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Die albanischen Flüchtlinge: verführt und sitzengelassen

1.6.1991, Aus "FF Südtiroler Illustrierte", Juni 1991
Wenn man sie so in ihrem gehäuften Elend auf dem Fernsehschirm sieht, möchte man gar nicht glauben, daß wir Südtiroler mit ihnen gemeinsame Vorfahren haben: die Illyrer. Deren albanische Nachkommen nun massenhaft Italien als das gelobte Land betrachten und glauben, sich durch fluchtartige Auswanderung auf kaum seetüchtigen Schiffen ans rettende Westufer der Adria den Zugang zu einem neuen Leben zu eröffnen.

Dabei sind sie doppelt betrogen: verführt und sitzengelassen. Einmal von den Resten ihres alt-stalinistischen Regimes, das ihnen jahrzehntelang Nationalstolz und Selbstgenügsamkeit eingeimpft hatte und jetzt den Mißernten die Schuld dafür gibt, daß nun ein ganzes Volk plötzlich bettelt. Und zweitens vom Westen, der für sie Menschenrechte und Reisefreiheit gefordert hatte und nun entsetzt ist, daß die Albaner nicht unbedingt an Urlaubsreisen dachten, als sie von ihrer Regierung Pässe forderten. Und überhaupt: der Westen, der jedem seinen Marschallstab im Tornister der freien Marktwirtschaft verheißt und den Albanern bisher in Gestalt des italienischen Fernsehens (RAI 1) erschienen war, muß aus der Nähe besehen geradezu abstoßend gewirkt haben. Brindisi - wenn nicht die gewöhnlichen Leute aus dem Volk Barmherzigkeit und Solidarität gezeigt und den elenden Auswanderern die Benützung ihres Aborts gestattet und den ersten Hunger gestillt hätten, müßte der erträumte Westen den Flüchtigen eher wie eine Neuauflage der albanischen Kälte und behördlichen Unerbittlichkeit und Ineffizienz vorgekommen sein. Ihren Vorfahren, die in der Türkenzeit im 15.Jahrhundert über die Adria geflohen waren, um der mohammedanischen Eroberung zu entgehen, waren um vieles freundlicher behandelt worden und haben sich bis heute als "arbresh" in mehreren Regionen Süditaliens erhalten (Piana degli Albanesi, in Sizilien, ist Sitz ihres Bischofs und nimmt auch im Namen Bezug auf sie).

Warum flüchten so viele Albaner aus ihrem Land? Im Dezember und Jänner gingen an die 10.000 nach Griechenland, die wenigen Juden bemühten sich um Ausreise nach Israel, jetzt setzten sich rund 20.000 nach Italien und 25.000 nach Jugoslawien ab, und zudem gibt es das kleine, aber beständig rieselnde Rinnsal, vor allem nach Triest. Und warum öffnet die Regierung der Massenflucht praktisch Tür und Tor?

Vor allem die jungen Leute fühlen sich um ihre Kindheit und Jugend betrogen, und möchten nun nicht jahrzehntelang warten, bis ihr Land ihnen annehmbare Lebensbedingungen bieten kann. "Wir sind aufgewachsen, ohne zu sehen, zu hören, zu sprechen - jetzt, wo sich die Verhältnisse ein bißchen liberalisieren, müssen wir vor allem hinaus", sagen viele. Und manche trauen der Demokratisierung nicht so ganz über den Weg, wer weiß, ob nicht schlußendlich doch der harte Flügel in Partei, Polizei und Militär mit Gewalt das Land wieder abriegeln und eingraben wird. Das ist - politisch gesehen - im heutigen Europa zwar äußerst unwahrscheinlich, aber für die Leute dort noch mitnichten gesichert.

"Ich möchte Ihnen etwas von mir schreiben: ich weiß, daß ich hier weg muß. Ich halte es nicht mehr aus. Hier überlebt man gerade nur. Meine Brüder sehen, die nichts zum Essen haben, Polizisten sehen, die Leute bedrohen, mein Gesicht sehen, das älter und älter wird, die hungernde Jugend sehen, die Politik macht, um die Dinge vielleicht doch noch zu ändern - vielleicht auch wieder Blut auf den Straßen sehen.. ich schaffe es nicht mehr, und schäme mich, Sie um etwas zu bitten: könnten Sie mir nicht doch helfen, aus dieser Hölle herauszukommen? Ich möchte mit meinem Verlobten auswandern, wir werden uns schon durchschlagen, aber helfen Sie uns heraus. Besser, Sie helfen mir jetzt, als später von meinem Begräbnis zu erfahren...!" So schreibt mir eine albanische Studentin, die noch vor zwei Monaten in der Delegation war, die mit dem Staatspräsidenten verhandelt hat. Und andere ähnliche Briefe aus Tirana, Vlore, Durrhes und Skutari erreichen mich wöchentlich.

Denn die Albaner dürfen jetzt, wenn sie wollen (und nicht gerade Militärdienst machen oder eine Strafe abbüßen müssen), ohne besondere Schwierigkeiten ausreisen, und bekommen dazu einen Paß. Doch wenn sie Albanien herausläßt, aber kein anderes Land ihnen die Türen öffnet, sondern ein strenges Visum verlangt, ist ihnen damit noch nicht geholfen. In Italien beispielsweise (ähnlich ist es für Österreich, Deutschland, Schweiz, Belgien, Frankreich...) muß ein (italienischer) Staatsbürger bei der Polizei seines Wohnorts vorher eine schriftliche Garantie-Erklärung abgeben, daß er eine oder mehrere Personen aus Albanien einlädt, für sie aufkommt und sich auch für deren Rückkehr verbürgt, sobald das Besuchsvisumn abgelaufen ist. Nur wer Arbeit und Wohnung findet oder nachweisen kann, daß politische Verfolgung und Entzug von Menschenrechten vorliegt, kann entweder eine Aufenthaltsgenehmigung oder politisches Asyl beantragen - eine Lösung für Hunderte, nicht für Tausende und noch viel weniger für Zehntausende. So war das mit der Reisefreiheit gemeint - der derzeitige albanische Außenminister Kapllani, mit dem ich letzten Dezember sprach, sagte das schon damals sehr deutlich.

"Sie verlangen von uns als Nagelprobe der Demokratie, daß wir den Leuten Pässe geben und Ausreisefreiheit gewähren. Aber erinnern Sie sich an die Antwort, die seinerzeit die Chinesen den Amerikanern auf diese Frage gaben. Sie sagten: 'wieviele Pässe sollen wir ausstellen? 50.000? 500.000? 5 Millionen? Oder 50 oder 500 Millionen? Für uns ist das kein großes Problem, aber wohin glauben Sie, daß diese Chinesen dann reisen wollen?' Natürlich sind die Albaner viel weniger zahlreich als die Chinesen..."

Nun hat man uns beim Wort genommen. Und der Westen steht nicht gerade gut da. Italien läßt die Ankömmlinge im Dreck verkommen, die nördlichen Nachbarn (Schweiz, Österreich, Deutschland...) sehen keinen Anlaß, ein- und selbst durchreisende Albaner ohne Visum über die Grenze zu lassen, und die weiter weg gelegenen Länder hoffen, daß die Druckwelle schon nicht bis zu ihnen reichen wird. Ehrenrettung und humane Antwort scheint nur von der "Caritas" und anderen Hilfsorganisationen von Freiwilligen zu kommen. Von der EG erwartet man sich zumindest Geld und organisatorische Hilfe für Italien und Griechenland, damit diese Auffangländer (ähnlich wie Jugoslawien, das insbesondere die in Albanien lebenden Montenegriner aufnimmt) mit dem Problem fertigwerden. Das Europäische Parlament soll in dieser Woche darüber beschließen - es besteht ziemlicher Konsens darüber.

Die albanische Regierung ist, trotz ihrer nun vor aller Welt offenbar gewordenen Bankrott-Situation, gar nicht so unglücklich über die Massenauswanderung. Einerseits wird damit auch dem Westen ein gut sichtbarer Schwarzer Peter zuteil, andererseits wird man in Albanien mögliche Unruhestifter und sichere oppositionelle Wähler (am Ostersonntag finden die ersten freien und relativ pluralistischen Wahlen statt) los. Und zugleich mehrt sich der Druck auf die EG und den Westen, Albanien so schnell als möglich zu helfen (Lebensmittel, Arzneien, Kleider...) und nicht erst übermorgen, womöglich mit einer neuen Regierung, darüber zu verhandeln. Nun fordert Italien und die EG von Albanien, die Massenflut zu stoppen - wenn also in den letzten Tagen die albanische Polizei geschossen hat, dann vor allem in unserem Namen und Auftrag!

Natürlich kann die Massen-Auswanderung weder für Albanien noch für sonst irgendein armes Land die Lösung darstellen. Genausowenig, wie das Problem der Demokratie und der Menschenrechte auf Dauer durch Asylgewährung zu lösen ist. Und trotzdem - wie können wir uns das Recht herausnehmen, zwischen "politischen" Flüchtlingen (denen eigentlich Asyl zustünde) und "Wirtschafts"flüchtlingen (die einfach Hunger haben) zu unterscheiden? Die Albaner wissen, daß sie nach den ersten Wahlen kaum mehr beanspruchen können, noch als politisch Verfolgte zu gelten - auch das treibt sie zum jetzigen schnellen und unüberlegten Handeln. Wie die meisten anderen Osteuropäer stehen sie vor einer völlig neuen Lage: nicht mehr ein abgeschotteter Gesellschafts- und Wirtschaftsraum, in dem man auch die eigenen Erwartungen und Wünsche nach einer knappen Decke strecken mußte, aber eben einer "anderen Welt" angehörte und deshalb von vorneherein den Vergleich mit dem üppigen Westen gar nicht erst antrat. Seit aber die Mauern gefallen sind und man in ganz Europa gewissermaßen schrankenlos in den Weltmarkt hineinwächst, weiß man sich nicht mehr zu retten. Am liebsten sähen es alle, es ginge wie in Deutschland: ein Ost-Deutschland vereinigt sich mit einem West-Deutschland, und die Lasten werden umverteilt - auch weil ja schließlich der Reichtum der einen etwas mit der Armut der anderen zu tun hat. Aber wo gibt es ein West-Bulgarien, ein West-Rumänien, ein West-Jugoslawien? Die Albaner beschlossen, Italien einfach zum West-Albanien zu machen. Nicht so ganz unberechtigt, wenn man bedenkt, daß das faschistische Italien dort in den Vierzigerjahren Kolonialherr war.

Viele negative Erbschaften müssen also heute von den Albanern und von ihren unfreiwilligen Gastgebern ausgebadet werden und einfache Lösungen gibt es keine. Trotzdem kann man einiges auch konkret tun. Insbesondere wenn man bedenkt, daß die meisten Albaner ja nicht für immer im Ausland bleiben möchten, sondern vielmehr - wie sich das übrigens viele andere italienische, spanische, türkische, griechische, arabische und andere Auswanderer vorstellen - hoffen, in einigen Jahren Lehr- und Wanderschaft soviel zu lernen und soviel zu ersparen, daß sie damit in ihrer Heimat zu einem neuen Anfang beitragen können.

Dabei sollte man ihnen helfen - nicht nur aus Solidarität, sondern auch im Interesse einer gemeinsamen europäischen Zukunft. Vieles kann durch Kooperation mit dem zukünftigen und hoffentlich demokratischen Albanien verbessert werden, obwohl auch da nicht nur rosige Aussichten bestehen: große Hotelketten bemühen sich jetzt schon um Aufkauf der albanischen Adria-Küste, und westliche Unternehmer wissen, daß Albanien derzeit engros und billig zu haben ist.

Studienstipendien, Kulturaustausch, Zusammenarbeit in Albanien selbst beim Aufbau von anderen Wirtschaftsstrukturen und andere Hilfen für die Übergangszeit sind notwendig. Vor allem in Italien, aber auch in Deutschland, Frankreich und Österreich sieht man ideale Partner. Italien ist derzeit dabei, Albanien in sein besonderes Mitteleuropa-Adria-Projekt einzubauen, das da "pentagonale" genannt wurde und nun wohl auf 6 Partner aufgestockt werden muß: zu Ungarn, Österreich, Tschechoslowakei und Jugoslawien wird sich nun Albanien als Partner und Objekt italienischer Ostpolitik gesellen.

Aber vor allem muß man den verzweifelten Menschen die nötige Soforthilfe garantieren. Und da der Staat - wie der stellvertretende Ministerpräsident Martelli zugeben mußte - in Italien notorisch asthmatisch ist und mit seiner Katastrophenhilfe unter jedem Standard liegt, wäre es mehr denn je angebracht, daß alle jene, die anders und besser als der Staat sind oder sein möchten, jetzt mit der Hilfe nicht zögern - auch Südtirol, auch unsere Hilfsverbände, auch unsere Landesregierung (das Trentino war da wieder einmal voraus), auch unsere Freiwilligenorganisationen. Auch ohne die gemeinsamen illyrischen Vorfahren zu bemühen, würden es die Albaner sehr zu schätzen und zu danken wissen.
pro dialog