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Jenseits der sowjetischen Panzer-Die Linke nach dem Überfall auf die CSSR

1.10.1968, Aus: die brücke Nr. 10-11, 1968
Der Überfall der Sowjetunion auf die Tschechoslowakei vom 21. August ist zweifellos das bedeutendste Ereignis der internationalen Politik dieses Jahres, zumindest soweit man es bisher absehen kann. Es ist nun notwendig, das Problem gründlich zu überdenken und daraus einige Folgerungen zu ziehen, wenn man nicht bedenklichen Vereinfachungen und groben Verfälschungen zum Opfer fallen will. In der mehr oder weniger gelenkten öffentlichen Meinung der westlichen Welt (die östliche steht vorderhand nicht zur Sprache) hat die russische Besetzung der tschechoslowakischen sozialistischen Republik (CSSR) eine Reaktion hervorgerufen, die hinter der Sorge und dem Mitgefühl für das tschechoslowakische Volk deutlich auch die Befriedigung über dieses Debakel der kommunistischen Welt und weiter hinaus "der Linken" zum Ausdruck brachte. Die konservativen und reaktionären Kreise aller Länder haben sich mit Wollust auf dieses "gefundene Fressen" gestürzt und versuchen nun, aus der echten Empörung der meisten Demokraten politisches Kapital zu schlagen. Demgegenüber soll hier der Versuch gemacht werden, die Ereignisse um die CSSR etwas tiefergehend zu interpretieren, ohne zu beanspruchen, mehr als einen wiederum oberflächlichen und stückhaften Beitrag zu leisten.

"Neuer Kurs" und "Konterrevolution"

Man kann natürlich in einer Überlegung dieser Art auch von der Tatsache der bewaffneten Invasion der CSSR durch die Truppen des Warschauer Paktes ausgehen: doch wird es hierüber kaum viel zu diskutieren geben. Aus dem einen oder anderen Grund sind sich fast alle politischen Kräfte einig, daß dieser Überfall schärfstes verurteilt werden muß. Die militärische Intervention stellte nicht nur einen klaren Beweis für die imperialistische Politik der Sowjetunion dar; sie warf auch eine ganze Reihe eigentlich politischer Fragen auf, die durch die Besetzung noch wesentlich erschwert wurden. Es geht nun hier nicht so sehr darum festzustellen, wie es eigentlich zur Entscheidung kam, die CSSR zu besetzen. Wir wollen lieber überlegen, welche Folgen sich für die Linke ergeben.

Vor allem gilt es, sich zu fragen, ob der "neue Kurs" in der Tschechoslowakei tatsächlich zur "Konterrevolution" führte, d. h. ob er tatsächlich eine Abwendung vom Sozialismus bedeutete. Nicht, daß in diesem Fall die Invasion gerechtfertigt wäre; aber ein politisches Urteil über den "neuen Kurs" sähe natürlich anders aus.

Bestimmt waren in den jüngsten Erfahrungen der Tschechoslowakei Elemente festzustellen, die mehr nach rückwärts als nach vorne wiesen: der Nationalismus der Tschechen und Slowaken, sowie beider Völker gemeinsam gegen Rußland, baute zwar auf äußerst naheliegenden Grundlagen auf, wies aber doch auch entschieden negative Tendenzen auf; in der Wirtschaft war man darangegangen, auf einigen Sektoren durchaus kapitalistische Einrichtungen versuchsweise wieder einzuführen (Konkurrenz, Akkordarbeit, Entlassungen, usw.); manche Bestrebungen bezüglich Lebenshaltung, Gesellschaftsordnung u. dgl. mochten da und dort mit westlichen Vorbildern liebäugeln. Im ganzen schien vor allem eine klare Entwicklungslinie bezüglich der Reformpolitik zu fehlen, d. h. der "neue Kurs" schien sich vorläufig mehr durch Personen als durch bestimmte Ziele auszuzeichnen.

Trotzdem aber dürfte man - nach unserem Dafürhalten - auf keinen Fall von Konterrevolution sprechen, wenn man nicht eine dogmatische und apriorische Haltung einnehmen will. Denn trotz der erwähnten diskutablen Erscheinungen darf man doch nicht vergessen, daß der "neue Kurs" eine nie gekannte Freiheit im öffentlichen Leben und damit eine für westliche Verhältnisse geradezu unvorstellbare Mitbeteiligung des Volkes am politischen Gang des Landes mit sich gebracht hatte. Auch die traditionellen bürgerlichen Freiheiten - allen voran die Pressefreiheit - schienen dort einen neuen Gehalt zu bekommen: nicht die Freiheit einiger weniger, durch Geld und Manipulation das öffentliche Leben zu bestimmen, sondern die Freiheit, von unten her vermittelte Impulse zu interpretieren und weiterzuführen. Ferner ist zu bedenken, daß trotz des Fehlens klarer Vorbilder oder präziser Vorstellungen über die zukünftige Entwicklung des tschechoslowakischen Sozialismus die innere Logik der einmal begonnenen neuen Linie bestimmt ihre eigene Erfindungskraft gezeitigt hätte, wenn man ihr dazu die Zeit gelassen hätte.

Klar innerhalb des sozialistischen Lagers

Denn was im "neuen Kurs" von vorneherein klarstand, war ja das eindeutige Bekenntnis zum Sozialismus, innerhalb dessen Lager die neue Entwicklung vor sich gehen sollte. Dabei sprach man in Prag von einem menschlicheren Sozialismus als bisher: vielleicht konnte sich hier jene Weiterbildung des Sozialismus anbahnen, die bisher in den europäischen Oststaaten zumindest nicht gelungen ist. Was dabei bemerkenswert scheint, ist der Umstand, daß zum Unterschied etwa von der Gesellschaft in der ostdeutschen DDR die tschechoslowakische Gesellschaft viel tiefgreifender "sozialistisch" geworden schien: die Klassengesellschaft war zum guten Teil überwunden und sollte es bleiben; der öffentliche Besitz der Produktionsmittel (auch beschränkter Ausmaße) schien durchaus akzeptiert und auch für die Zukunft erwünscht, wie auch eine ganze Reihe anderer Errungenschaften der letzten zwanzig Jahre.

Wenn es unter diesem Umstand trotzdem zum "Revisionismus" kommen konnte und in gewissen Kreisen tatsächlich mehr oder weniger klare Rückentwicklungstendenzen vorhanden sein mochten, so war das u. E. auf den Druck des sowjetischen Imperialismus und seiner Ableger in der CSSR zurückzuführen. Jede Annäherung an den Westen z. B. mag auf solchen Druck zurückzuführen sein (wie auch umgekehrt die militärische Intervention im westlichen Liebeswerben um Prag einen erfreulichen Vorwand finden konnte), und jede antisozialistische Haltung auf schlechte Erfahrungen mit einem Regime, das vorgab, sozialistisch zu sein.

Das hervorstechendste und positivste Merkmal des "neuen Kurses" schien uns jedenfalls die aktive Beteiligung des Volkes am politischen Leben zu sein; aus dieser Teilnahme herraus konnte man sich auch erwarten, daß anfängliche Unklarheiten und Rückschläge bald überwunden worden wären.

Militärmacht löst nicht politische Fragen

Dem hat nun die sowjetische Invasion ein Ende bereitet, und eine ganze Reihe politischer Probleme aufgeworfen, von denen so manche nicht allein in Moskau, Prag, Ostberlin, Warschau, usw. gelöst werden können, sondern auch in der westlichen Linken ihren Niederschlag finden müssen.

Eine erste Lehre aus den tschechoslowakischen Ereignissen kann dahingehend gezogen werden, daß die Überlegenheit politischer Lösungen vor militärischen ganz klar bewiesen ist. Politisch haben die Tschechen und Slowaken über die Okkupanten gesiegt, auch wenn es unter Umständen noch einige Jahre dauern könnte, bis dieser Sieg konkret seine Früchte trägt. Überhaupt haben die Ereignisse der CSSR ein Beispiel für echte politische Qualität geliefert, mit dem sich andere europäische Staaten, die in ihrem jeweiligen System Seitensprünge wagen (Frankreich und Rumänien), nicht messen können: sowohl De Gaulle als auch Ceausescu kommen über eine durch Nationalismus bedingte, relative außenpolitische Selbständigkeit nicht hinaus, während im Innern - wo sich der politische Wille am echtesten mißt - ihr jeweiliger "Stalinismus" keine Änderungen erfährt; in der CSSR handelte es sich hingegen um den Beginn einer qualitativen Veränderung.

Vietnam-CSSR: der weltweite Imperialismus

Eine zweite Folgerung sollte besonders für alle jene gelten, die jetzt siegesbewußt und hochtrabend Verdammungsurteile über die Sowjetunion aussprechen: eine solche Kritik steht vor allem jenen zu, die in ihren Verdammungen gerecht urteilen, und somit z. B. den Vereinigten Staaten gegenüber bezüglich Vietnam ein ebenso klares Urteil ausgesprochen haben. Deshalb kann auch für die Tschechoslowakei eine wirklich glaubwürdige und ernstzunehmende Verurteilung des russischen Imperialismus eigentlich nur von denen kommen, die dem amerikanischen Imperialismus gegenüber eine ebenso klare Sprache sprechen.

Auch bezüglich der Blockpolitik scheint die Lehre aus der Tschechoslowakei eindeutig zu sein, wenn auch die "westliche Welt" sie geflissentlich überhören will: die Logik der Militärbündnisse führt notwendigerweise zu solchen Streichen, mögen sie nun in aller Brutalität oder mit mehr Geschicklichkeit (siehe Griechenland) durchgeführt werden. Wenn man trotz allem die Teilung der Erde unter die Großmächte und deren Satelliten vertreten will, soll man sich nicht wundern, wenn diese Teilung eben auch ihre Opfer kostet. Daran wird man denken müssen, wenn es gilt, den Atlantikpakt zu erneuern: die italienische Regierung nützt diesen Augenblick aus, indem sie versucht, gerade jetzt auf die unabdingbare Notwendigkeit einer starken NATO hinzuweisen; dabei wäre es gerade jetzt an der Zeit, NATO und Warschauer Pakt gründlich abzubauen und dazu notfalls auch den ersten Schritt zu tun. Überhaupt müßte sich das Volksbewußtsein durch die jüngsten Ereignisse gegen jede Art des Militarismus mobilisieren lassen, hat sich doch gezeigt, daß Militärmacht und Demokratie unvereinbar sind.

Notwendige Klärung innerhalb der Linken

Eine Reihe anderer Fragen, die nur mehr oberflächlich angedeutet werden sollen, stellen sich der politischen Überlegung der Linken; besonders aber jener linksstehenden Kräfte, die nicht durch Partei-Rücksichten oder auch Blockdenken, oder gar vom Mythos der Führer-Partei geblendet und gebunden sind. Nur die offene Auseinandersetzung und Kritik innerhalb der progressiven Kräfte kann verfahrene Situationen wieder zu bereinigen suchen. Dabei wird es vor allem um eine klare Haltung gegenüber dem Problem der östlichen "Satellitenstaaten" gehen; um eine Neubesinnung über Nationalfragen, politischen Internationalismus und "Eigenwerk zum Sozialismus", um die Notwendigkeit einer umfassenden "Kulturrevolution" (d. h. Umstellung im Bewußtsein), wenn eine neue Gesellschaft überzeugend gebaut werden soll, u. dgl. mehr. Es ist klar, daß sich Kräfte einer "neuen Linken" hier entschieden im Vorteil befinden: sie haben die historische Belastung und das Abhängigkeitsverhältnis von bestimmten Parteien oder Gruppen (z. B. KPdSU) nicht zu erleiden, und können somit als freies und befruchtendes Element eine Kritik und Selbstkritik innerhalb des sozialistischen Lagers im weiten Sinn wirksam vorantreiben.

Bedingung dazu ist, daß "alte" und "neue" Linke nicht beanspruchen, auf irgendwelchem Richterstuhl zu sitzen oder im Partner irgendwelche Minderwertigkeit voraussetzen wollen.
pro dialog