorsam stehen in Südtirol nicht besonders hoch im Kurs und werden eher als aufrührerisch oder zumindest verdächtig betrachtet. Pluralismus und Meinungsverschiedenheit gelten - auch weil man sich gerne im ethnischen Belagerungszustand wähnt - als schädlicher Luxus. Autonomie im Sinne einer gewissen Nichteinmischung der italienischen Regierung wird als Inbegriff der Demokratie - ja, geradezu als Demokratie-Ersatz - verstanden, wie es dann im Lande selber aussieht und zugeht, scheint zweitrangig. Statt einer Auseinandersetzung zwischen verschiedenen politischen oder sozialen Richtungen bündelt sich alles um den Volkstumskampf, der natürlich auf allen Seiten Geschlossenheit erfordert. Diese Verzerrung spiegelt sich zum Teil sogar im Autonomiestatut wider, das zwar die Vertretung der minderheitlichen Volksgruppen, nicht aber der politischen Minderheiten absichert.
Sollte sich der Demokratievorrat (Süd)Tirols im wesentlichen im Mittelalter erschöpft haben?

> AUTONOMIE, DISSIDENTEN, EINHEIT DER VOLKSGRUPPE, GEWALT, GLEICHSCHALTUNG, INFORMATION, MEDIEN, MINDERHEITENSCHUTZ, OPPOSITION, PLURALISMUS, SAMMELPARTEI, TAUZIEHEN


DENKMÄLER

Denkmäler spielen in Südtirol eine große Rolle: sie markieren Präsenz, stählen das - meist ethnisch verstandene - Identitätsgefühl und bieten der Gegenseite Paroli. Am protzigsten, diesbezüglich: das faschistische Siegesdenkmal an der Bozner Talferbrücke.
Eine kleine Denkmalblütenlese von Personen, denen in Südtirol ethnisch verstandene Denkmäler, Straßennamen, Erinnerungstafeln und dergleichen gewidmet sind: Walther von der Vogelweide (hier als Vorkämpfer des Deutschtums im Süden verstanden, noch aus dem vorigen Jahrhundert), Giuseppe Mazzini (zwar als Europäist geehrt, aber wesentlich als Vorkämpfer der Brennergrenze für Italien gemeint), deutsche und italienische Gefallene - natürlich getrennt, die ehemaligen Sprengstoffattentäter aus den 60er Jahren Josef Kerschbaumer und Walter Höfler, zahlreiche Helden aus der Andreas-Hofer-Zeit, heldenhafte Carabinieri, und - eher verschämt - da und dort Partisanen oder Opfer des Faschismus oder des Nationalsozialismus (wobei wiederum jede Seite mit Vorliebe nur die Opfer der von der eigenen Sprachgruppe ungeliebten Diktatur ehrt).
Denkmäler sind Gegenstand häufiger und hitziger Auseinandersetzungen im verbalen Volkstumskampf und werden gerne als Anlaufpunkte für ethnisch betonte Feiern und Aufmärsche gewählt (Beflaggung oder - wie beim Siegesdenkmal - grünweißrote Bestrahlung erhöhen die Wirkung). Sie sind auch beliebte Zielscheiben von Schmierereien und Sprengungen.

> ATTENTATE, FARBE BEKENNEN, HELDEN, IDENTITÄT


DEUTSCHTUM

Deutschtum: ein anderswo anrüchig gewordener Begriff, der in Südtirol noch immer hoch im Kurs steht und viel gebraucht wird. Schon auf manchen Autoaufklebern kann man die (Falsch)Meldung lesen: „Südtirol deutsch seit“ (damals, zur Zeit der Bajuwaren, gab's noch keine kompakte behördliche Germanisierung!). Und während das historische Tirol (ebenso wie das historische Habsburger-Österreich) auf seine sprachliche Vielfalt stolz war, hat sich unter dem Einfluß der aufkommenden Alldeutschen des vorigen Jahrhunderts und der deutschnationalen Strömungen unseres Jahrhunderts - allen voran des Nationalsozialismus - auch in (Süd)Tirol Deutschtümelei breitgemacht. Das war auch eine Reaktion auf die italienisch-nationale Unterdrückung und Provokation durch den italienischen Faschismus. So wurden in den 20er und 30er Jahren aus den Tirolern zunehmend „Deutsche“ (später Volksdeutsche und Großdeutsche). In diesem Begriff faßt sich heute für viele Südtiroler ihre Identität am besten zusammen, weswegen die Bezeichnung „deutsch“ auch mit größter Unbefangenheit und Selbstverständlichkeit gebraucht wird, was anderswo außerhalb Deutschlands nicht mehr so leicht passieren kann, seit sich die Kulturnation in Staatsnation verwandelt hat.
Vom erhofften Endsieg im zweiten Weltkrieg erwarteten sich in Südtirol so manche auch eine starke Behauptung des Deutschtums in Europa und die endgültige Heimführung Südtirols ins Reich - sie müssen nun den mühsamen täglichen Kampf ums Deutschtum unter ungünstigeren Umständen fortführen und auf bessere Zeiten hoffen. Dafür gibt's immer wieder Touristen, die großdeutsche Aufkleber auf Almhütten hinterlassen und denen man geradezu aus dem Gesicht die befriedigte Erkenntnis über Südtirol abliest:“Hier bin ich Deutsch“.
Das Österreich-Bewußtsein, das eigentlich zum historischen Erbe (Süd)Tirols gehört, ist durch die Überbetonung des Deutschtums einigermaßen verblaßt und in den Hintergrund getreten.

> ASSIMILATION, ETHNISCH, FARBE BEKENNEN, GEMISCHTE, HEIMAT(RECHT), IDENTITÄT, „ITALIANITÀ“, „JE KLARER WIR TRENNEN“, NATIONALISMUS, NAZIS, OPTANTEN, OPTION 1981, RECHTE, RÜCKVERDEUTSCHUNG, SPRACHGRUPPENZUGEHÖRIGKEITSERKLÄRUNG, TAUZIEHEN, TODESMARSCH, VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG, VOLKSGRUPPE, VOLKSTUM



DISKRIMINIERUNG

Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zur einen oder anderen Volksgruppe - verstanden als negative Auszeichnung, als Benachteiligung - ist eine bittere Erfahrung, die in Südtirol auch heute noch zur Alltagserfahrung gehören kann. Und zwar für Menschen aller drei Sprachgruppen, und solcher, die sich keiner der drei zurechnen wollen oder können.
Herrschte unter dem Faschismus die legale Diskriminierung der nicht assimilierungswilligen Südtiroler deutscher Muttersprache (sie mußten beispielsweise aus dem öffentlichen Dienst scheiden und wurden vielfältig schikaniert, manchmal auch verfolgt und jedenfalls benachteiligt), spürte man auch nach dem Ende des zweiten Weltkriegs noch zahlreiche Formen von Diskriminierung durch die italienischen Behörden. Nicht nur war die deutsche Sprache als Amtssprache kaum durchzusetzen; auch die Menschen deutscher (und ladinischer) Muttersprache wurden in mehrerer Hinsicht benachteiligt, solange fast alle Macht von italienischen Staatsorganen ausgeübt wurde. Das wirkte sich auf die wirtschaftliche, soziale, kulturelle, rechtliche und politische Situation der Tiroler Minderheit aus, die außerdem noch an den Wunden des Faschismus zu leiden hatte. Erst der zähe Kampf um Rechte und Maßnahmen zur Wiedergutmachung und zum Minderheitenschutz besserten nach und nach die Situation und stellten nicht nur Rechtsgleichheit, sondern auch weitgehend die tatsächliche Chancengleichheit zwischen den Angehörigen der verschiedenen Sprachgruppen her. Mit der Autonomiereform (Paket) wurde im wesentlichen der Ausgleich hergestellt - begann aber auch eine Periode neuer legaler Diskriminierung, die bis heute andauert. Das System der ethnischen Quotenregelung - der sog. ethnische Proporz - bei Vergabe von Beamtenstellen, Sozialleistungen (vor allem Wohnungen) u. dgl. hat nämlich die gesetzlich vorgesehene Diskriminierung eingeführt: die Zugehörigkeit zur einen oder anderen Sprachgruppe wird ausschlaggebender als Qualifikation oder Bedürftigkeit. Und mehr noch: wer sich bei der Volksgruppenfeststellung in keine der drei legal vorgesehenen Sprachgruppen einordnen läßt, wird überhaupt vom Genuß zahlreicher Rechte (passives Wahlrecht inbegriffen) ausgeschlossen. Das schafft natürlich einige Spannung und böses Blut. Andere legale Diskriminierungen betreffen den Vorrang der ansässigen Bevölkerung bei Arbeitsvermittlung und Vergabe von Sozialwohnungen und die Einschränkung des Wahlrechts auf Bürger, die seit mindestens vier Jahren ansässig sind: Maßnahmen, die vor allem ungebührliche Unterwanderung des Siedlungsgebietes der Tiroler Minderheit verhindern sollen. In allen diesen und noch anderen ähnlich gelagerten Fällen besteht heute in Südtirol eine gesetzlich vorgesehene und geregelte Diskriminierung, gegen die sich vor allem die negativ Betroffenen und etliche um Menschenrechte bekümmerte Gruppen wehren.
Daneben gibt es aber auch zahlreiche Situationen, in denen Diskriminierung nicht von Gesetzen vorgeschrieben und gesteuert wird, sondern Ausdruck offener oder subtiler Willkür ist. Das kann bald die eine, bald die andere Volksgruppe betreffen: beispielsweise wird bei vielen staatlichen Ämtern und Dienststellen nur sehr widerwillig und manchmal überhaupt nicht deutsch gesprochen, und bei manchen lokalen Behörden nur recht ungern das Italienische verwendet. Italienischsprachige Bürger Südtirols spüren Diskriminierung häufig bei Wohnungs- und Arbeitssuche, manchmal auch in Gasthäusern und Geschäften; deutschsprachige eher beim Militär oder im Gefängnis. Dabei kann es sich manchmal um offene Ungleichbehandlung und Benachteiligung, manchmal „nur“ um unfreundliche Bedienung oder Auskunft oder Verweigerung mitmenschlicher Solidarität handeln.
Vor lauter Hervorhebung des Rechtes auf Verschiedenheit finden viele Menschen in Südtirol es eigentlich ganz normal, daß verschiedensprachige Menschen auch verschieden behandelt werden...
Während heute die Diskriminierungen gegen die deutschsprachigen Südtiroler unter dem Faschismus noch in wacher Erinnerung sind, hat man die Diskriminierungen gegen die Nichtoptanten praktisch aus dem Gedächtnis gelöscht - und einen ganz dicken Mantel des Vergessens über die schwere Diskriminierung, Verfolgung und schließlich Verschleppung und vielfach Ermordung der Juden Südtirols gebreitet.


> DISSIDENTEN, FARBE BEKENNEN, FEINDBILDER, MINDERHEITENSCHUTZ, OPPOSITION, PROPORZ, QUERULANTEN, RASSISMUS, SPRACHGRUPPENZUGEHÖRIGKEITSERKLÄRUNG, „VITTIMISMO“, WIEDERGUTMACHUNG, XENOPHOBIE.


DISSIDENTEN

„Ich bin ein Südtiroler” schrieb der 1978 früh verstorbene Dichter Norbert Conrad Kaser. Dissident ist man, wenn man in einem mehr oder weniger totalitär verfaßten System abweichender Meinung ist. Innerhalb der deutschen Sprachgruppe Südtirols wurde jahrzehntelang - und wird häufig auch heute noch - als Dissident angesehen und behandelt, wer aus der Einheit und Geschlossenheit der Volksgruppe ausschert(e). Dies kann vor allem durch mangelnde völkische Standfestigkeit geschehen, aber auch durch sonst abweichende Meinungen oder Verhaltensweisen, beispielsweise in Religion, Kunst, Politik und Weltanschauung überhaupt. Der (vielfach eingebildete) ständige ethnische Belagerungszustand läßt keinen Platz für Zwischentöne, jedes Ausscheren wird als Schwächung der Kampfkraft und -Moral empfunden und als Defaitismus geahndet: Dissidenten galten und gelten gerne als Verräter und werden zu Fremdkörpern und Schädlingen gestempelt - und isoliert, angegriffen, totgeschwiegen, lächerlich gemacht. Die Behandlung, die man in der Optionszeit den Nichtoptanten zukommen ließ, blieb auch in den Jahrzehnten nach dem 2.Weltkrieg das Grundmuster für den Umgang mit Dissidenten, die es nicht nur unter Intellektuellen gab und gibt. Wobei die Interessen und Standpunkte der „Sammelpartei“ immer wieder mit den Interessen der Volksgruppe schlechthin gleichgesetzt werden.
Im Jahre 1978 mußten Südtiroler Intellektuelle (beileibe nicht nur Dissidenten) in einem Aufruf („Brief der 83“) eine Wende im öffentlichen Leben zu mehr Pluralismus und Toleranz fordern. Die zähe Arbeit neuer „inter-ethnischer“ Bewegungen seit 1978 hat nach und nach das Dissidententum aus der Isolierung herausgeführt und für abweichende Meinungen und Standpunkte mehr Platz und eine gewisse Anerkennung erkämpft.

> DEMOKRATIE(DEFIZIT), DISKRIMINIERUNG, EINHEIT DER VOLKSGRUPPE, EMIGRANTEN, OPPOSITION, QUERULANTEN, SAMMELPARTEI.


DORNENKRONE

Bei einem Festzug im Rahmen der Andreas-Hofer-Feiern des Jahres 1984 wurde in Innsbruck von einer Südtiroler Delegation, die sich für Selbstbestimmung einsetzt, eine geschmiedete Dornenkrone mitgetragen, wie schon im Jahre 1959. Dornenkrone und Selbstbestimmungstransparente („Los von Rom“, „60 Jahre Unterdrückung sind genug“) defilierten an den Spitzen der österreichischen Regierungsbehörden und den übrigen Ehrengästen (Südtirols Landeshauptmann Magnago gleich neben Bundespräsident Waldheim) vorbei, wodurch eine Propaganda-Aktion aufgewertet wurde, die - auch durch den Bezug auf die doch sehr unterschiedliche Situation von 1959 - eine „Volk-in-NOT“-Stimmung signalisieren sollte. Ähnliche Bedeutung haben gelegentlich geäußerte Vergleiche zwischen Südtirolern und Palästinensern.
Die italienische Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: den Marsch mit der Dornenkrone sah man als den Höhepunkt einer Provokations- und Verzerrungskampagne und als Ausdruck der Zuspitzung der ethnischen Konfrontation in Südtirol. Wenige Monate nachher verfünffachten sich in Bozen die neofaschistischen Wählerstimmen und die italienische Regierung schlug bald schon in Südtiroler Autonomieangelegenheiten eine härtere Gangart ein.

> FARBE BEKENNEN, ÖSTERREICH, SELBSTBESTIMMUNG, „VITTIMISMO“


EINHEIT DER VOLKSGRUPPE

Immer noch wird in Südtirol von vielen die Einheit der (deutschen) Volksgruppe als das höchste Gut schlechthin gesehen; und dies im wesentlichen seit Beginn des faschistischen Regimes in Italien (vorher hatte es in Südtirol beispielsweise mehrere Parteien gegeben). In dieser Überzeugung liegt eine gute Portion Erfahrung - man weiß aus dem Schicksal anderer minderheitlicher Volksgruppen, daß sie durch Spaltung leichter unterzukriegen sind - aber sie kann auch üble Streiche spielen, weil Geschlossenheit und Konformismus an sich, sozusagen unabhängig vom Inhalt, zu höchsten Werten erhoben werden und jedes Abweichen davon dann als schädlich erklärt und gesellschaftlich oder gar gewaltsam geahndet wird. Die Geschichte der Optionszeit ist diesbezüglich sehr aufschlußreich und wurde nicht von ungefähr einfach verdrängt.
Wo Pluralismus als schädlich und Gleichschaltung bedenkenlos als positiv empfunden werden, können autoritäre und totalitäre Gesinnungen gedeihen. Und das ist in Südtirol im Gefolge des Volkstumskampfes bisher auf deutschsprachiger Seite ausgiebig geschehen: Politik, Vereine, kulturelles Leben, Medien, Kirche, soziale Institutionen und praktisch alle Einrichtungen der deutschsprachigen Südtiroler dienten dem übergeordneten hehren Ziel der Einheit der Volksgruppe.
Erst in neuester Zeit bricht ein gewisser Pluralismus langsam durch, auch weil man sich als Volksgruppe gesicherter fühlt. Dafür beginnt nun auf italienischsprachiger Seite ein ähnlicher Prozeß der Einigelung und der engeren Schließung der Reihen, wobei - wie schon aus der Erfahrung der Deutschsüdtiroler bekannt - die strammen Nationalisten das Sagen haben.

> ÄNGSTE, ASSIMILATION, DISSIDENTEN, ETHNISCH, FARBE BEKENNEN, FEINDBILDER, GLEICHSCHALTUNG, „JE KLARER WIR TRENNEN“, NATIONALISMUS, NICHTOPTANTEN, OPPOSITION, OPTANTEN, PLURALISMUS, SAMMELPARTEI, SPRACHGRUPPENZUGEHÖRIGKEITSERKLÄRUNG, VOLKSGRUPPEN


EMIGRANTEN

Noch ist nicht abzusehen, ob in naher Zukunft etwa ein neuer Landeshauptmann Südtirols ähnlich wie Gorbatschow einen öffentlichen Aufruf an die „Emigranten“ richten wird – „kommt zurück, die Eiszeit ist vorbei, wir brauchen euch!“. Schön wär's jedenfalls.
Die doch recht zahlreichen Südtiroler - früher vorwiegend deutscher Muttersprache, heute auch Italiener - die im Lauf der letzten vierzig Jahre das Land verlassen haben, kann man grob in drei Kategorien einteilen: Arbeitsemigranten (die meist aus bäuerlichen Familien kamen und vor allem von den 50er bis zur Mitte der 70er Jahre auf Arbeitssuche ins deutschsprachige Ausland zogen); qualifizierte Emigranten, die Berufe und Funktionen ausüben, die es in Südtirol nicht gibt; und schließlich Südtiroler, denen es im Lande unter den vorherrschenden Verhältnissen zu eng geworden ist oder die mit dem ständigen Volkstumskampf oder den ethnischen Diskriminierungen nicht leben wollten oder konnten.
Die wirtschaftliche Situation Südtirols ist heute so, daß es kaum mehr Arbeitsemigranten („Heimatferne“ heißen sie offiziell) gibt und eher ein - auch behördlich geförderter - Prozeß der Rückwanderung im Gange ist. Emigration von hochspezialisierten Fachkräften (Techniker, Universitätsprofessoren, Forscher, Ärzte...) aus der Provinz in die Metropolen wird sich nie vermeiden lassen und kann ja auch nicht als negatives Indiz gesehen werden. Die Emigration einer gewissen Anzahl von Südtirolern aller Sprachgruppen ins freigewählte Exil sollte hingegen doch bedenklich stimmen: dabei finden sich Menschen, die den alltäglichen ethnischen Kleinkrieg satt haben, und solche, die zu Dissidenten und Außenseitern geworden sind oder eben diesem Schicksal entgehen wollten; Künstler und Intellektuelle; Opfer ethnischer Diskriminierung (beispielsweise Italiener, denen auf Jahre hinaus durch den ethnischen Proporz Laufbahnen verbaut sind); junge Menschem, die den Preis ihrer Unterordnung unter oft beklemmende Verhältnisse nicht bezahlen wollen.
Daß viele Südtiroler über den Kirchturm hinaus eine Zeitlang anderswo leben und wirken wollen, ist ihr gutes Recht und kann auch dem Lande und den „Bleibern“ nur gut tun, insbesondere wenn die „Geher“ sich irgendwie als Fenster zur Welt verstehen und etwas zurück nach Hause bringen. Daß aber so viele und so wache Menschen das Gefühl haben, sich unter den gegebenen Verhältnissen in Südtirol nicht entfalten zu können, kann sich für ein so kleines Land, in dem eine Regeneration durch Zuzug von außen immer weniger möglich ist (weder auf deutscher und ladinischer, noch auf italienischer Seite), auf Dauer sehr nachträglich auswirken - auch wenn es im Augenblick von manchen Mächtigen begrüßt werden mag, daß potentielle Unruhestifter das Feld räumen.
Noch eine Pointe des Südtiroler Autonomierechts: wer ins Ausland zieht, behält seinen Wohnsitz und das Wahlrecht in Südtirol; wer nach Italien zieht, muß nach seiner Rückkehr vier Jahre lang warten, bis er wieder wahlberechtigter Südtiroler Vollbürger wird - was da für eine Auslese zustandekommt, läßt sich leicht erraten.

> DISSIDENTEN, EUROPÄER, FARBE BEKENNEN, HEIMAT(RECHT), KIRCHTURM, LEDERHOSENKULTUR, „SCHÖNES LAND, BÖSE LEUT“, ÜBERLEBENSFÄHIG, UNIVERSITÄT


ETHNISCH

Wenn in Südtirol ein Setzer oder eine Tippsekretärin das Wort „ethisch“ vor sich sieht, wird der vermeintliche Fehler meistens ohne nähere Nachfrage in „ethnisch“ ausgebessert - sosehr ist dieses Fremdwort zu einem allgegenwärtigen Schlüsselwort geworden. „Ethnisch“ klingt besser als „völkisch“, wie man bis Mitte der 70er Jahre zu sagen pflegte. Und durch die ethnische Brille wird in Südtirol praktisch alles betrachtet. Wobei der Begriff „ethnische Gruppe“ in der Praxis gleichbedeutend mit Sprach- oder Volksgruppe ist, was angesichts der doch recht unterschiedlichen Realität auch ein bißchen komisch wirkt. Denn deutsch- und ladinischsprachige Südtiroler, beispielsweise, gehören „ethnisch“ - wenn dieses Wort einen Sinn und Nutzen haben soll - sicher zusammen, und man könnte auch die meisten Trentiner und Nordtiroler und weiß Gott wen noch mit dazurechnen. Aber sprachlich liegen sie sicher recht weit auseinander, gehören die einen doch zu einer germanischen und die anderen zu einer romanischen Sprachfamilie. Die im Lande lebenden Italiener lassen sich hingegen nur schwer als ethnische Gemeinschaft definieren. Dennoch wird der Begriff „ethnisch“ (e. Eigenart, Gruppe, Bewußtsein, Eigenschaft, Verteidigung, Überleben...) viel verwendet und meint im Grunde die Konfliktparteien im Volkstumskampf - wenn das Wort „Rasse“ noch salonfähig wäre, würde man vielleicht lieber zu den gleichen Zwecken den Ausdruck „rassisch“ verwenden.
Auf Deutschsüdtiroler Seite wird unter „ethnisch“ der ideologisch-politische Bezug auf das Deutschtum verstanden, und für die beiden größeren Volksgruppen hat dieses vielgebrauchte Wort vor allem als Ausdruck der Abgrenzung und Zuordnung seine Bedeutung - nähere Studien über ethnische Merkmale und Eigenheiten gibt es kaum und keiner vermißt sie. Die ethnische Dynamik (d.h. des ethnischen Konflikts) dient gerne als Grundmuster für jedwede Erklärung der Realität und Allzweck-Handlungsrahmen. So kann man Südtirol als ideales Terrain für Studien über Ethnozentrismus empfehlen.
Einigermaßen paradox und komisch ist, daß sich in der Wirklichkeit die Volksgruppen - durch die moderne Entwicklung vereinheitlicht - immer mehr ähneln und die Unterscheidung und Zuordnung der Menschen, denen man begegnet, längst nicht mehr so eindeutig möglich ist wie vor zwanzig und sogar zehn Jahren. Dafür sprießt der ethnische Unterschied dank guter Düngung vor allem in den Köpfen der Leute.

> ASSIMILATION, BAUERN, DEUTSCHTUM, EINHEIT DER VOLKSGRUPPE, FEINDBILDER, GESCHICHTE, HEIMAT(RECHT), IDENTITÄT, INTER-ETHNISCH, „JE KLARER WIR TRENNEN“, MISCHKULTUR, RASSISMUS, SÜDTIROLER, TAUZIEHEN, UREINWOHNER, VOKABULAR, VOLKSGRUPPEN, VOLKSTUM, XENOPHOBIE, ZUSAMMENLEBEN.


EUROPÄER

Als die italienische Regierung unter Craxi verfügte, während jeder Sitzung parlamentarischer Gremien - als auch des Südtiroler Landtags - müsse die Staatsflagge vom Amtssitz dieser Gremien wehen, kam man in Südtirol in Verlegenheit, weil dieses textile Hoheitszeichen nicht besonders beliebt ist. Schließlich fand man den Ausweg, die ungeliebte Fahne durch gleichzeitiges Aushängen der Tiroler und der Europa-Fahne irgendwie zu verwischen und zu relativieren. Lieber als Italiener ist man immer noch Europäer... Prompt reagierte der Regierungskommissar, der in Südtirol die Zentralregierung vertritt, und ließ die Europafahne wieder einziehen, weil sie nicht vorgesehen sei - die Tiroler Fahne konnte als Landesfahne mit dem entsprechenden Wappen weiter gehißt werden.
Europa - ein Ausblick, in dem viele uneuropäisch Denkende und Handelnde vor allem einen gewissen Abbau der nationalen (d.h. italienischen) Staatlichkeit sehen; Europa - ein Lichtblick für viele, die von der hohen Weltbürgerwarte mit einer gewissen Verachtung auf alles Provinzielle herabschauen; Europa - Hoffnung auf einen größeren Horizont, auf Schwinden nationalistischer Borniertheit, auf ein gemeinsames Dach, unter dem auch verschiedene Völkerschaften miteinander gut auskommen können. Diese und noch andere Vorstellungen, die in Südtirol verbreitet sind, zeigen, daß der Bezug auf Europa vorwiegend positiv besetzt ist, und daß man sich von einem engeren europäischen Zusammenwachsen auch eine weitere Herabminderung der Rolle der unverdauten Brennergrenze erhofft - und italienischerseits vielleicht eine Lockerung der allzu grimmigen Ethno- und Autonomiedisziplin.
Obwohl also (fast) alle in Südtirol Europa erwartungsvoll entgegenblicken, ist das Land mit seinen Autonomieparagraphen auf die europäische Integration mit Niederlassungsfreiheit, relativ ungezügelter Konkurrenz zwischen EG-Bürgern unabhängig von ihrer Nationalität und kultureller Vielfalt ohne Abfederung keineswegs gerüstet. Man wird also erst sehen müssen, ob am ethnischen Proporz und an den Anti-Zuwanderungs-Normen Europa abprallt oder umgekehrt.

> ALPEN, EMIGRANTEN, FREMDENVERKEHR, HEIMAT(RECHT), IDENTITÄT, KIRCHTURM, NATIONALISMUS, ÖSTERREICH, REGION, SPRACHEN, STAAT, VERSÖHNUNG, XENOPHOBIE, ZUSAMMENLEBEN


FARBE BEKENNEN

Farbe bekennen muß man in Südtirol eigentlich dauernd, natürlich vor allem in ethnischer Hinsicht. Gelegenheiten dazu bieten sich ständig und werden geradezu eigens herbeigeführt. Die Wahl der Schule, des Vereins, des Freundeskreises, des Ehepartners, des Namens für die eigenen Kinder oder die Firma, des Stammlokals, des Geschäfts, in dem man einkauft oder der Lieferanten, bei denen man sich bedient, die Art, Feste zu feiern und der Stil bei Bau oder Einrichtung eines Hauses - diese und andere Ereignisse können lauter Anlässe zum Farbe-bekennen werden. Wer sich selbst dessen nicht so ganz bewußt ist, wird vielleicht von wohlmeinenden Mitbürgern aufmerksam gemacht oder merkt spätestens an der Mißbilligung anderer, daß er eine Gelegenheit versäumt oder gar absichtlich vernachlässigt hat. Ganz zu schweigen von den hochgespielten demonstrativen Anlässen wie politische Kundgebungen oder Wahlen, Beflaggung, Verwendung von Symbolen oder Abgabe der Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung bei der Volkszählung, die eigens dazu dienen, jeden Bürger Südtirols auf die Volksgruppenloyalität einzuschwören und zwielichtige Verweigerer des ethnischen Farbe-bekennens bloßzustellen. „Wer nicht mit uns ist: eine Logik, die früher vor allem auf deutschsprachiger Seite vorherrschte und nun zunehmend auch auf die italienische Sprachgruppe übergreift.

> DENKMÄLER, DISSIDENTEN, EMIGRANTEN, ETHNISCH, GEMISCHTE, INTER-ETHNISCH, „JE KLARER WIR TRENNEN“, NICHTOPTANTEN, OPTANTEN, OPTION 1981, ORTSNAMEN, TAUZIEHEN, VOKABULAR


FASCHISTEN

: so etwa könnte die stereotype Südtiroler Vorstellung vom Faschismus und den Faschisten wiedergegeben werden. Woraus nicht wenige folgern, daß man den Teufel am wirksamsten durch Beelzebub austreibt, und der faschistischen Anmaßung ein strammes Nazi-Bollwerk entgegensetzt oder jedenfalls mit einem ebenso groben Keil auf den groben Klotz reagiert. Und in der irrigen Annahme, daß es sich um zwei gegensätzliche und womöglich gar unvereinbare Wunderwaffen handelt..
Tatsache ist, daß Südtirol den italienischen Faschismus vor allem als nationale Unterdrückung und massiven Italianisierungsdruck erlebt hat - auf den viele durch Hinwendung zum Nationalsozialismus antworteten - und daß von jenem spezifischen Erbe des Faschismus noch lange Jahre so manches erhalten blieb: in den Personen, den Symbolen, den Verhaltensweisen, dem Denken, der Politik, der Bürokratie. Echte Säuberung und erst recht echte Vergangenheitsbewältigung hat es - gerade in Südtirol - kaum gegeben, und für so manchen Italiener im Lande blieben die Jahre des „Duce“ noch lange als die goldenen Jahre in Erinnerung. Nicht zufällig gab es in Südtirol bis Anfang der 70er Jahre höhere MSI-Wahlprozente als sonst im Durchschnitt in Italien.
Dazu kommt, daß seit Wiederaufflackern der ethnischen Spannung und in der neuen Situation der relativen Schwächung der italienischen Sprachgruppe Südtirols sich die Enttäuschung, die nationalistische Formierung und das Bedürfnis nach einer ethnischen Sammlungsbewegung (seit 1983) in einer rapiden und deutlichen Zunahme von Wählerstimmen für die neofaschistische MSI-Partei äußert, wobei von den meisten Wählern nicht etwa Faschismus gefragt ist, sondern eher eine entschlossenere und selbstbewußtere Wahrung der italienischen Interessen und Positionen gegenüber den „tedeschi“. Ehemalige christdemokratische oder kommunistische Wähler, die ihre Stimme für MSI abgegeben haben, würden deshalb auch den Vorwurf des Faschismus empört von sich weisen und vielleicht eher im Gegenzug der SVP und ihren Wählern eine gewisse Nähe zum Nationalsozialismus vorwerfen.
Klar erkennbar ist jedenfalls, daß die Zunahme nationalistischer und chauvinistischer E
pro dialog