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Nationalismus und Föderalismus in Europa heute

6.11.1991, Referat für Goethe-Institut-Kolloquium über Föderalismus, Demokratie, Europa, Villa Vigoni, Lago di Como, 6.11.1991 und für Green East-West-Dialogue, Piestany /CSFR, 8.11.1991
Angesichts bestimmter nationalistischer Explosionen vor allem in Ost- und Südosteuropa könnte man fast den Eindruck gewinnen, daß nun, wo der zweite Weltkrieg endgültig beendet und begraben scheint, der erste wieder beginnen kann. Und wenn man zudem bedenkt, daß auch an vielen anderen Ecken Europas das Aufwallen nationaler oder ethnischer oder gar "rassischer" Emotionen und Konflikte zu bemerken und die Tendenz eindeutig zunehmend ist, muß man sich schon fragen, ob wieder "europäische Bürgerkriege" - d.h. Kriege zwischen europäischen Völkern - möglich werden, und ob Nationalismus tatsächlich als bereits überwundenes Erbe des 19. und der ersten Hälfte des 20.Jahrhundert abgetan werden kann.

Nationale u./o. ethnische Bewegungen und Konflikte erstarken wieder - nicht nur im Osten

Wer in den letzten Jahrzehnten die potentielle Sprengkraft ethno-nationaler Faktoren unterschätzt hat und als überholt betrachtete, kann heute vielfach nur verständnislos den Kopf schütteln und von Irrationalität sprechen. Wer hingegen genauer hingesehen hatte, konnte schon früher erkannt haben, was heute manche Osteuropäer den Westeuropäern vorhalten, wenn sie sagen (wie mir das bei der "Helsinki Citizens' Assembly" in Prag 1990 passierte), daß für den Westen der Nationalismus vielleicht selbstverständlich negativ besetzt sein mag, dies aber für den Osten schon deshalb nicht gelten kann, weil man eben erst aus einer Art Zwangs- und Fassaden-Internationalismus entlassen worden sei, und nun seine Zeit brauche, bis man die angemessene und freigewählte Form des Selbstseins finde. Und nach dem sehr plötzlichen Niedergang der bisher staats- und wohl auch irgendwie - erzwungenermaßen - gesellschaftsstiftenden Ideologie tritt deutlich zutage, daß vor allem Religion und Nation, Glaube und Vaterland in den Katakomben überlebt haben und nun - wahrscheinlich vorübergehend, doch deshalb nicht weniger heftig - zum neuen Fundament gemeinschafts- und identitätsbegründender Selbstfindung werden. Das mag manchmal etwas sehr Künstliches an sich haben, wie die neu geschneiderten kroatischen Parade-Uniformen, die russisch-zaristischen Flaggen und gar gewisse Möchtegern-Monarchen, die aus der Versenkung auftauchen, doch scheint den betroffenen Menschen und Völkern das national oder ethnisch bestimmte "Wir"-Bewußtsein immer noch mehr zu bedeuten als beispielsweise der Glaube an Gemeinsamkeit im Namen des Fortschritts, der Völkerverbrüderung oder der sozialen Gerechtigkeit. Ob dann bald die aus dem Westen schon bekannte Wissenschafts-, Technik- und Geldanbetung oder etwas anderes und besseres folgen wird, läßt sich noch nicht ermessen und wird teilweise auch davon abhängen, wie man nun mit dem ethno-nationalen Erwachen umzugehen versteht.

Das - übrigens - gewiß nicht nur im vormals kommunistisch beherrschten Osten vorkommt, sondern in verschiedenen Formen auch in den westlichen Ländern zu finden ist. Man denke nur an die unterschiedlichen autonomistischen Bewegungen, die als Reaktion auf Zentralismus, forcierte Modernisierung, Unterdrückung und Gleichschaltung von Diversität auch im Westen florieren, oder an die grassierende Fremdenfeindlichkeit, die bis zu Rassismus und Gewalt reicht. Womit auch gleich gesagt sein soll, daß es eine sehr breite Palette ethno-nationaler Regungen und Bewegungen verschiedener Qualität gibt, die nicht alle über denselben Leisten zu schustern sind und jedenfalls eine differenzierte Betrachtung und Herangehensweise erfordern. Und wobei Mittel- und Osteuropa, ähnlich wie bestimmte (geographisch oder sozio-ökonomisch) eher periphere Gebiete, eigentlich eine viel größere Vielfalt und daher vielleicht auch ein größeres Spannungspotential erhalten haben, als die Hochburgen der Industrie, der Technik, der Massenkommunikation und der durchorganisierten und durchverwalteten Modernität. Und Spannung darf doch nicht einfach bloß negativ besetzt werden, da liegt auch viel Vitalität und Echtheit drin.

Ansteckungsvermögen, Sprengkraft, originäre und kreative Momente: destruktive und konstruktive Aspekte

Das Ansteckungsvermögen ethno-nationaler Bewegungen ist jedenfalls groß, und man braucht nur die fortzeugende Anstiftungskraft der Forderung nach Selbstbestimmung und Nationalstaat oder zumindest Autonomie und Selbstregierung zu betrachten, um sich jetzt schon gut ausmalen zu können, daß die nationale oder ethnische Frage in ganz Europa noch mitnichten ausgestanden oder keim-unfähig gemacht worden ist und in den kommenden Jahren und vielleicht Jahrzehnten viel Kopfzerbrechen (vielleicht auch das Zerbrechen vieler Köpfe) bereiten kann. Die Sprengkraft und die Fähigkeit nationaler (ethnischer, rassischer, religiöser..) Mobilisierungen, breite Schichten mitzureißen, übersteigt nämlich bei weitem die Intensität sozialer Konfrontationslinien. Daß aus solchen an sich nicht immer sterilen und unheilvollen ethno-nationalen Regungen auch sehr gefährliche Spannungen, samt internationalen und selbst militärischen Auswirkungen werden können, ist sattsam bekannt, und die tragische Erfahrung in Jugoslawien liefert leider jede Menge an Proben aufs Exempel, und die außereuropäischen Prozesse könnten teilweise noch um vieles gewaltsamer ablaufen als jene in Europa. Wir sind wahrscheinlich noch längst nicht auf dem Höhepunkt solcher Aufwallungen angelangt - der könnte beispielsweise erreicht werden, wenn sich aggressiver (oder gar defensiv gedachter) Nationalismus etwa mit dem Besitz von Atomwaffen paart.

Ethnische und nationale Beben können sicher nicht bloß als eine bei Zerfallsprozessen vorheriger großräumiger Ordnungen freigesetzte Energie gedeutet werden, obwohl natürlich derartige Auflösungen enorme Umschichtungen hervorrufen: man denke nur an das Osmanische Reich oder an Österreich-Ungarn... Man wird kaum erwarten können, daß die oft sehr willkürlichen staatlichen Gebilde und Grenzen auf Dauer nicht nur in Europa, sondern vor allem in Afrika und möglicherweise in nicht allzuferner Zukunft auch in Asien oder Lateinamerika so bleiben wie wir sie heute kennen.

Es gibt auch sehr viele originäre und konstruktive Aspekte in ethno-nationalen Bewegungen, so beispielsweise die Aufwertung von sprachlicher und kultureller Eigenart, Tradition und spezifischer Lebensbewältigung, ohne auf den ökonomischen oder politischen "Stellenwert" zu achten. Es gibt heute rund 170 souveräne Staaten, aber gewiß über 5000 Sprachen; die erzwungene und mittels ökonomischer, politischer oder gar militärischer Gewalt durchgesetzte Reduktion auf bloß eine einzige Art von "Entwicklung" (die der modernen Industriegesellschaft), eine einzige Art der politisch-rechtlichen Ordnung (die des modernen sogenannten "Nationalstaats") und eine einzige Art von Ökonomie (die vom Weltmarkt dominierte Geld- und Profitwirtschaft) ruft verständlicherweise Widerstände auf den Plan und muß geradezu als Herausforderung verstanden werden, abseits vom "Fortschritt" - und quer dazu - Ökonomien, Kulturen und Formen der Gemeinschafts-

und Lebensgestaltung zu erhalten und zu verteidigen, die sich gegenden Strom stemmen und vital genug sind, trotz der großen Energie, die dazu erforderlich ist, ihre "unrentable" und gewissermaßen störende Existenz zu erhalten und fortzuentwickeln.

Gerade diese oft absolut nicht klar auseinanderzuhaltende Mischung von konstruktiven und destruktiven Aspekten ethno-nationaler Bestrebungen macht deren jeweilige Beurteilung und zuverlässige Prognosen so schwer. Wo heute Balten, Kaukasier, Südtiroler, Basken, Armenier, Kurden und Lappen ihre je verschiedenen ethnischen oder nationalen Anliegen verfechten, sind die jeweils besonderen Ziele und die Reaktionen darauf sehr gefächert und gespalten. Nicht für alle Volks- oder Sprachgruppen, Völker oder Stämme ist die Erreichung eines eigenen Staates das höchste der Gefühle, aber gewiß ist immer ein möglichst hohes Maß an Eigenständigkeit intendiert. Unter den Beobachtern solcher Prozesse - die bis hin zur staatlichen Abspaltung, bzw. zum Aufbau neuer Staaten führen können - sind sie für einige einfach deswegen an sich positiv und hoffnungsvoll, weil sie darin eine Art der Verwirklichung des "small is beautiful - klein, aber fein" sehen, und eine gesunde Reaktion gegen Zentralismus, Bürokratie und Fremdbestimmung. Für andere hingegen lauert jedesmal gleich ein gefährliches Wiederaufleben des Nationalstaats hinter der Mauer, womöglich mit Armee und vielleicht auch Krieg. Wobei alte Probleme wie überkommene Erbfeindschaften, ungelöste Grenzprobleme, festgefahrene Unterdrückungen und Diskriminierungen, historische Unrechtssituationen... sich mit neuen Spannungen paaren können: Vertreibungen neueren Datums, z.B., oder übermäßige Zuwanderung, Aufkommen neuer Anschauungen und Bewußtseinsformen (vom Regionalismus zur Xenophobie), und dies alles in einem Gemisch sozialer und ethnischer Spannungen, die tatsächlich sicherheitsgefährdend wirken können und die Versuchung nahelegen könnten, lieber einen (möglichst "guten") Weltgendarmen anzurufen, als derartige Konflikte durchzustehen.

Rückkehr zum Nationalstaat?

Und während gleichzeitig in so manchen Teilen Europas deutliche Nostalgie gegenüber früheren plurinationalen Ordnungen - insbesondere Österreich-Ungarn, aber auch der mittelalterlichen Reichsidee - zu spüren sind (ebensowenig kann man ausschließen, daß schon in wenigen Jahrzehnten eine Sowjet- oder Jugoslawien-Nostalgie entstehen könnte..) und Westeuropa eher die supranationale Integration auf seine Fahnen geschrieben hat, erweisen sich föderale, plurinationale Gebilde wie die Sowjetunion oder Jugoslawien (aber das könnte bald auch schon für die Tschechoslowakei gelten) als unfähig, nach dem Zusammenbruch der staatstragenden Ideologie und des entsprechenden Machtapparates den Föderalismus als solchen noch gut zu finden, zu retten und neu zu qualifizieren. Was übrigens nicht nur für den Osten gilt: selbst Belgien oder Kanada, beispielsweise, sind in ihrem Zusammenhalt und in der positiven Akzeptanz plurinationaler Föderation oder Konföderation keineswegs so stabil, wie man meinen könnte. Und in Regionen der Erde, wo bisher Staaten und Grenzen - aus verschiedenen Gründen - nicht zur Diskussion zu stehen schienen und sich eher Tendenzen zur Vereinigung des Kontinents abzuzeichnen schienen (wie in Afrika, Asien, Lateinamerika), ist es inzwischen keineswegs mehr gewährleistet, daß nationale oder ethnische Spannungen nicht bald schon die bestehenden Staaten und Grenzen erschüttern.

Ist es also so, daß wir uns (neuerdings wieder) damit anfreunden müssen, daß Völker (und möglicherweise Volksgruppen) die Bildung eines Nationalstaats oder den Anschluß an einen Nationalstaat oder die Spaltung in Nationalstaaten als den besten oder gar alleinseligmachenden Weg zur Verwirklichung ihrer Aspirationen erkennen und zielstrebig verfolgen? Muß die Idee völkerverbindender und über-ethnischer oder -nationaler Zusammenschlüsse als aufklärerische Illusion, als lebloses idealistisches Kunstgebilde aufgegeben und lieber der Nationalstaat mit möglichst sauberen und klaren Grenzen angestrebt werden? Ist nicht die Langsamkeit und die Widersprüchlichkeit des westeuropäischen Integrationsprozesses selbst ein deutliches Eingeständnis, daß man derartige Grillen lieber beiseite lassen sollte?

Zum Selbstbestimmungsrecht der Völker: Nationalstaat als ungeeignete Antwort

So denken heute nicht wenige, vor allem von denen, die das Selbstbestimmungsrecht der Völker (was immer das heißen mag: "Selbstbestimmung" und "Volk") als wichtigstes kollektives Recht ziemlich unhinterfragt auf den Hauptaltar der Neuordnung der Welt stellen möchten. Doch übersieht man dabei gerne zumindest zwei grundlegende Realitäten: daß nämlich die "Völker" in der Welt, und auch in Europa, in den seltensten Fällen so konzentriert und ungemischt siedeln, wie es für klare ethnische Grenzziehungen erforderlich wäre, und daß die Durchsetzung von Nationalstaatlichkeit unter den gegenwärtigen Umständen ein hohes Maß an (auch internationalem) Konflikt implizieren kann.

Das hat etwas mit einigen bisher meist unwidersprochenen Eigenschaften der Staaten zu tun, die anscheinend unantastbar fortbestehen und zum Kernbestand der Nationalstaatlichkeit geworden sind, aber angesichts der historischen Katastrophen, die sie mitbewirkt haben, eigentlich ihre Legitimation verloren haben müßten.

"Jeder Staat eine Nation (ein Nationalstaat)", "jeder Nation ihren Staat" ("jedem Volk seinen Nationalstaat"), "jedem (National)staat seine Souveränität" (samt Recht auf Militär und Krieg), "Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten" als Quintessenz der nationalen Souveränität, vielleicht noch "saubere Grenzziehung nach klar erkennbaren ethnischen Kriterien" (wie es noch zu Ende des 1.Weltkriegs in den 14 Punkten Wilsons stand und nicht verwirklicht wurde) sind so in etwa die unhinterfragten Selbstverständlichkeiten, die meist hinter der gegenwärtigen Selbstbestimmungswelle und den nationalen/ethnischen Bestrebungen stehen und für sich beanspruchen, zu den nicht weiter beweisbedürftigen Axiomen des Völkerrechts zu zählen.

Und tatsächlich dürfen alle jene, die diese Kriterien für ihren - vielleicht schon sehr soliden - Nationalstaat in Anspruch nehmen, dann auch nicht besonders entsetzt sein, wenn neue Bewerber auf den Plan treten und sie ebenfalls für sich reklamieren: ob das nun Korsen gegenüber Frankreich, Ungarn gegenüber Rumänien oder Kurden gegenüber der Türkei sein mögen. Wer den Teufel des Separatismus mit dem Beelzebub des Nationalstaats austreiben will, kann kein guter Exorzist sein. Wir haben kein Recht, uns zu entrüsten, wenn andere unsere Fehler nachahmen möchten - ob es sich dabei um forcierte Industrialisierung, Nationalstaat oder Energiekonsum handelt.

Dennoch geben diese Kriterien keine sehr brauchbare und erst recht keine friedliche Perspektive für das Selbstbestimmungsrecht her, das übrigens 1975 in der famosen Schlußakte von Helsinki heuchlerischerweise in einem Atemzug mit der Unverletzlichkeit der Grenzen (außer durch einvernehmliche Regelungen) benannt wird. Denn wie die Erfahrung zeigt, ist es ungeheuer schwierig - ich würde sagen, in den meisten Fällen unmöglich - "richtige" oder "gerechte" oder "ethnisch einwandfreie" Grenzziehungen festzulegen - und erst recht, sie auch friedlich durchzusetzen; es ist, vor allem angesichts schwerer Menschenrechtsverletzungen oder Unterdrückung von Minderheiten, aber auch angesichts beispielsweise großer ökologischer Schädigungen, nicht mehr länger zu rechtfertigen, daß eine Staatsgrenze eine unüberwindliche Barriere gegen (friedliche) "Einmischung" darstellen soll; es ist kaum möglich, in einer immer enger interdependenten Welt bisherige nahezu "privatrechtliche" Formen von Souveränität aufrechtzuerhalten ("usque ad sidera, usque ad inferos", wie das Privateigentum im römischen Recht); es gibt viel mehr Völker, Volksgruppen, Stämme usw. als Nationalstaaten in ihrem heutigen Gepräge möglich sind; es gibt kaum irgendwo ein Volk, das tatsächlich als ganzes in einem Staat und dort alleine lebt, und kaum irgendwo einen Staat, der tatsächlich mit Fug und Recht als mono-ethnischer Nationalstaat betrachtet werden kann. Wie kann man da weiterhin im Nationalstaat die beste Antwort auf das Bedürfnis der Menschen und Völker nach Selbstverwirklichung sehen?

Gretchenfrage: ethnischer Exklusivismus oder Politik des Zusammenlebens?

Da wäre es vielleicht doch besser, die bisherigen Vorstellungen vom Nationalstaat in den Bereich idealtypischer, aber schwer realisierbarer Phantasievorstellungen zu verweisen und die Grundvorstellung, die damit zusammenhängt, als verfehlt (und jedenfalls undurchführbar) zu charakterisieren: daß nämlich ein Volk (oder eine Volksgruppe, usw.), um gut leben und sich selbst verwirklichen zu können, in einem ethnisch homogenen und womöglich souveränen Rahmen oder zumindest als Mehrheit auf ihrem Territorium leben muß. Das führt zu ethnischem Exklusivismus, der in seinen extremen, aber leider gar nicht so seltenen Formen zur Zwangs-Inklusion oder zur Zwangs-Exklusion der "anderen" (Menschen, Gruppen, Sprachen, Kulturen, Religionen...) führt. Nämlich zu erzwungener und häufig gewaltsamer Assimilierung einerseits oder zu Diskriminierung, Vertreibung, Aussiedlung oder gar Auslöschung andererseits, und jedenfalls zu Reibungen und gar Krieg mit anderen führt - das kennt man ja mittlerweilen aus der Geschichte, und sollte deshalb sehr hellhörig sein. Wer einen "Staat der Deutschen" (der Slowenen, der Italiener, der Rumänen...) möchte, darf sich nicht wundern, daß sich dann alle jene, die gerade nicht zu den Deutschen (Slowenen, Italienern, Rumänen...) zählen, unwohl fühlen und zu wehren beginnen. Und je mehr Staatlichkeit mit der Durchsetzung ethnischer oder nationaler Anliegen verbunden ist, desto gefährlicher können die Auswirkungen werden. Auch eine Politik fürs pluri-ethnische Zusammenleben kann nicht in erster Linie auf Staatlichkeit setzen, erfordert aber dennoch ein gewisses Maß an institutioneller Absicherung des sprachlichen, ethnischen, kulturellen, religiösen Pluralismus' und der substantiellen Gleichberechtigung, und vor allem der tatsächlichen Anerkennung und Förderung von Diversität und ihrer Würde.

Wer ethnischen Exklusivismus als unheilvolle Versuchung und Negativziel im Auge hat, wird sich hingegen positiv um Entwürfe fürs Zusammenleben bemühen müssen: darin dürfte heute die zentrale Herausforderung liegen, danach wird man auch Staaten und politische Strukturen befragen müssen. Ethnischer Exklusivismus versus Politik des Zusammenlebens - darin liegt eine ganz wesentliche Gretchenfrage für Staaten, Verfassungen und Rechtsordnungen - und auch politische Bewegungen. Eher als die ethnische oder nationale Dimension wird man die Bindung der gemeinsam auf einem Territorium lebenden Menschen an dieses Gebiet aufwerten und ansprechen müssen: die territoriale Dimension eher als die ethnische. Da können ökologische, soziale, wirtschaftliche und andere Aspekte stark hineinwirken, und da kann eine eher föderalistische Konzeption mehr hergeben als Nationalstaatlichkeit und ihre verkleinerten Karikaturen. Auch weil die meisten heute bestehenden sog. Nationalstaaten gleichzeitig zu groß und zu klein sind: zu groß, um tatsächlich Demokratie und Partizipation gewährleisten zu können; zu klein, um wirksam Probleme mit supranationaler Dimension (man denke nur an den Umweltschutz oder an die Sicherheitspolitik!) lösen zu können.

Kann europäischer Föderalismus eine Antwort sein?

Daher scheint es einleuchtend, den ethnozentrischen und nationalistischen Ansätzen gegenüber ein hohes Mißtrauen zu bewahren - bis hin zu suspekten Formeln vom "Europa der Vaterländer" oder "der Völker und/oder Volksgruppen" - während ein "Europa der Regionen" einen viel besseren Ansatz für eine demokratische Politik der Autonomien, des Zusammenlebens und der tatsächlichen (nicht bloß einmaligen und formelhaften) Selbstbestimmung hergibt. Den Föderalismus, den es heute braucht, um die bisher angesprochenen Fragen irgendwie zu bewältigen, könnte man vielleicht am besten als gleichzeitige Abgabe von Macht und Kompetenzen nach unten und nach oben bezeichnen: nach unten, durch entsprechende Stärkung lokaler Autonomie und Selbstregierung, nach oben durch Aufbau supranationaler Zusammenhänge und Ordnungsstrukturen. Dezentrale Macht muß auch bedeuten, daß ethnisch oder sprachlich besonders definierte Gemeinschaften und Minderheiten einen besonderen Anspruch auf adäquate politische Strukturen haben, um gleichzeitig ihr nötiges Eigenleben pflegen zu können und den Austausch und das gleichberechtigte Zusammenleben der Menschen und der Kulturen zu fördern. Die Anerkennung von besonderen Autonomieformen und institutionell verankerter Mehrsprachigkeit in den betreffenden Siedlungsgebieten und im Staat sind ein wichtiges Element in diese Richtung.

Die europäische Gemeinschaft, die EG, ist dabei sicher heute in Europa und weit darüber hinaus jener Ansatz, auf den man von vielen Seiten am hoffnungsvollsten blickt.

Die EG ist kein Traum und schon gar kein Idealbeispiel für Demokratie, Autonomien, und Föderalismus, und doch ist es unbestritten jenes "real existierende Europa", auf das man sich heute allerseits bezieht - um es zu loben, zu kritisieren, nachzuahmen oder zu bekämpfen.

Chancen und Hindernisse durch die EG

Stellen wir uns also diesbezüglich abschließend drei wichtige Fragen, von deren praktischer Beantwortung für Europas Zukunft viel abhängen kann.

1. was enthält die bisherige Erfahrung der EG an positiven Ansätzen in Richtung supra-nationaler, föderalistischer Ordnungen?

2. was weist hingegen diesbezüglich in die falsche Richtung?

3. was müßte sich in der EG und um die EG herum ändern, um einen glaubhaften und auch für den Osten "attraktiven" Europa-Föderalismus zu entwickeln, der sich als Alternative zum Rückfall in die Nationalstaatlichkeit bewähren könnte?

Positive Erfahrungen

Zu den positiven und richtungweisenden Elementen der EG-Erfahrung könnte man beispielsweise folgende zählen:

- ein Integrationsprozeß wurde in Gang gesetzt, der historische "Erbfeinde" zusammenbringt, Grenzen abbaut, gemeinsame Politik und gemeinsame Organe (beispielsweise das Europäische Parlament und die Exekutivkommission der EG) zustandebringt;

- ein gemeinsames Bundesrecht wurde - zumindest in Teilen und Bereichen - entwickelt, ein gemeinsamer Vorrat von Rechten, Verpflichtungen, Chancen auch für die Bürger festgelegt;

- der Integrationsprozeß verläuft bisher weitgehend unter Erhaltung wichtiger Elemente der Vielfalt (z.B. der Sprachen und Kulturen, zumindest auf der "nationalen" Ebene; auf der infra-"nationalen" allerdings viel weniger).


Gefahren und negative Aspekte

Ohne sich hier auf eine allgemeine und allseitige EG-Kritik einzulassen, muß doch in Hinblick auf unser Thema hervorgehoben werden, daß es sich um ein vorwiegend bis ausschließlich auf Ökonomie und Finanz zentriertes, stark technokratisches Gebilde handelt, das sich u.a. durch einige fundamentale Defizite negativ auszeichnet:

- Demokratiedefizit: einer starken "Summe der nationalen Exekutivorgane" (EG-Ministerrat) und einer Gemeinschaftsexekutive (EG-Kommission), die nicht einmal vom Parlament gewählt ist, steht ein schwaches Parlament gegenüber, andere demokratische Instrumente für Beteiligung und Mitsprache gibt es praktisch nicht;

- Föderalismusdefizit: die Nationalstaaten machen die EG-Politik über den Rat; Regionalismus kommt kaum vor, die EG "zwingt" ihre Mitgliedsstaaten zu keinem Mindeststandard an Regionalismus, Autonomien, Minderheitenschutz, Dezentralisierung der Macht;

- Europa-Defizit: selbst wenn sich nun EG (die 12 Staaten) und die 7 EFTA-Staaten zum "Europäischen Wirtschaftsraum" (EWR) zusammentun und die EFTA bald in der EG aufgehen sollte, steht immer noch das reiche Europa dem restlichen Teil des "alten Erdteils" getrennt gegenüber; Mittel- und Osteuropa kommen nicht vor und werden in immer neue Wartezimmer verwiesen, um den Fortgang der ökonomischen, politischen und militärischen Integration Westeuropas und dessen Bündnisse und Interessen nicht zu stören.

Was müßte anders werden?

Die Überwindung der genannten Defizite und die Bemühungen, die Europäische Gemeinschaft demokratie-, föderalismus- und "europa"fähiger zu machen, werden also vor allem in folgende Richtungen gehen müssen, die einen möglichen Umbau der EG charakterisieren könnten:

- Politik vor Wirtschaft und Währung, d.h. starker Ausbau der politischen Dimension der europäischen Integration, auch unabhängig vom Fortgang und von der Ausdehnung einer (derzeit westeuropäischen) Wirtschafts- und Währungsunion; hierbei könnten andere europäische Prozesse außerhalb der EG, wie beispielsweise die KSZE oder der Europarat, eine positive Rolle spielen;

- entschiedener Einbau demokratischer (nicht bloß, aber auch parlamentarischer) Elemente in den europäischen Einigungsprozeß, der bisher vor allem auf der wirtschaftlichen und intergouvernementalen Ebene vor sich ging;

- volle Öffnung gegenüber allen europäischen Ländern, die den Beitritt zur Gemeinschaft wünschen ("mehr Osten" also), was natürlich auch die partielle Umgestaltung der bisherigen Formen der Gemeinschaft zu einem "gemeinsamen europäischen Haus" erfordert; Möglichkeit eines politischen Beitritts zur Europäischen Gemeinschaft auch ohne Beitritt zum gemeinsamen Markt;

- Regionalismus, Autonomien und Minderheitenschutz als Wesenselemente der inneren Architektur einer solchen europäischen Gemeinschaft: die bisherigen Konzessionen an die "Subsidiarität" sind absolut ungenügend, in einem derartigen Kontext müßten beispielsweise auch "Europaregionen" jenseits der bisherigen Staatsgrenzen möglich sein, eine verbindliche "Charta der Rechte der Volksgruppen und Minderheiten" und ein verbindlicher Mindestbestand an Dezentralisierung der Staatsmacht bzw. an Autonomie und Regionalismus müßte zum konstitutiven Element und geradezu zur Bedingung für die Teilnahme an der europäischen Gemeinschaft werden.

Demokratischer, autonomistischer, gesamteuropäischer Föderalismus ist als ein mögliches und glaubhaftes Instrumentarium für eine Politik und Kultur des Zusammenlebens und der demokratischen "Selbstbestimmung" denkbar - als genügend "attraktive" Alternative zur nationalistischen Desintegration. Die Rückkehr zum Nationalstaat nicht, ebensowenig wie die einseitige West-Integration Europas mit einer daraus folgenden "Südamerikanisierung" Mittel- und Osteuropas.

Allzuviel Zeit wird man sich nicht lassen können: die erforderlichen Antworten müssen schnell und überzeugend gegeben werden, wenn der Weg in eine historische europäische Katastrophe eine Alternative haben soll. Darin, nicht im großen Binnenmarkt, liegt die Chance und die Bewährungsprobe der Europäischen Gemeinschaft.


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