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Eine "Neue Linke" in Südtirol?

1.2.1967, Die Brücke Nr. 2
Dieser Beitrag unseres Mitherausgebers soll der Offenheit unserer Zeitschrift entsprechend zur Diskussion gestellt werden, ohne daß die einzelnen Ausführungen unbedingt die Meinung der Redaktion wiedergeben. Die Redaktion will vor allem die Möglichkeit einer evolutiven, demokratischen Entwicklung innerhalb der bestehenden Gruppieungen nicht von vorneherein ausschließen. Wir hoffen auf Diskussionsbeiträge zum Thema.

Ich will den Versuch wagen, mit diesem Artikel einen Vorstoß in bisher fast ruhige Gewässer zu machen: es soll hier über Politik in Südtirol gesprochen werden.

Ruhige Gewässer? Politik in Südtirol? Wird doch kaum über etwas anderes als "Politik" gesprochen...

Wenn man sich aber bemüht, ehrlich und klar die Lage zu beleuchten, muß man feststellen, daß besonders unter Südtirolern ganz selten über Politik im eigentlichen Sinn diskutiert wird. Die Lage Südtirols führt dazu, daß "Politik" oft in erster Linie als völkische Verteidigung gesehen wird; unter den deutschen Südtirolern wiegt jedenfalls diese Auffassung vor. Daneben mag Politik noch die Kunst von der bestmöglichen Verteilung der Futternäpfe sein, aber darüber hinaus erstreckt sich der Horizont in Südtirol recht selten. Die verkrampfte und künstlich geschürte Lage hat es dazu gebraucht, daß viele in Südtirol - Deutsche und Italiener - überzeugt sind, ihre Interessen seien eben entgegengesetzt und ließen sich deshalb durch eine "deutsche" und eine "italienische" Politik am besten verteidigen. So kommt es, daß in beiden Lagern jene das große Wort führen, die von der Sammlung der nationalen Kräfte sprechen und sich durch besonderen Nationalismus auszeichnen. Wenn man tiefer blickt, wird man vielleicht erkennen, daß bestimmte Kreise von einer solchen Gegenüberstellung recht gut leben: die Politiker ersparen es sich, ein vernünftiges Verwaltungsprogramm zu erstellen, weil die vordringlichen "völkischen Interessen" noch nicht gelöst sind; die Wirtschaftskreise ersparen sich soziale Konflikte, indem sie den ethnischen Gegensatz verschieben (sodaß nun sogar die Gewerkschaften getrennt sind, während der Industriellenverband klaglos "integriert" arbeitet); Kultur wird weiterhin auf dem traditionell schwachen Niveau betrieben, weil "Deutschtum" oder "Italianität" von vielen als wichtiger betrachtet werden als der kulturelle Gehalt einer Veranstaltung ... und so geht es weiter bis zu den Volkswohnhäusern, wo es wichtiger schient, sich über die ethnische Zuteilung im klaren zu sein, als sie überhaupt zu bauen.

Wer von dieser Lage profitiert und in der nationalen Gegenüberstellung die wesentliche Führung ausübt, sind natürlich auf beiden Seiten die rechtsgerichteten Kreise und Gruppen, die naturgemäß von all jenen künstlichen Konflikten leben, welche der Nationalismus und das vorwiegend völkische Denken seit jeher fördert. So ist es kaum zu wundern, daß - besonders unter den deutschsprachigen Südtirolern, die einer solchen völkischen Erpressung eher zum Opfer fallen - die konservativen und oft auch reaktionären Kräfte das Feld behaupten.

Außerdem erspart man sich durch eine derartige Auffassung von Politik gänzlich jede politische Standortbestimmung. Ein vorwiegend militärisches Grundkonzept schient der "Strategie" der Südtiroler (sprich SVP) zugrundezuliegen: Geschlossenheit gegen den Feind, innere Auseinandersetzungen erst nach dem Sieg. Natürlich dürfen nur die Generäle kommandieren, die eigentlichen "Politiker" werden dann ja nach dem Sieg zu Wort kommen. Während der Schlacht wäre politische Auseinandersetzung schädlicher oder jedenfalls überflüssiger Luxus.

Damit glaubt man - ich spreche in erster Linie von der Südtiroler Volkspartei - den Südtirolern einen Dienst zu erweisen. Aber wir sehen ja, worauf der Dienst hinausläuft: Herrschaft der Reaktionären und Konservativen, und zweifelhafte Demokratie (vielleicht dürften wir uns nicht immer so scheinheilig wundern, wenn manche Leute die Südtiroler für wenig demokratisch halten: Einparteiensysteme zeugen selten von großer Demokratie.

Auf italienischer Seite in Südtirol sind die Positionen differenzierter: ein Großteil der gefährlichsten und konservativsten Kräfte im reaktionären Lager befindet sich in der faschistischen und der liberalen Partei, wodurch sie wenigstens automatisch von Regierungsverantwortung ausgeschlossen sind. (Was noch lange nicht bedeutet, daß in den anderen Parteien nicht auch konservative und nationalistische Kräfte mitspielen!)

Doch muß ich mich fragen, wo sich wohl die Südtiroler Faschisten (d. h. Neonazis, Antidemokraten, usw.) und die Südtiroler Reaktionäre befinden? Wenn man nicht absurderweise behaupten will, daß es unter Südtirolern bestimmt keine "solchen Elemente" gibt, dann muß man sie unausbleiblich in der Volkspartei vermuten. Und das ist für die Südtiroler Demokratie bestimmt nicht zuträglich.

Das Ergebnis ist aber eine im wesentlichen "korporative" und politische stark konservative Einheitspartei, die weitgehend das Leben und Denken in Südtirol prägt. Zu dieser Einförmigkeit des Denkens gehört natürlich auch das Mißtrauen allen linksorientierten politischen Strömungen gegenüber; womöglich mit Hinweis auf den Schwefelgeruch und den Pferdefuß, der allen "Kommunistenfreunden" anhafte. "Und außerdem sind sie antiklerikal..."

Die vom völkischen Eintopf vertretenen Interessen sind vorwiegend darauf ausgerichtet, bestehende Verhältnisse zu bewahren und Unruhe zu vermeiden, also typisch bürgerlicher Art. Die (zahlreiche) Bauern werden durch die guten Dienste des Bauernbundes bevormundet, Arbeiter gibt es ja recht wenige und die wenigen hat man durch Schaffung des zahmen ASGB weitgehend neutralisiert, die Beamten schließlich sind schon genügend integriert, um dem "System" kaum Schwierigkeiten zu bereiten.

Woher können also heute Kräfte aufstehe, die mit dem herrschenden System nicht einverstanden sind und auf andere Zustände hinarbeiten? Woher kann diesem System eine linke Opposition erwachsen?

Ich will gleich sagen, daß meines Erachtens die junge und seit einiger Zeit fast vergessene SFP (Soziale Fortschrittspartei) diese Funktion derzeit bestimmt nicht wahrnimmt. Im besten Fall kann man sie als den linken Flügel - und damit als moralisches Alibi - des bestehenden "völkischen Systems" bezeichnen. Denn (abgesehen von jeder Erwägung über Opportunismus und Partei-Karriere...) bisher hat sich die neue "sozialistische" Partei eigentlich nur durch kleine Polemiken und durch eine national noch "sturere" Linie ausgezeichnet. Ein organisches Parteiprogramm scheint noch Zukunftsmusik zu sein. Und es sieht nicht so aus, als ob die Absichten Jennys auf eine gesellschaftliche Alternative hinzielten, sondern bestenfalls auf eine sozialdemokratische "Versorgungs- und Konsumgesellschaft".

Woher soll man sich dann in Südtirol heute eine neue, nicht dogmatisch-marxistische Linke erwarten? Ich glaube, daß bei den bestehenden Verhältnissen Studenten und einige wenige Intellektuelle die anfänglichen Träger einer demokratischen Opposition sein könnten. Dies aber nur unter zwei Voraussetzungen.

Erstens: daß eine "neue Linke" das Freund-Feind-Denken zwischen den Volksgruppen überwindet und gemeinsam arbeitet.

Zweitens: daß sie baldigst den Anschluß an jene Gesellschaftsklassen findet, die jeder echten Linkspolitik eigentlich zugrunde liegen. In Südtirol hat das besondere Schwierigkeiten, weil jede der beiden Volksgruppen sozial unvollständig ist (den Südtirolern fehlen die Arbeiter, den Italienern die Bauern) und es deshalb leichter gelingt, die Interessen zweier so ähnlicher Klassen gegeneinander auszuspielen. Aber eine "Linke der Intellektuellen" wäre unvermeidlich zum Scheitern bestimmt. Sicher ist Südtirol reich an Problemen, an denen sich eine demokratische Linke messen müßte: Industrie- und Arbeiterfragen, Verhältnis Land-Stadt, die weichenden Bauernsöhne und die "Knechte", die Demokratisierung des öffentlichen und kulturellen Lebens, die Reform der Schule im Rahmen einer weiteren Autonomie, die Verständigung zwischen den Volksgruppen, usw. sind nur einige der zahlreiche Aspekte, in denen eine Differenzierung von der bisher verfolgten Politik dringend not tut.

Bestimmt darf man die Schwiegrigkeiten für eine neue Politik in Südtirol nicht übersehen. Vor allem ist ein großer Unterschied zwischen der politischen Bildung der Italiener und der Südtiroler: während die Italiener doch weitgehend politisiert sind, fehlt bei den Südtirolern fast jede Voraussetzung. Viele sind zwar bereit, Mißstände im eigenen Bereich oder im Rahmen eigener Erfahrung zu beklagen, sind aber dann meistens unfähig, daraus politische Konsequenzen zu ziehen und daran zu denken, daß sie ja schließlich nicht die einzigen sind, die unter gewissen Erscheinungen leiden. Gewöhnlich hingegen klagt man z. B. über ungenügende Entschädigung oder eine Lizenzverweigerung, hat aber dann Angst, auf den politischen Grund der Dinge zu gehen.

Neben diesem ersten Mißtrauen der Südtiroler gegen Politik und Politisierung im allgemeinen, steht das zweite gegen alles ,was von "links" kommt (man denke an die "wertvolle Erziehungsarbeit" der "Dolomiten" in diesem Sinn!). Dabei ist das nun einmal eine konventionelle Bezeichnung für eine bestimmte Art, Politik zu verstehen und zu betreiben. Das Wort selbst ist so allgemein, daß es schon fast nichts mehr aussagt. Gerade deswegen sollte man konkret und fallweise urteilen, nach politischer Ausrichtung und Programmen. Und mit der Ausflucht der Kommunistenfurcht die Augen zu verschließen, wäre unehrlich und kurzsichtig. Man kann sich nicht bei jeder möglichen Gelegenheit mit der "Populorum progressio" aufspielen und dann noch an den Schlagworten von vor vierzig Jahren hängen bleiben!

Ferner gibt es in Südtirol kaum ein Klassenbewußtsein unter der deutschsprachigen Bevölkerung. Auch diese Schwierigkeit ist zu bedenken.

Eine besondere Rolle spielt naturgemäß die Haltung der Kirche zur Politik in Südtirol: wie würde sie auf eine politische Linke reagieren (auch wenn sie sich von der bereits bestehenden kommunistischen Partei - die übrigens nicht auf Volksgruppenbasis arbeitet - unterschiede und keine weltanschauliche Gefahr darstellte)? Wahrscheinlich würde sie in einem ersten Augenblick nicht besonders erfreut reagieren, doch bin ich überzeugt, daß es auf die Dauer nicht mehr möglich sein wird, die Kirche als Partei unter Parteien oder als Garantin der politischen Stabilität irgend jemandes anzusehen. Mit solchen Identifikationen muß es nach dem Konzil vorbei sein; eine reine und arme Kirche kann dadurch nur gewinnen.

Konkrete politische Möglichkeiten hat eine "neue Linke" hier und heute in Südtirol noch nicht, doch ist es Zeit, kulturelle und gedankliche Vorarbeit zu leisten.

Andernfalls könnte es kaum verhindert werden, daß jede echte Linke in Südtirol im Hafen der kommunistischen Partei landet, die doch immerhin noch zu manchen Bedenken Anlaß gibt (wenn die Bedenken auch heute vielfach ganz anders sind als vor zehn Jahren).

Vielleicht kann sich in unserer Zeitschrift ein Gespräch darüber anbahnen, was für Probleme eine "neue Linke für Südtirol" aufwirft. Es handelt sich ja nicht um voreilige Parteigründungen oder konkrete Wahlinteressen. Aber vielleicht ist jetzt die Zeit reif, daß denkende Menschen der verschiedensten Anschauung in Südtirol ihre Gedanken darüber vergleichen.
pro dialog