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Über die Ausweitung der Europäischen Union

1.4.1995
Vor wenigen Monaten hat sich die Europäische Union um rund ein Viertel ihres Gebietes erweitert: aus den 12 Mitgliedstaaten sind durch den Beitritt Österreichs, Finnlands und Schwedens, deren Völker sich durch Abstimmungen dafür entschieden haben, nunmehr 15 geworden, zwei weitere kleine Länder stehen in Beitrittsverhandlungen (Zypern und Malta). Die Türkei ist dabei, durch eine umstrittene Zollunion eine noch engere Verbindung mit der EU einzugehen. In Mittel- und Osteuropa sind bereits zahlreiche Länder durch sogenannte Europa-Abkommen mit der EU assoziiert (Polen, Ungarn, die Tschechische und die Slowakische Republik, Rumänien, Bulgarien), weitere Länder sehen dieser Perspektive aus näherem oder fernerem Blickwinkel entgegen (Slowenien, die baltischen Republiken, Albanien, später vielleicht Kroatien und Mazedonien), mit den Sowjet-Nachfolgestaaten wird über verschiedene Partnerschaftsabkommen verhandelt. Im Mittelmeerraum bemüht sich einerseits Israel intensiv um enge Bande mit der Europäischen Union, andererseits haben mehrere arabische Staaten großes Interesse an einem engen Verhältnis zur EU geäußert (bis zum Beitrittswunsch Marokkos), das über die derzeitigen Finanzprotokolle hinausgehen soll. Selbst die eher isolationistischen europäischen Wohlstandsländer der EFTA wie Schweiz, Norwegen und Island (nebst den Kleinststaaten) werden kaum auf Dauer "draußen" bleiben wollen.

In kurzen Worten: Die europäische Einigung durch die Europäische Union (früher EWG und EG) ist seit der Neuordnung Europas nach dem Ende der kommunistischen Regimes unbestritten zum einzig erfolgreichen und aussichtsvollen Integrationsprozeß Europas geworden und diese Integration erweist sich als dermaßen attraktiv, daß sich sämtliche Nachbarn mehr oder minder deutlich und ungeduldig um ihre Einbeziehung bemühen. Gewiß haben mehrere Elemente zu diesem Erfolg beigetragen: zur Union zu gehören, scheint dauerhaften Frieden mit den anderen Mitgliedern, einen relativ starken Schutz nach außen (trotz des noch weitgehend bestehenden Mangels einer gemeinsamen Sicherheitspolitik), eine günstige Wirtschaftsentwicklung und enge Verflechtung mit dem Weltmarkt, eine enge Integration in den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt und eine positive Teilhabe an allen Erfolgen und Außenbeziehungen der Union (auch gegenüber Drittstaaten, Süden der Welt inbegriffen) zu garantieren. Unter allen Ansätzen zur engeren Zusammenarbeit und tendentiellen Einigung Europas die nach und nach durch den Europarat, durch die KSZE (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, d.h. Helsinki- Prozeß; heute OSZE) oder andere Gremien gefördert wurden hat sich jener der EU als der qualitativ und quantitativ bei weitem nachhaltigste erwiesen: die Gemeinschaft der 12 (und heute 15) ist längst über das inter-gouvernementale Modell der Zusammenarbeit zwischen souveränen Staaten hinaus und weist sich erkennbar als bereits stark entwickelter Prozeß zur Integration in eine Gemeinschaft die einem Bundesstaat ähnelt. Drittländer begnügen sich deshalb nicht mehr mit Handels- und Kooperationsabkommen, mit Finanzprotokollen und sonstigen Abkommen über Forschungsprogramme oder Kulturaustausch, sondern möchten schlicht und einfach so schnell als möglich voll dazugehören trotz der wiederholten Enttäuschungen und zahllosen Wartezimmer, die man seit Jahren über sich ergehen lassen muß. Selbst die tragischste Niederlage europäischer Integrationspoli-tik der Jugoslawienkrieg und die merkliche Schwächung des Einigungsprozesses in Maastricht und in den nachfolgenden Jahren hat diesen Erwartungen kaum Abbruch getan. Dabei kommt es diesen Regierungen (und, soweit erkenntlich, ihren Völkern) nicht vor allem darauf an, ihre eigenen Mitbestimmungsrechte und Vetomöglichkeiten sonderlich zu verankern, sondern in erster Linie vielmehr, ein anerkanntes und gewichtiges europäisches Subjekt mit einer unanfechtbaren und klaren Entscheidungsstruktur zu errichten, in dessen Rahmen und unter dessen Schutz man sich fest verankert weiß. Wirtschaftliche, politi- sche und auch rechtsprechende gemeinsame Institutionen sind gefragt und erwünscht, sicherheitspolitische Garantien meistens auch.

Auch von außen betrachtet hat der Prozeß der europäischen Einigung durch die EU eine sichtlich große Überzeugungskraft und regt zur _Nachahmung_, d.h. zur Förderung regionaler Integrationsprozesse an: von Südamerika bis Südostasien, von Afrika bis zum Nahen Osten; von NAFTA und MERCOSUR über die Arabische Liga (die "neidvoll" auf die europäische Erfahrung blickt) zur OUA... Wenn weitblickende Politiker die beste wünschenswerte Entwicklung für das israelisch-palästinensische Verhältnis ansprechen, zitieren sie die europäische Gemeinschaft als Vorbild für ihre Region.

Natürlich ist ein solcher Einigungsprozeß, der die Kohäsion nach innen ausbaut und ein immer größeres Gebiet umfaßt (heute der größte Wirtschaftsraum der Welt), nicht einfach per se eine Garantie für friedliche Entwicklung und Gleichgewicht für alle Beteiligten und Dritten, und selbst die Überwindung des Nationalismus würde wenig nützen, wenn dafür ein großeuropäischer Chauvinismus entstünde. Eine "Großmacht Europa" (denn eine solche wird sie unausweichlich, obwohl bisher doch zahlreiche Bremsen gegenüber einer solchen Entwicklung eingebaut sind) ist nicht von vorneherein gegen die bekannten Großmachtallüren und imperiales oder hegemoniales Verhalten gefeit. Trotzdem: das Zusammenwachsen der Welt und die Überwindung der zahlreichen und sehr ernsten Gefahrenquellen und Spannungen, die aus der Existenz einer Vielzahl von souveränen Staaten mit ihrem Anspruch auf Durchsetzung eigener Interessen bis hin zum Krieg und auf Nichteinmischung in ihre _inneren Angelegenheiten_ (Terror gegen Bevölkerungen inbegriffen) erwachsen, wird kaum anders vor sich gehen können, als daß regionale, friedliche Integrationsprozesse zwischen einigermaßen homogenen Partnern nach und nach Platz greifen und Schritte über das bis-her existierende und erwiesenermaßen schwache und oft ohnmächtige System der Vereinten Nationen (bzw. OSZE) hinaus vollziehen, die das gleichberechtigte Zusammenleben souverä-ner (National)Staaten fortentwickeln und ausbauen bis hin zu verbundenen und in einer gemeinsamen Ordnung zusammengeschlossenen Vielvölkergemeinschaften. Die Tatsache, daß die EU zumindest bisher, und trotz aller Hervorhebung einer deutsch-französischen Achse ihre Einigung ohne Vorherrschen einer Hegemonialmacht vollzieht, ist für den Erfolg dieses Unterfangens eine wichtige Voraussetzung. Und jede Forderung nach einem "Kerneuropa", die einen solchen hegemonialen Anspruch zu postulieren scheint und den Einigungsprozeß als Vorauspreschen einiger Partner durch Verwirklichung umstrittener Vorhaben (beispielsweise: Schengener Abkommen, Eurocorps, morgen vielleicht eine Kern-Währungsunion...) praktiziert, denen die anderen dann nur mehr beitreten können, indem sie die vollendeten Tatsachen in Kauf nehmen, würde Rückfälle in hegemoniales Verhalten bedeuten.

Die Europäische Union ist heute an einem Punkt angelangt, wo folgende vier Fragen unaufschiebbar geworden sind:

1. Wie schnell und bis wohin soll die europäische Einigung stattfinden?

2. Was geschieht mit denen, die nicht dazu gehören wollen oder können? und wie verhält man sich zu den sonstigen supranationalen Institutionen?

3. Welche Veränderungen der bestehenden Union sind notwendig, um diesen Erweiterungsprozeß möglich zu machen, ohne dadurch den Rückfall in eine reine Freihandelszone zu verursachen?

4. Wo ist der Antriebsmotor für eine solche Entwicklung zu finden?

Hier ein Versuch zu einer ersten Antwort:

1. Die europäische Einigung muß heute im Prinzip für den ganzen europäischen Kontinent offen sein gegründet hatte man die Gemeinschaft ja als gemeinsames Haus aller demokratisch verfaßten europäischen Völker. Während die Südgrenze relativ einfach zu bestimmen ist, fällt dies im Osten schwerer. Traditionell hat sich Europa mit zwei Großmächten in seiner unmittelbaren Nachbarschaft immer schwer getan, die einerseits eng mit Europa verbunden sind, andererseits aber doch viele außer-europäische Interessen, Territorien und letztlich auch Traditionen verkörpern: Rußland und die Türkei. Und der gesamte Mittelmeerraum politisch eher alles als einig, mit einer starken arabischen Komponente, die heute aus ihrem panarabischen Traum weitgehend erwacht ist hat ebenfalls sehr eng mit Europa zu tun.

Um es kurz zu formulieren: die Einigung ganz Europas für jene, die sie wünschen muß heute als politisches Ziel noch für dieses Jahrhundert definiert werden, wobei das politische und institutionelle Zusammenwachsen Vorrang vor der Einbindung in einen gemeinsamen Binnenmarkt und der Verwirklichung einer gesamteuropäischen Wirtschafts- und Währungsunion haben muß. Und an den Rändern müssen komplementäre Integrationsprozesse angeboten werden, die es möglich machen, dieses Zusammenwachsen ohne Ausgrenzung wichtiger Partner, aber auch ohne bedenkliche Überfrachtung und damit Gefährdung der europäischen Einigung rundum zu ergänzen und evolutiv für spätere noch engere Verbindung zu öffnen.

Was die Länder Mittel- und Osteuropas angeht, so muß ihre volle Einbeziehung in die Union (die sie allesamt eindeutig wünschen und fordern) wohl durch eine Akzentverlagerung des bisherigen Integrationskurses vollzogen werden: nicht über die Vereinheitlichung zu einem Binnenmarkt, als wichtigstem Föderationsfaktor, sondern in erster Linie über die Unterstreichung einer politischen Gemeinschaft, die durchaus mit einer gewissen Abstufung der Märkte leben kann, die u.a. den östlichen Beitrittsländern die Zerstörung ihrer noch verbliebenen Landwirtschaft und wichtiger sozialer Strukturen ersparen muß und gleichzeitig in der bestehenden Union den Druck erhöht, die Agrar- und regionale Strukturpolitik entsprechend zu reformieren und dadurch letztlich zu humanisieren und auch umweltverträglicher zu machen. Das muß heute laut und deutlich gesagt werden und steht auch in allen entsprechenden Anträgen der Grünen im Europäischen Parlament zu lesen. Demokratie- und Friedenspolitik muß Vorrang vor der Durchsetzung von Wettbewerb und Binnenmarkt haben.

Eine ganz besondere Ausgestaltung dieses Prinzips die Grünen haben dies bereits im Dezember 1994 anläßlich ihrer Konferenz zum EU-Gipfel in Essen gefordert kann darin liegen, daß man heute der Republik Bosnien-Herzegowina, und nach und nach allen zur Wiederversöhnung und zur Demokratie bereiten Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens, den Beitritt zur Union unter besonderen Vorzugsbedingungen als politische Absicherung gegen Aufteilung, ethnische Säuberung und Krieg ermöglicht.

2. An den Rändern müssen wie gesagt komplementäre Integrationsprozesse angeboten werden. Im Osten wird dies weitgehend von der Entwicklung der russischen Föderation in eine demokratische Richtung abhängen von europäischer Seite kann man dazu einiges unternehmen. Beispielsweise: man kann (und muß) vermeiden, daß durch unvorsichtiges Hantieren mit Militärbündnissen nationalistische und chauvinistische Kräfte in Rußland zum Rückfall in imperiale Verhaltensweisen ermutigt werden, indem man ihnen den Anschein einer Bedrohung als Vorwand dazu liefert; man wird durch sorgfältige Nutzung der OSZE als gemeinsamen Rahmen eine für alle Seiten akzeptable Sicherheitspolitik weiterentwickeln müssen; man könnte durch großzügige gegenseitige Abrüstung und durch Abbau unnötig gewordener Militärbündnisse (sprich NATO) und Akzentuierung einer europäischen nicht mehr so transatlantisch gekennzeichneten Sicherheitsstruktur Vertrauensbildung fördern; und man wird durch Partnerschaftsabkommen (mit demokratischem Vorzeichen und gebunden an die demokratische Entwicklung) eine breite Palette von Kooperation und Verflechtung in den Bereichen der Wirtschaft, Forschung, Kultur, Umweltpolitik usw. entfalten können. Außerdem muß die EU einen gewissen Zusammenhalt zwischen einem Großteil der ehemaligen Mitglieder der Sowjetunion wohl eher fördern als deren Auseinanderleben zu ermutigen was eine oft schwierige Gratwanderung bedeuten mag und soll jedenfalls zeigen, daß ihr bei allem notwendigen Nachdruck gegen Brutalität (siehe Tschetschenien) und für Demokratie und Menschenrechte nicht einfach die Demütigung und Zerschlagung russischer Interessen und Anliegen am Herzen liegt.

Im Süden wurde der dort notwendige komplementäre Integrationsprozeß vor allem in den letzten Jahren eher vernachlässigt, und die EU hat eher anderen das Feld überlassen: man denke nur an die bescheidene Rolle im Friedensprozeß zwischen Israel, den Palästinensern und den übrigen arabischen Staaten, oder an Zypern, Libyen und selbst Algerien. Vielleicht war man zusehr mit der Verkraftung des neuen Ost-West-Verhältnisses in Europa beschäftigt, vielleicht fehlte es an einer Vision, vielleicht kümmerten sich die EU-Mittelmeerstaaten zu wenig darum...

Heute kann das nun endlich anders werden, und die äußerst positive Entscheidung des Essener Gipfels im Dezember 1994, eine Mittelmeerkonferenz im Herbst 1995 (geplante Eröffnung: am 27.November 1995 in Barcelona) unter spanischem Vorsitz einzuberufen, kann da einen Weg eröffnen (wenn nicht nur ein Alibi-Ausgleich zur Nord- und Osterweiterung damit gemeint war). Mehrere aufeinanderfolgende mediterrane Ratspräsidentschaften der Union können weiter dazu beitragen, hier Akzente zu setzen, obwohl dies gewiß nicht nur eine Frage der Mittelmeerländer sein kann und darf.

Woran es heute vor allem mangelt, ist eine überzeugende Vision eines dauerhaften Verhältnisses zwischen Europa und dem Mittelmeerraum, wobei die arabische Welt (die ja einen großen Teil davon ausmacht) eine besondere Rolle spielt. Die EU neigt heute noch dazu, diese Beziehung vor allem unter dem Gesichtspunkt der eigenen Bedrohung durch unkontrollierte Wanderungen und islamischen Fundamentalismus zu sehen was natürlich kein besonders positiver Ansatz ist. Außerdem ist seit dem Golfkrieg das Verhältnis zwischen Europa und den Arabern und der Araber untereinander sehr belastet. Allerdings gibt es auch erfreuliche Entwicklungen: der wenn auch extrem schwierige und oftmals behinderte israelisch-arabische Friedensprozeß und ein mehrmals demonstriertes hohes Interesse vieler arabischer Länder für Europa können dazugezählt werden.

Das anzustrebende Ziel sollte m.E. deutlich als euro-mediterrane Gemeinschaft benannt werden: also als ein Prozeß der Verflechtung auf ökonomischer, politischer, kultureller, institutioneller, umwelt- und sicherheitspolitischer Ebene, der im Lauf von etwa zwei Jahrzehnten bis hin zur festen Herausbildung und Verankerung eines gemeinsamen Rahmens und gemeinsamer Strukturen führen kann: komplementär zu jenen der Europäischen Union und in enger Verbindung damit. Warum sollte es nicht eines Tages ein Parlament einer euro-mediterranen Gemeinschaft geben, das bindender und gewichtiger als die derzeitige EU-AKP-Versammlung sein müßte? Warum sollte es nicht einen gemeinsamen Ministerrat und vielleicht auch so etwas wie eine Exekutiv-Kommission geben? Das Mittelmeer war seit jeher ein eng verflochtener Raum und ist der ideale Kreuzweg zwischen Europa, Afrika und Asien, zwischen den drei großen Religionen, die diesen Raum geprägt haben, zwischen Kulturen und Volkswirtschaften, die immer sehr eng miteinander zu tun hatten. Auch traditionell komplizierte Beziehungspartner für Europa wie die beiden nicht-arabischen Staaten im süd-östlichen Mittelmeer, die Türkei und Israel könnten in einem solchen Rahmen ihren angemessensten Platz finden, und aus dem oft unübersichtlichen Gestrüpp bilateraler Beziehungen und Abkommen ließe sich ein umfassendes System von Gemeinsamkeiten entwickeln.

Die Mittelmeerkonferenz im Herbst 1996 wird dafür die erste und wohl über längere Zeit entscheidende Weichenstellung vornehmen. Würde daraus bloß ein Anlaß für eine Generalüberholung der Abkommen zwischen der EU und den Mittelmeerpartnern oder gar eine Gelegenheit für selektive Abstufung von Freundschaft oder Partnerschaft, würde der Zweck wohl verfehlt. Ein Helsinki-ähnlicher Prozeß für den Mittelmeerraum ist nicht nur möglich, sondern hat heute auch um vieles bessere Karten als die KSZE damals vor 20 Jahren, als sich der Versuch letztlich doch sehr lohnte, Dialog und Kooperation auch zwischen sehr unterschiedlichen politischen und ökonomischen Systemen (ohne Anspruch auf gegenseitige Veränderung oder Eingemeindung, doch mit Berufung auf einige gemeinsam erarbeitete und anerkannte Grundsätze) anzubahnen und dafür einige Körbe als Anwendungsfelder auszumachen (Umwelt, Abrüstung, wirtschaftliche und technische Kooperation, Menschenrechte...). Die besseren Karten von heute heißen, unter anderem: es gibt keinen unüberwindlich erscheinenden System-Gegensatz (könnte aber bei übermäßiger Hinwendung zum Islamismus noch entstehen), die beiden Supermächte sind nicht mehr notwendiger Teil dieses Spiels und man hat eine geachtete und geschätzte Gastgebe- rin (die EU), die nicht nur für eine gute Gesprächsatmosphäre sorgen, sondern auch sehr konkrete wirtschaftliche Anreize auftischen kann.

Also wird es angezeigt sein, an der Weichenstellung und Vorbereitung dieser Mittelmeerkonferenz der Union so viel und so gut als möglich mitzumischen und uns damit intensiv zu befassen: noch ist das ganze Vorhaben so weich, daß es von allen jenen ein wenig mit-formiert werden kann, die ernsthaft und engagiert mitmischen. Und das führt uns zu einem wichtigen Anliegen, das auch damit im Zusammenhang steht, daß diese Konferenz ja voraussichtlich einen jahrelangen Prozeß einleitet: damit die Mittelmeerkooperation und der Weg zur angestrebten euro-mediterranen Gemeinschaft auch tatsächlich vorankommen, braucht es die Teilnahme und das aktive Engagement von Menschen, von Frauen, Männern, Jugendlichen, Gruppen usw. am südlichen und am nördlichen Ufer des Mittelmeeres. Deshalb müssen wir jetzt schon mit großem Nachdruck die Eröffnung eines angemessenen und wohl permanenten Forums für Nichtregierungsorganisationen fordern und unseren Beitrag zu dessen Zustandekommen leisten. Das kann insbesondere in Bereichen wie Umwelt, Menschen- und Bürgerrechte (insbesondere auch Frauenrechte), Kultur, Entwicklungskooperation, Information u.a.m. geschehen. Denken wir an die Bedeutung, die in den letzten Jahrzehnten für den Osten die Berufung auf Helsinki hatte! Vielleicht wird es in Zukunft im euro-mediterranen Raum so etwas wie Barcelona-Watch-Groups geben, die sich auf die dort erarbeitete Perspektive und die dort abgegebenen Verheißungen ebenso hoffnungsvoll und entschlossen stützen könnten, wie dies zahlreiche Menschenrechtsgruppen im Osten aufgrund der Helsinki-Abkommen tun konnten.

3. Welche Veränderungen in der Union notwendig sind, um gleichzeitig den gesamteuropäischen Einigungsprozeß und die aktive Beförderung komplementärer Integrationsprozesse im Süden und im Osten bewältigen zu können, soll hier nicht eingehend erörtert werden. Es ist jedenfalls hervorzuheben, daß die gesamteuropäische Erweiterung der Union sowieso ohne entsprechenden Umbau nicht zu schaffen ist, weswegen darin auch eine große Chance liegt, notwendige Reformen und Veränderungen der Union als notwendig klar erkennbar zu machen und zu beschleunigen. Unter anderem bietet sich die Gelegenheit an, einen echten gesamteuropäischen verfassunggebenden Prozeß einzuleiten, der dazu führen müßte, daß nach der 1996 beginnenden Regierungskonferenz das nächste Mal keine neue inter-gouvernementale Verhandlung, sondern eine verfassunggebende Versammlung zusammentritt. Natürlich soll damit nicht gesagt sein, daß alles neu erfunden werden muß, und daß eine verfassunggebende Versammlung klassischer Art von Null auf eine europäische Konstitution gebären soll; man wird da sehr viele bestehende Elemente aus den Verträgen weiterentwickeln, aber irgendwann muß es doch wohl zur Festlegung einer klaren und übersichtlichen Verfassung kommen vielleicht mit anschließender europäischer Volksabstimmung darüber.

Mit ziemlicher Sicherheit lassen sich aber bereits einige Züge ausmachen, die von den Grünen auch entsprechend angestrengt und vorangetrieben werden sollten:

- je größer und umfassender die Union wird, desto mehr muß sie über kohärente, effiziente und demokratische Entscheidungsstrukturen (mit Mehrheitsentscheidung) verfügen;

- je tiefer die Integration greift, desto klarer müssen mit der Bürgerschaft der Union Rechte und Pflichten verbunden sein, die in die Richtung einer "europäischen Bürgerschaft", eines "europäischen Volkes" (im zivilen und konstitutionellen, nicht ethnischen Sinne definiert) weisen; auch die europäische Gerichtsbarkeit wird dahingehend ausgebaut werden müssen, und der bisher nur beim Europarat verankerte Menschenrechtskatalog und die damit zusammenhängende Rechtsprechung muß gewiß auch in die EU-Verfassung (EU-Vertrag, solange es keine Verfassung gibt) Eingang finden. Dies könnte zumindest teilweise für die Demokratie-, Minderheiten- und Menschenrechtsfragen, die sich bei Erweiterungen ergeben, auf einen Weg zur Lösung führen;

- je größer das Gewicht der Entscheidungen der Union ist, desto fester muß die demokratische und parlamentarische Legitimation dieser Entscheidungen und der verantwortlichen Gremien gesichert und verankert sein (es ist kein Zufall, daß im Ost-West-Verhältnis unser Vorschlag einer gemeinsamen parlamentarischen Versammlung zumindest nach dem EG-AKP-Modell siehe Grünes Europaparlament 1990 in Straßburg ungehört blieb, während auf der wirtschaftlichen und gar militärischen Ebene die Verbindungen immer enger wurden);

- die Einhaltung des Erreichten (acquis communautaire) ist grundsätzlich eine wichtige Garantie gegen Verwässerung, darf aber nicht zur Erstarrung und zu einer phantasielosen Anschlußpolitik werden: warum hat man beispielsweise bisher die Erfahrung der neutralen alten und neuen Mitgliedstaaten überhaupt nicht in Richtung Friedenscorps, Prävention usw. zu nutzen gedacht? Warum glaubt man, die noch übergebliebene Landwirtschaft im Osten genauso ausrotten zu müssen wie in Westeuropa? Flexibilität, dezentrale Anpassungsfähigkeit, Zeit für Übergangslösungen, Einführung neuer und schrittweise umzusetzender Politiken heißen noch lange nicht Europe à la carte und müssen auch nicht das ungute Schengen- oder Eurocorps-Modell fortschreiben oder zu einem wahllosen und willkürlichen opting-out führen;

- eine stark profilierte gemeinsame Außen-, Friedens- und Sicherheitspolitik ist ein zentrales und unverzichtbares Wesenselement einer solchen europäischen Einigung, was u.a. auch dazu führen muß, daß Europa in den internationalen zwischenstaatlichen Gremien (UNO, Sicherheitsrat, OSZE, Weltbank...) mit einer gemeinsamen Stimme spricht es hat keinen Sinn, daß zwei Mitglieder noch eine alte Großmachtrolle weiterspielen und gleichzeitig Atomwaffen besitzen, anstatt einer einzigen und atomwaffenfreien Union anzugehören; allerdings wird man sich der Überlegung über eine in der Union angesiedelte (nicht an die WEU oder gar an die NATO abzutretende) gemeinsame Verteidigung nicht nur eine sicherheitspolitische Entscheidungsstruktur ohne Tabus stellen müssen die Alternative heißt schlicht und einfach, daß dieser Kernbereich der Souveränität den Nationalstaaten einerseits und den Militärallianzen andererseits überlassen bleibt, was die ganze Sache gewiß um nichts demokratischer und friedenspolitisch zuverlässiger macht, im Gegenteil;

- die Union wird sich, wenn sie sich überzeugt und vorbehaltslos fürs gesamteuropäische Zusammenwachsen entscheidet, auch für eine Politik der Mäßigung des Wachstums im Westen und der sozialen und ökologischen Sanierung im Ausgleich zwischen allen Teilen Europas entscheiden müssen wenn man im Zusammenwachsen Deutschlands von Solidarbeitrag u.ä. spricht, ist nicht einzusehen, warum dasselbe nicht für das Zusammenwachsen von ganz Europa gelten soll;

- Zusammenwachsen und Integration können nicht nur auf der institutionellen und staatlichen Ebene stattfinden, sondern müssen ihre Grundlegung und Verwurzelung auf der Ebene der Bürger/innen finden. Insofern kann die Entwicklung über-regionaler Kooperation und grenzübergreifender "europäischer Regionen" (ohne jeden Anspruch auf Grenzveränderung, sondern im Gegenteil als Beitrag zur Verdünnung und Überwindung von Grenzen man denke u.a. an die positiven Erfahrungen der Arge Alp und Alpe Adria) von besonderer Bedeutung sein. Überhaupt wird die europäische Integration und damit die Verlagerung von Kompetenzen und Funktionen des bisherigen Nationalstaats "nach oben", auf die supra-nationale Ebene nur dann einen demokratischen Fortschritt bedeuten, wenn gleichzeitig eine analoge Verlagerung auch "nach unten", d.h. auf die regio-nale und lokale Ebene stattfindet. Der heutige Nationalstaat ist nämlich in den meisten Fällen zu klein, um viele der anstehenden Fragen zufriedenstellen lösen zu können, und gleichzeitig zu groß, um Demokratie und Bürgerbeteiligung echt zu ermöglichen.

4. Und wer soll dazu den nötigen Antrieb geben? In diesem Zusammenhang kann vielleicht auch der Bezug auf ein "Kerneuropa" eine andere Bedeutung erhalten. Denn um den Integrationsprozeß voranzutreiben, braucht es auf allen Ebenen einen "Kern" überzeugter und williger Europäer/innen (Bürger, politische Gruppierungen, Regierungen, Parlamente, Institutionen...), die den so verstandenen Prozeß des Zusammenwachsens, der sich ja gegen zahlreiche Widerstände durchsetzen muß, mit großem Nachdruck und unablässig betreiben. Das Europäische Parlament gehört immer noch, möchte ich sagen in hervorragender Weise zu diesem "Kerneuropa", einige Regierungen (die insbesondere die Rolle des europäischen Parlaments verteidigen und bereit sind, den Verzicht auf nationale Souveränität und Entwicklung gemeinsamer Politik und gemeinsamer Entscheidungsstrukturen zu befördern) gehören auch mehr als andere dazu. Und das ist gut so.

Aber ohne ein "Kerneuropa" aus Bürger/innen und gesellschaftlichen Gruppen, die sich für das gesamteuropäische Zusammenwachsen, für eine demokratische europäische Verfassung, für die Integration auch an seinen Rändern und für eine solidarische Rolle Europas in der Welt einsetzen, wird diesem Prozeß der nötige ideelle Impuls fehlen. Ich wünsche mir die europäischen Grünen voll und ganz im Herzen dieses "Kerneuropas".
pro dialog