Alexander Langer Alexander Langer Biographie

Biographie
Schriften - Alexander Langer Bibliographie Erinnerungen Nachlass
(22) Cassar-Simma: Trag Sorge - Abbi Cura - Take Care (11)

Peter Kammerer: Die Mehrheit der Minderheiten

1.6.1996, Vorwort, Wagenbach

Alexander Langer (1946-1995) hat ständig geschrieben, fast immer auf Anfrage, fast immer irgendwo auf Reisen, die Schreibmaschine oder den kleinen Computer auf den Knien, für so unterschiedliche Blätter wie "Die Kommune", das "Antoniusblatt" der Franziskaner in Brixen, für Zeitschriften der Grünen oder die internationale Presse. Edi Rabini hat nach dem Tod von Alex (Juli 1995) die verstreuten Aufsätze gesammelt und im Verlag Sellerio herausgegeben (Alexander Langer: "Il viaggiatore leggero. Scritti 1961-1995", Palermo 1996). Was mich überraschte, als ich, zum ersten Mal, das ganze Material zum Teil auf italienisch, zum Teil auf deutsch vor Augen hatte, waren die Klarheit und Hartnäckigkeit, mit der Alex immer wieder auf drei für ihn zusammenhängende Themen zu sprechen kam:

- die Lage in seiner Heimat Südtirol

- die Nord-Süd-Problematik, die Verhältnisse in Osteuropa und die Probleme des Zusammenlebens in den Krisengebieten der Welt

- die Frage nach dem Sinn und der Dynamik der europäischen Einigung.

So wurden auch die hier gesammelten Texte geordnet, und mit der thematischen Anordnung ergab sich wie von selbst eine chronologische, die den Weg widerspiegelt, den Alex gegangen ist: in die Welt, ohne je die Provinz hinter sich zu lassen. "Man muß den Dienstweg einhalten: erst Provinzler, dann Weltbürger", schreibt der Schweizer Schriftsteller Gerhard Meier. Zu Beginn der 80er Jahre haben die Grünen das Spannungsverhältnis zwischen lokal und global auf die Formel gebracht: "Lokal handeln - global denken"und damit gegen die technologische Einebnung der Welt und ihre Illusion von Ubiquität ein Zeichen gesetzt. Alex hat es verstanden, den Parolen und "Dienstwegen" immer auch eine leicht verkehrswidrige Richtung zu geben. Deshalb steckte seine Art, Provinzler und Weltbürger zu sein (beides zugleich: der große Traum der deutschen Klassik), voller Überraschungen.

1981 trifft er sich mit Leonardo Sciascia zu einem Gespräch über Südtirol und Sizilien. Von Provinzler zu Provinzler findet man sofort die gemeinsame Ebene für diesen ungewöhnlichen Vergleich: das in beiden Fällen nicht immer glückliche Verhältnis von Heimat und Vaterland; die Frage nach den Wurzeln, erdig oder luftig, wie immer sie auch sein mögen; Vielsprachigkeit und historische Vielschichtigkeit; das Verhältnis zwischen Minderheiten und Mehrheiten: Vermischung, Einigelung, Selbstbestimmung, Integrationsfähigkeit; die doppelte Gefährdung der Provinz durch die Abwanderung produktiver Arbeitskräfte und den Zustrom des Massentourismus. Das sind zentrale Fragen für alle Provinzen der Welt. Aus der Vermutung gemeinsamer Muster hat Alex schon früh einen Schluß gezogen, den man etwa so formulieren könnte: Der Schlüssel zur Heimat öffnet auch die Welt. Oder überspitzt: Wer Südtirol kennt, kennt die Welt. Ein Grund, um nicht nur zu Hause zu bleiben.

Im heimatlichen Südtirol, in diesem zentralen Durchzugsgebiet mit seinen Rändern und Buchten, wo das Nord-Süd-Gefälle ein besonderes Becken bildet, wurden, vor allem in den letzten zweihundert Jahren, extreme Modelle des Zusammenlebens erprobt: von einer bescheidenen Vielvölkerei bis zu Plänen gnadenloser "ethnischer Flurbereinigung", von Versuchen der Zwangsassimilierung bis zur mehr oder weniger rigid betriebenen Trennung der "Volkskörper" und dem ihnen eigenen "Proporz". Die oft verwirrenden ethnischen, sozialen, politischen und kulturellen Verwerfungen sind nur einem morphologisch interessierten und kundigen Blick sichtbar, der sich dem anderen und dem Miteinander nicht verschließt. Alex hatte diesen nicht konformen Blick und hat dafür auch einen Preis bezahlt, noch bevor er wußte, um was es wirklich ging: "In meiner kleinen Stadt, die ich liebe, fühle ich eine gewisse Fremdheit...", schreibt er in seinen autobiographischen "Minima Personalia". Eine gewisse Fremdheit ist die Vorbedingung und der Preis des Sehens. Woher kommt sie, welches sind ihre Zeichen, welche Reaktionen ruft sie hervor, sind Fragen, die Alex schon früh beschäftigen. Er spürt, daß Gesellschaften oder Gruppen, die diese kleine Fremdheit nicht zulassen, so etwas wie "heimatblind" werden. Er studiert die zum Instinkt gewordenen Reaktionen, die er später unter dem Stichwort "Tiroler Fremdkörperabwehr" zusammenfaßt. Er schätzt an dieser "Abwehr" ihre bewahrende Funktion und unterscheidet das Positive der Tiroler Traditionen von ihrem nationalistisch-reaktionären Gebrauch (gegen Protestanten, Aufklärer, Juden, Sozialisten usw.) Daß er diese letztere, "auf dem rechten Auge blinde" Fremdkörperabwehr unterlaufen, und nicht zum Sonderling oder einsamen Dissidenten abgestempelt werden konnte, verdankt er den Beziehungen, die er nach "draußen" anknüpfen kann und der allgemeinen politischen Entwicklung, die Ende der 60er Jahre die Chancen für ein Zusammenleben der verschiedenen Volksgruppen in Südtirol verbessert. Er hat diese positive Entwicklung, zu der das Wirtschaftswunder und nicht zuletzt der europäische Einigungsprozeß entscheidend beigetragen haben, als eine "Sternstunde" für Südtirol gesehen, die er auch gegen den massiven, lokalen Widerstand wahrgenommen haben wollte. Zusammen mit wenigen Gleichgesinnten begriff er Südtirol als ein Laboratorium für die Mehrdeutigkeit und Durchlässigkeit von Grenzen aller Art, d.h. für die Schwierigkeiten und Freuden des Zusammenlebens.

Am Schicksal der Südtiroler Dissidenten war abzulesen, wie gut die ethnische Zwangsjacke funktionierte. Die ethnischen Blöcke brauchten in ihrem Traum-Wahn von Sicherheit lebende Zeichen ihrer Grenzziehungen bzw. Ausgrenzungen. Die Opfer, die sich dem nicht durch Auswanderung entzogen, blieben trotzig "eingeklemmt" in Tälern und "Volkstum", abgeschnitten von der Welt und kaltgestellt. Die Beerdigung eines Dissidenten und Freundes, des Dichters Norbert C. Kaser im Jahre 1978, wird zu einer politischen Wende. Alex macht den Vorschlag, die Dissidenten, die Brückenbauer, die Mauerspringer, die "Verräter" und Häretiker zu sammeln und "mit der Davidschleuder dem Giganten des Südtiroler Regimes" zu begegnen.

Das bedeutet vor allem, die Definitionsmacht der herrschenden Blöcke über Zusammenhalt und Zugehörigkeit in Frage zu stellen und weiter noch, Heimat nicht mehr negativ, über Ausgrenzungen, sondern positiv, über das Zusammenleben mit anderen zu begreifen. Dieses Zusammenleben ist nur möglich in einem historischen Raum. Alex betreibt Heimatgeschichte in diesem Sinne, als Vertiefung und Erweiterung dieses Raums, den er, wie Johann Peter Hebel es tat, mit biblischen Gestalten bevölkert und mit der Weltgeschichte verbindet. Denn was wäre Heimat ohne solche Perspektiven?

Die größte Niederlage seiner Bemühungen war die sogenannte Sprachgruppenerfassung 1981 und 1991 mit obligatorischer, namentlicher Zugehörigkeitserklärung zu einer der drei offiziellen Sprachgruppen. Von dieser Erklärung wird die Wahrnehmung bestimmter bürgerlicher Rechte und sozialer Leistungen abhängig gemacht, ein Schritt also in Richtung Apartheid. Es gab Widerstand und Verweigerung. Die eigentliche Niederlage bestand jedoch nicht in der Durchführung dieser Maßnahme durch eine "heimatblinde" Mehrheit, sondern in der wohlwollenden Gleichgültigkeit, mit der alle Parteien, die sich demokratisch nennen, diesen Schritt vollzogen haben. Bis heute besteht in der Südtiroler Öffentlichkeit keine Sensibilität und kein Bewußtsein für die möglichen Folgen dieses Attentats auf die Demokratie und für das Zusammenleben der verschiedenen Volksgruppen. Für Alex war diese Frage bis zuletzt ganz zentral. Seine Weigerung, sich ethnisch festschreiben zu lassen, kostete ihn Anfang der 80er Jahre seine Stelle am deutschsprachigen Gymnasium in Bozen und beraubte ihn im Frühjahr 1995, wenige Monate vor seinem Freitod, des Rechts, für die Bürgermeisterwahl in Bozen zu kandidieren. Kein noch so ehrendes, öffentliches Erinnern an Alex darf diese Schande verschweigen.

Ausgrenzungen und Beschneidungen von Freiheitsrechten erfolgen meist unter dem Diktat von Sicherheitsbedürfnissen. Alex hat diese Frage immer sehr ernst genommen. Auf Grund seiner Erfahrungen kam er dazu, die wirksamste Sicherheitsgarantie für gefährdete Minderheiten nicht in Trennungen und eindeutigen Grenzziehungen zu suchen. Denn diese erweisen sich fast immer als Illusion und Quelle neuer Spannungen. Natürlich redet er auch nicht reiner Grenzenlosigkeit das Wort. Er mißtraut den einfachen Antworten auf komplexe Problemstellungen. Seine Fragen zielen ab auf die Durchlässigkeit von Grenzen, er sieht das Trennende nie losgelöst vom Gemeinsamen, er hat immer einen kreativen Gesamtprozeß im Auge, das solve et coagula der Alchemisten (stammt er nicht aus der Silberstadt Sterzing?), die Kunst des Lösens und des Bindens von Elementen. Also Sicherheit durch Vielfalt und nicht durch Einigelung und Vereinfachung.

Mit dieser Arbeitshypothese, mit diesem "Verdacht", wie er selbst äußerst vorsichtig sagt, besucht er als engagierter Pazifist und später auch im Auftrag der europäischen Institutionen die Krisengebiete der 80er und der beginnenden 90er Jahre. Seine Reiseberichte sind eine Art Fortschreibung der "Minima Personalia" und verraten die gleiche Handschrift: immer subversiv, immer konstruktiv. Man wird lange suchen müssen, bis man wieder jemand findet, der mit diesem Widerspruch so souverän, so leicht und so produktiv umgehen kann, wie es Alex getan hat.

In seine politische Tätigkeit auf europäischer Ebene (er ist seit 1989 Abgeordneter der Grünen im europäischen Parlament und in verschiedenen Ausschüssen aktiv) fließen viele verschiedene Erfahrungen: die seines Südtiroler "Laboratoriums" für Zusammenleben; sein internationalistisches, soziales Engagement bei Lotta Continua; sein Eintreten im Nord-Süd-Konflikt und in der Ökologiebewegung; und nicht zuletzt seine tiefe Religiosität, aus der sich seine Bereitschaft und seine Fähigkeit zum "Umdenken" speisen. All das befähigt ihn zu einer Vision von Europa, die wie jene der Gründerväter, nicht von den Interessen großer Staaten oder führender Unternehmen ausgeht, sondern von den Konflikten, deren Antwort und Lösung Europa sein soll. Das ist heute ein eher ungewöhnlicher Ansatz. Denn der scheinbar lokale Charakter der heutigen Konflikte verführt zu der Vorstellung, ein solides Kerneuropa müsse sich von "Störungen" abschirmen und könne dann um so erfolgreicher im globalen Wettbewerb der großen Wirtschaftsregionen bestehen. Die "abrutschenden Bergbauern" gelten ebenso als zu isolierende "Störfaktoren" wie die durch den Krieg entwurzelten Bevölkerungen des ehemaligen Jugoslawien. Gerade als Ökologe weiß Alex, daß die Zerstörung von Gesellschaften und eine Politik, die periphere Verödungen in Kauf nimmt, Kosten verursachen, die weit über das hinausgehen, was selbst die reichsten Wirtschaftsräume tragen können. Die Illusion, man könne Probleme durch Verdrängung lösen - und das dazugehörige schlechte Gewissen - sind die Ingredienzen einer Europapolitik, die sich die Bewahrung und Herstellung des Friedens als absolut prioritäres Ziel nicht mehr vorstellen kann.

Der letzte, von Alex inspirierte Aufruf vom Juni 1995, endet mit dem Satz, den man als kühle Feststellung lesen muß, um seine Tragweite zu erkennen: "Europa stirbt oder wird neugeboren in Sarajewo". Er spricht sich unter anderem für den Einsatz internationaler, militärischer Mittel aus, um die "ethnische Flurbereinigung" zu stoppen und um außerhalb der lokalen, militärisch-ethnischen Blöcke in Bosnien Herzogewina jenes Minimum an Ordnung zu garantieren, das Zusammenleben überhaupt wieder möglich macht. Steht die Politik am Ende ihrer Möglichkeiten? Schon im Sommer 1993 hatte Alex notiert: "Europäische Gemeinschaft als Traum, als Perspektive, verblaßt, aber immer noch das Glaubhafteste." Und so enthält auch dieser Aufruf eine Fülle politischer Indikationen, um die gängigen, ethnische geprägten Feindbilder zu unterlaufen, um die Erfahrungen der Friedensbewegung nutzbar zu machen, um den europäischen Instituzionen Wege zu zeigen, die das friedliche Zusammenleben in den verwüsteten Gebieten aktiv befördern.

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