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Krise des Humanismus

1.3.1965, Aus: skolast Nr. 3
In diesem Artikel möchte ich versuchen, ein Problem zu berühren und zur Diskussion zu stellen, das mich in letzter Zeit einigermaßen beschäftigt hat. Zugleich aber möchte ich klarstellen, daß dieser Artikel keine Lösung der Frage sein will - das Fragezeichen nach dem Titel behält seine Berechtigung bis zum Ende dieses Aufsatzes bei.

Unser humanistisches Gymnasium (in unserem Fall kann man vielleicht von einer Prägung nach Humboldt und Gentile sprechen) hat uns eine Bildung vermittelt, die über die bloße Information geht und darüber hinaus auch noch "Formation" sein will und jedenfalls auch ist. Wir wurden daran gewöhnt, den Menschen in seiner schöpferischen Tätigkeit, den Menschen nach einem Bilde des Ebenmaßes und der Harmonie zu sehen, das in uns auch irgendwie den Begriff das Abendlandes in unserer Zeit und so vieler anderer Werte weckte. Es stellt sich jedoch angesichts unserer Welt die dringende und vielleicht erschütternde Frage, ob dieses Bild noch zutrifft.

Bestimmt, es hat nicht nur einen Humanismus gegeben. Wir können auch nicht behaupten, einseitig erzogen worden zu sein. Man hat uns die Fülle der antiken - ausgeglichen und auf Vollendung bedachten - Welt mitgeteilt, wir bekamen eine geschichtliche Schau des Menschen die Christentum, Mittelalter und Renaissance zu würdigen wußte, wir wurden auch auf die Neuentdeckung des Menschen zur Zeit des eigentlichen (sogenannten) Humanismus hingewiesen. Geschichte, Literatur, Philosophie, Religion, Kunstgeschichte: es waren fächer, die uns halfen, einen Eindruck von der Schönheit und Reichhaltigkeit dieser Welt zu bekommen. Und ich bin überzeugt, daß die humanistische (klassische) Bildung Menschen geformt, hat, die mehr als andere die Möglichkeit hatten, zusammenfassend jede Entfaltung menschlichen Wirkens zu überschauen und zu verstehen.

Die Kritik aber, die in unsern Tagen gegen eine solche Bildung erhoben wird, macht Vorwürfe und spricht von Unwirklichkeit: diese Bildung könne unserer Welt, einer neuen Welt, nicht mehr gerecht werden.

Diese Frage wirft eine überaus reiche und vielleicht fruchtbare - oder bedrückende? - Problematik auf. Der Humanismus sah den Menschen als Ausgangspunkt und auch als Ziel einer Welt. (Der christliche Humanismus hat versucht, die Rechte Gottes geltend zu machen, kann aber im übrigen auch unter diesem Gesichtspunkt gesehen werden.) Doch war dieser Mensch ein Einzelmensch, ein Individuum, das allerdings geistige Nahrung von allen Seiten bezog: aus der antiken Literatur und Geisteswelt, aus der Kunst, aus der Philosophie aller Zeiten, aus innerer Fragestellung und Anregung aus der Umwelt. Es war ein Einzelmensch, der gewiß ein hohes Maß an tiefer und echter menschlicher Vollendung erreichte, der eine innere Ausgeglichenheit und einen großen seelischen Reichtum besaß. Im wahrsten Sinn des Wortes brachte der Humanismus aller Zeiten "schöne Seelen" hervor.

Dieser schöne und so reiche geistige Individualismus kann - glaube ich - nicht hoch genug geschätzt werden. Er schenkte uns Menschen "Humanisten" aller Generationen, die anderen wieder Führung und Licht spendeten. Er gab unserem Europa jene überströmende Fülle, die heute vielleicht das Einzige ist, was das Abendland noch geben kann.

Auch die christliche Weltanschauung blieb nicht unberührt vom Humanismus und seinen Auswirkungen. Vielleicht kann ein kurzer Hinweis auf die segensreiche Bindungsausrichtung genügen (vgl. Seminarien, Benediktinertum, Augustiner, Guardini, usw.). Wahrscheinlich ist aber diese Haltung auch schuld, (wenn man es als ein Negativum ansehen will), daß die Kirche eine westlich abendländisch-lateinische Gestalt annahm. Allerdings ist es umgekehrt darauf zurückzuführen, daß das Christentum in einer so entscheidenden Weise Europa mitprägte.

Doch sei es noch einmal gesagt: es scheint, als zeichne sich zumindest eine gewisse Fragwürdigkeit in diesem Humanismus ab. Eine Fragwürdigkeit, die auch den neuen und gewissermaßen verzweifelten marxistischen Humanismus mit einbezieht und ihn vielleicht sogar (wenigstens in seinen Vorkämpfern) ganz unvermutet trifft. Es ist dies eine Krise, die wohl ihre Wurzeln schon im Idealismus (deutscher und italienischer Richtung; vgl. Hegel, Nietzsche-Übermensch, Croce, Gentile-Schulreform usw.) hat, die aber nicht erst von dort herrührt. Ich glaube, man kann schon in Luther (der doch selbst aus dem Humanismus kam) eine solche Auflehnung gegen den Humanismus sehen.

Die Auflehnung hat in unserer zeit verschiedene Formen angenommen: philosophisch scheint mir, daß im Existentialismus zwar eine solche Auflehnung, doch noch keine Überwindung liegt. Der christliche Existentialismus allerdings kommt über den Humanismus weg (schon Kierkegaard wagte den Sprung von menschlicher Denkweise zu Gott), doch der verzweifelte Humanismus bleibt auch wieder am Menschen "hängen" (vielleicht kann die Wirklichkeit der Atombombe einen solchen Humanismus mit einem Schlag gegenstandslos machen). - Im Leben der Kirche ist die Auflehnung vielleicht deutlicher als anderswo: der Arbeiter der letzten Stunde kommt in Gestalt der neuen Völker und will seinen Dinar. Und wohl leichter als andere kommt die Kirche vom Humanismus los, besinnt sich auf eine neue Welt und macht das Christentum frei. - Politisch ist die Auflehnung auch zu spüren: die Krise des alten liberalen Staates und die Hinwendung zu mehr oder weniger nach links tendierenden Massendemokratien gibt Zeugnis. - Wirtschaftlich ist wohl der Marxismus, der die Probleme von geistigen Spekulation auf "Magenfrage" reduziert und so viele Werte als Überbau klassifiziert, der beste Beweis für die neue Fragestellung.

Was hat diese Auflehnung hervorgerufen? Ist daran die Tatsache schuld, daß der alte, humanistisch vollendete und bildungsmäßig reiche Mensch plötzlich auf eine massive Umwelt stößt, die er bisher nur als dekorative Ergänzung seines Kosmos sah und die ihm plötzlich zur Mitwelt wird? Liegt es nicht auch daran, daß die Bevölkerungsexplosion, das Aufstreben der Arbeitermassen, die Hebung der niederen Schicht zu einer (zwar sehr verbilligten) "Kultur", die Wirklichkeit neuer politischer, sozialer und völkischer Elemente auf Weltebene neue Fragen aufwerfen und daß noch nicht erwiesen ist, daß der Humanismus sie beantwortet? Und ist nicht die Technik vor allem daran schuld? Man will (oder wollte?) den Humanismus vor ihr retten und die Technik durch ihn bewältigen, doch ist auch das fragwürdig. Es ist fragwürdig geworden, ob angesichts einer Weltbevölkerung von drei Milliarden, von denen zwei Hunger leiden und die unter dem Druck ständiger Vernichtungsangst steht, der vollendete Mensch noch Geltung hat. Das alte Eliteprinzip, das eben noch mit dem Idealismus zusammenhängt, sieht um sich herum ein Privileg nach dem anderen fallen; wird es standhalten?

Wird der Mensch, der immer wieder auf seine Würde bedacht sein muß, weiterhin Ausgangspunkt und Ziel des Denkens sein? Verschiedene Antworten sind hier möglich, doch scheint es sicher, daß der Einzelmensch es nicht sein wird. Die einzelne starke Persönlichkeit hat viele ihrer Chancen verloren (vgl. Demokratien).

Ist trotz aller dieser Fragen der Humanismus (ein immer neuer Humanismus) noch gültig? Oder muß eine radikale neue Frage gestellt werden, die vielleicht mehr Gebot als Frage, mehr Forderung als Antwort ist? Muß das Bild vom Menschen, das der Humanismus entwickelt hat, einem Bild der Menschenmasse und völlig neuer Gegebenheiten weichen? Darf der Mensch weiterhin über sich selbst nachdenken und seine Persönlichkeit entwickeln oder muß er nur mehr handeln?

Muß letztlich diese radikale Trennung von jeder Art Humanismus vollzogen werden oder genügt eine Neuauflage oder Anpassung des Humanismus?

Diese Fragen tun weh, die Entscheidung ist schwer und ich frage mich, ob wir überhaupt verpflichtet sind, uns zu entscheiden. Ich will - hier und jetzt jedenfalls - keine Antwort geben. Die vielen Fragezeichen und "vielleicht" in diesem Beitrag stellen sich jedem persönlich. Die Antort ist schwer genug.
pro dialog