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Ethnisches Wiedererwachen in Europa

1.12.1991
Ein Dämon, den man gezähmt zu haben wähnte, erhebt überall sein Haupt. In Jugoslawien hat der ethnische Haß zwischen Völkern (insbesondere zwischen Serben und Kroaten, aber auch zwischen Serben und Kosovo-Albanern) längst die Schmerz- und Kriegsgrenze überschritten. Ethnisch-religiöse Konflikte werden im Kaukasus blutig ausgetragen. Forderungen nach nationaler Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und Separatismus mehren sich, auch in Westeuropa. Da kann's auch die eine und andere Bombe im Baskenland oder in Korsika geben. In Nordirland ist man von einer friedlichen und demokratischen Lösung des Konflikts noch meilenweit entfernt, und es gibt immer wieder Tote (auf der einen und auf der anderen Seite). Zwischen Rumänien und Ungarn, Ungarn und Jugoslawien, Bulgarien und Jugoslawien, Albanien und Jugoslawien, Griechenland und Türkei... und weiß Gott wo noch überall schwelen Konflikte und Grenzstreitigkeiten.

Die Unterzeichnung des Vertrags zwischen Polen und Deutschland hat nied wirklich überwundene Fragen neu aufgerollt (Schlesien, Pommern, usw.) und sogar die versöhnlichen und um Vergebung für begangenes Unrecht bittenden Worte des tschechoslowakischen Staatspräsidenten Vaclav Havel (à propos Sudeten, 1990) haben unter seinen Landsleuten Beunruhigung und Mißmut hervorgerufen. Und da muß man sich dann auch gleich der zunehmenden Unvereinbarkeit erinnern, die nun zwischen Slowaken und Tschechen bestehen soll, aber auch der immer sehr mißtrauisch-wachen Spannung zwischen Flamen und Wallonen in Belgien, zwischen den beiden größeren Volksgruppen in Südtirol (deutsch und italienisch), und der geradezu alarmierenden und schon zahllos gewordenen Zeichen, die auf einen neuen Rassismus gegen Einwanderer und "Farbige" hinweisen.

Da ist niemand von vorneherein dagegen gefeit, sogar das angeblich "un-rassistische" Italien hat sich gegen marokkanische Arbeitsimmigranten und albanische Hungerflüchtlinge mobilisiert, und selbst hoch"zivilisierte" Völker und Länder lassen sich von Fremdenhaß und Intoleranz anstecken. Schaut man erst über den Rand Europas hinaus (wo man gleich auf den ungelösten Zypernkonflikt und auf den Krieg zwischen Juden und Palästinensern um das "gelobte Land" stößt), wird es nur schlimmer. Selbst im Mittelmeerraum sind die ethnischen Konflikte und ungelösten Minderheitenfragen zahlreich: von den Berbern bis zum bloß vorläufig eingefrorenen Konfessionskrieg im Libanon.

Was soll diese summarische und unvollständige Aufzählung von ethnischen, nationalen, religiösen oder "rassischen" Konfliktherden bezwecken?

Vor allem soll damit gesagt sein, daß heute angesichts des Triumphzugs der industriell-konsumistischen Gleichschaltung, nach dem Sturz etlicher höchst einflußreicher Unterdrückerregime und mit Blick auf den Untergang früher doch recht solide scheinender Weltverbesserungsideen in häufig gewaltsamer Weise schreckliche Ausbrüche kollektiver Selbstbehauptung und -Verwirklichung stattfinden, die oft genug in den Gewändern ethnischer, konfessioneller oder gar rassischer Identität und Forderung auftreten. Nicht immer ist damit eine tatsächlich fruchtbare Behauptung und Entfaltung von Eigenart und Selbstfindung verbunden und nicht immer handelt es sich um tatsächliche Befreiungsprozesse. Vielmehr machen sich da auch gefährliche Kraftproben breit und Forderungen nach ethnischer oder religiöser Ausschließlichkeit ("Reinheit"), sowie kollektive Egoismen und Arten von Selbstbehauptung, die sich - wenn überhaupt - nur unter größten Schwierigkeiten in einen gemeinsamen Rahmen von Zusammenleben, Befriedung und Kooperation einbringen lassen. Der Wert der ethnischen oder nationalen Eigenart wird ja nun wahrlich nicht dadurch größer, daß man die Welt von den störenden "anderen" säubert und ethnische Kompaktheit befördert. (Das haben wir übrigens in Südtirol nach langen und geduldigen Lehrjahren mittlerweilen recht gut verstanden.)

Mehr als je zuvor, seit dem zweiten Weltkrieg, ist in der gegenwärtigen geschichtlichen Phase eine ganz starke Hinwendung zu Zielen des pluri-ethnischen und pluri-kulturellen Zusammenlebens erfordert. Dazu gehören nicht nur entsprechende Geisteshaltungen und Kulturen - die das Sich-Einlassen auf interkulturelle Komplikation und Bereicherung beinhalten - sondern auch Rechtsordnungen und politische Systeme, die dies fördern und organisieren können. Autonomismus, Regionalismus und Föderalismus mit wirksamen interkulturellen Ansätzen sind gefragt.

Denn wenn sich heute - zu Recht! - viele Völker nicht mehr in den Grenzen und Staaten wohlfühlen, die ihnen auferlegt wurden, und deshalb immer stärker die bisherigen Grundpfeiler des Staats- und Völkerrechts ins Wanken geraten (die Endgültigkeit und Unverletzlichkeit der Grenzen; die nationalstaatliche Souveränität, bis hin zu ihrer Durchsetzung durch Waffengewalt; die Nichteinmischung in die sog. inneren Angelegenheiten der Staaten; das Recht der Völker auf Selbstbestimmung und auf die Bildung eines eigenen Nationalstaats..), kännte die Antwort darauf theoretisch verschiedene Lösungen anbieten: entweder verlagert (korrigiert) man die Grenzen, oder man bemüht sich, sie zu verdünnen und allmählich aufzuheben.

Gerade unsere natürlich sehr beschränkte Erfahrung in Südtirol zeigt uns, wie illusorisch und konfliktträchtig der erste dieser beiden theoretisch denkbaren Lösungsansätze ist: die Grenzen nachbessern und verschieben, und den Teufel der bisher bestehenden Nationalstaaten durch den Belzebub der Bildung neuer (und womöglich noch stärker "ethnisch" charakterisierter) Nationalstaaten austreiben, wobei immer mehr Staaten, Grenzen, Armeen und Souveränitäten aufkommen, erscheint nicht als friedliche Lösung, sondern eher als Voraussetzung für neue Kämpfe und Ruinen - und neue Unzufriedenheit.

Vielmehr muß gesagt werden, daß die heute bestehenden Nationalstaaten in den meisten Fällen gleichzeitig zu klein (und schlecht zugeschnitten) und zu groß (und schlecht zugeschnitten) sind, um wirksam das gute Zusammenleben der Völker miteinander und in ihrem Inneren zu sichern. Große gemeinsame Anliegen der Menschheit, die sich auf keinen Fall auf "nationaler" Ebene lösen lassen (von der Durchsetzung der Menschenrechte zur Friedenssicherung zur Umweltsanierung), können nicht mit den traditionellen Werkzeugen der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten oder mit einer egoistischen Souveränitätspolitik gelöst werden. Andere große und gemeinsame Anliegen - wie beispielsweise Selbstregierung und Demokratie - lassen sich ihrerseits in zu großen und ehr zentralistischen Staatsordnungen nicht verwirklichen.

Also wird man daran arbeiten müssen, die derzeitige Dimension der meisten sogenannten Nationalstaaten (die vielfach gar keine echten Nationalstaaten sind sondern sich bloß als solche ausgeben) gleichzeitig nach zwei Richtungen zu überwinden: nach unten (durch Einführung substantieller und starker Dezentralisierung und Autonomie) und nach oben, durch Anwendung supra-"nationaler" föderalistischer Ordnungen, was derzeit in Europa ja nur sehr mühsam vorankommt.

Die Anziehungskraft des europäischen (EG-)Integrationsprozesses, in dem viele Völker eine Art neuer Gründerzeit und -myhtos' sehen (was besonders für kleinere und lange Zeit unterdrückte Völker gilt), ist heute sehr beachtlich, teilweise gewiß unverdient stark. Ein Europa, das so stark auf Markt und Wirtschaft konzentriert ist, wie die derzeitige Zwölfergemeinschaft, und das den mittleren und östlichen Teil unseres Kontinents auf unbestimmte Zeit in ein Wartezimmer verbannt, kann diesen großen und tiefen Europabedarf wohl nicht decken. Doch gibt es keinen anderen, vergleichbar attraktiven supra-nationalen Integrations- und Pazifikationsprozeß, was man übrigens auch deutlich an der außereuropäischen Ausstrahlungskraft der Europäischen Gemeinschaft spürt.

Also wird man sich wohl, ob's einem paßt oder nicht, mutig viele der noch unausgereiften und höchstens ansatzweise entwickelten Verheißungen des europäischen Integrationsprozesses vornehmen müssen und dessen Etappen, Rhythmus, Breitenwirkung und Instrumentarien auch daraufhin überprüfen und korrigieren müssen, was heute durch den Prozeß des ethnischen Erwachens in Europa gefordert wird und dringend nötig erscheint. Andernfalls wird es einen schlimmen und vielleicht völlig unbeherrschbaren Rückfall in ethnische Unversöhnlichkeiten in Europa geben, die kurzfristig schon irreversible Schäden anrichten könnten. Das "gemeinsame Haus Europa" wird mehr denn je die Aufgabe haben müssen, Wege für das pluri-ethnische, inter-kulturelle Zusammenleben zwischen Völkern und Staaten und in ihrem Inneren zu erschließen.

Juni/Dezember 1991
pro dialog